Zwischen 1951 und 1955 hielt sich Greene mehrmals für längere Zeit in Indochina, dem heutigen Vietnam, auf. Im Lande herrschte Krieg, und der Schriftsteller verschweigt in seinen Reisenotizen „Ways of Escape“ nicht, dass ihn die Mischung von Lebensfreude und Gefahr besonders anzog. Brisant war die Lage in der Tat.
Überwölbt von der Konstellation des Kalten Krieges
Nach dem Zweiten Weltkrieg hatten sich die japanischen Besatzer aus Indochina zurückgezogen. Die Franzosen nahmen den Süden ihrer ehemaligen Kolonie wieder in Besitz; im Norden aber rief der Führer der nationalen Befreiungsbewegung Vietminh, der Kommunist Ho-Chi-Minh, die unabhängige „Demokratische Republik Vietnam“ aus. Es kam zu einem auf- und abflammenden Krieg ohne klare Fronten und ohne sich abzeichnende Entscheidung.
Die Vietminh kontrollierten weite Teile des schwer zugänglichen Hinterlandes und wurden aus China mit Waffen versorgt; die Franzosen hielten sich in Saigon und in Stützpunkten entlang der Küste und im Norden. Die Einsetzung des korrupten Marionettenregenten Bao Dai und die Aufstellung einheimischer Truppen brachte den Franzosen nur zeitweilige Erfolge. Das Mutterland interessierte sich wenig für den fernen Kriegsschauplatz.
Was damals in Indochina geschah, war gleichsam überwölbt von der Konstellation des Kalten Krieges, ähnlich wie beim gleichzeitig ausgefochtenen Koreakrieg. Die amerikanische Aussenpolitik fühlte sich dem strategischen Konzept des „Containment“ verpflichtet. Diese Doktrin der „Eindämmung“ besagte, dass die westliche freie Welt, angeführt von den USA, dem Weltkommunismus überall entgegenzutreten hatte. Beliebt war die Metapher, dass jeder territoriale kommunistische Erfolg so zwingend einen nächsten nach sich ziehen würde wie eine stürzende Reihe von Domino-Steinen. „Wenn Indochina fallen sollte“, sagte Präsident Eisenhower, „werden Thailand und Burma grösster Gefahr ausgesetzt sein und auch Malaya, Singapore und selbst Indonesien werden für das kommunistische Machtstreben anfällig...“
In dieser Sicht war es nur konsequent, wenn sich die USA nach 1950 entschlossen, den Franzosen in Vietnam beizustehen, zuerst mit Wirtschafts- und humanitärer Hilfe, dann mit Waffenlieferungen. Das geschah nicht, um die Kolonialherrschaft wiederherzustellen, sondern um aus der ehemaligen Kolonie ein unabhängiges demokratisches Land, ein Bollwerk gegen den chinesischen Kommunismus zu machen. Woraus sich freilich heikle Unstimmigkeiten zwischen beiden Alliierten ergaben.
Aus heutiger Sicht ist unmittelbar einleuchtend, dass dieser Krieg, ausgefochten am andern Ende des Globus durch ein Land, das sich eben von den Folgen des Zweiten Weltkriegs zu erholen begann, nicht gewonnen werden konnte. Auch damals hätte man dies klar erkennen und den Frieden mit dem verhandlungsbereiten Ho-Chi-Minh suchen müssen. Doch das Prestige-Bewusstsein der Militärs liess dies nicht zu. Im Mai 1954 erfocht der vietnamesische Generals Giap einen vollständigen Sieg über die Franzosen, die sich auf der Hochebene von Dien Bien Phu in seine Falle hatten locken lassen.
Die Erfahrungen des Autors
Graham Greene hat, wie sich in seinen Reportagen nachlesen lässt, die Aussichtslosigkeit des sogenannten ersten Vietnamkrieges frühzeitig erkannt. Er bereiste das Land als Journalist, dem der Ruhm des weltbekannten Romanciers vorauseilte. Er sprach mit General Lattre de Tassigny und mit Ho-Chi-Minh, unterhielt sich mit dem Chef einer mysteriösen Privatarmee und mit dem Verteidiger von Dien Bien Phu. Greene ergreift nicht Partei, verhehlt aber in seinem Bericht nicht seine Sympathien für den kolonialen Lebensstil der Franzosen. Gleichzeitig bringt er dem nationalen Unabhängigkeitskampf der Kommunisten Verständnis entgegen. Kein Zweifel: der Schriftsteller liebte das Land und seine Bevölkerung – und er liebte die hübschen Mädchen von Saigon, von denen er sich in den „fumeries“ seine Opiumpfeifen stopfen liess.
Aus solchen vietnamesischen Erfahrungen entstand Graham Greenes Roman „Der stille Amerikaner“. Zwei Hauptgestalten, Antagonisten zugleich und Freunde, beherrschen die Szene: der britische Journalist Thomas Fowler und der Beamte einer „American Aid Mission“, Alden Pyle. Fowler, in dem man Züge des Autors erkennt, ist um die fünfzig Jahre alt, abgebrüht und bis zum Zynismus resigniert, aber nicht ohne menschliches Empfinden. Er hasst den Krieg, und der Anblick ziviler Kriegsopfer weckt in ihm Mitleid; auch seine vietnamesische Geliebte Phuong ist für ihn nicht nur Lustobjekt.
Der idealistische Amerikaner
Wenn man Fowler als einen durch die harte Schule der Erfahrung gegangenen Skeptiker bezeichnen kann, erscheint Alden Pyle als ein Idealist, der an das Gute im Menschen glaubt und sein Leben dafür einsetzt, dem Guten, nämlich einer Demokratie westlicher Prägung, zum Durchbruch zu verhelfen. Pyle, zwanzig Jahre jünger als Fowler, hat in Harvard studiert und sich auf seinen Aufenthalt in Vietnam durch Lektüre sorgfältig vorbereitet.
Sein Vorbild ist der amerikanische Politologe York Harding, ein fiktiver Autor, der Bücher über den „Vormarsch Rotchinas“ und „Die Rolle des Westens“ geschrieben hat. Darin vertritt Harding die Doktrin der „Eindämmung“ und tritt für die Unterstützung einer „Dritten Kraft“ ein, welche in Vietnam sowohl dem Kolonialismus als auch dem Kommunismus entgegentreten und eine unabhängige Demokratie errichten soll. Diese Idee der „Dritten Kraft“ hat sich Pyle gläubig zu eigen gemacht. Kompliziert wird die ohnehin schwierige Beziehung zwischen Fowler und Pyle dadurch, dass der Amerikaner sich in Phuong verliebt und ihr die Ehe und ein glückliches Familienleben verspricht.
"Unschuld ist eine Form des Wahnsinns"
Beim Roman von Graham Greene handelt es sich um eine Rahmenerzählung. Das Buch beginnt damit, dass Fowler vom französischen Polizeichef Vigot erfährt, dass man die Leiche von Alden Pyle unter einer Brücke gefunden hat. In den folgenden Kapiteln schildert Fowler in Rückblende die Geschichte seiner Bekanntschaft mit dem Amerikaner. Pyle ist Fowler nicht unsympathisch, aber sein naiver Optimismus ist ihm vollkommen fremd. „Er wird immer harmlos sein“, schreibt der Engländer, „man kann die Harmlosen nicht tadeln, denn sie sind stets unschuldig. Man kann sie nur zügeln oder ausmerzen. Unschuld ist eine Form des Wahnsinns.“ Doch ganz so harmlos ist Pyle nicht. Bei einem Besuch im Machtbereich des Generals Thé, eines religiösen Sektierers und zwielichtigen Chefs einer Privatarmee, erfährt Fowler, dass der Amerikaner mit diesem in geheimem Kontakt steht: Thé soll zum Repräsentanten einer „dritten Kraft“, zum wahren Demokraten und zum Freund der USA aufgebaut werden.
Fowler begegnet Pyle, und sie müssen auf der Rückfahrt die Nacht in einem Wachturm verbringen. Der Engländer versucht dem Amerikaner seine Illusionen auszureden: „Sie, Pyle, und Ihre Gesinnungsgenossen“, sagt er, „versuchen einen Krieg zu führen, mit Hilfe von Menschen, die daran einfach nicht interessiert sind.“
Pyle erwidert: „Sie wollen keinen Kommunismus“, und Fowler entgegnet: „Sie wollen genug Reis... Sie wollen nicht, dass wir Weissen hier sind und ihnen sagen, was sie wollen.“ Bei einem Feuerüberfall des Vietminh rettet Pyle seinem Begleiter das Leben ohne dafür Dank zu ernten: „Wer zum Teufel hat Sie dazu aufgefordert, mir das Leben zu retten?“
Vergebliche Warnung an Pyle
Nach Saigon zurückgekehrt, erfährt Fowler durch einen kommunistischen Kontaktmann, dass Pyle im Auftrag der amerikanischen Wirtschaftsmission General Thé und seinen Gefolgsleuten Material zum Bau von Sprengsätzen liefert. Er versucht Pyle zu warnen: „Ich hoffe zu Gott“, sagt er, „Sie wissen, was Sie da tun. Ihre Motive sind edel. Ich wünschte manchmal, Sie hätten ein paar schlechtere Motive, sie wären dann ein besserer Menschenkenner. Und das gilt auch für Ihr Land, Pyle.“
Einige Wochen später wird Fowler Zeuge einer Bombenexplosion, die das Zentrum Saigons erschüttert und viele zivile Opfer fordert. Die Täter entstammen dem Umkreis von General Thé, der eine Militärparade treffen wollte, die unerwartet abgesagt wurde. Es erweist sich, dass Pyle über die Hintergründe des Attentats orientiert ist. Wieder versucht Fowler, Pyles Wirklichkeitssinn zu schärfen; doch der Amerikaner bleibt unbelehrbar.
Nun wählt Fowler, der immer von sich behauptet hat, neutral zu sein, das Handeln. Er setzt sich mit einem kommunistischen Kontaktmann in Verbindung und beide beschliessen, Pyle unschädlich zu machen. Am Abend vor seinem gewaltsamen Tod trifft Fowler Pyle und findet ihn nach wie vor uneinsichtig. Auf die Opfer des Bombenattentats angesprochen, meint er: „In gewissem Sinn könnte man behaupten, dass sie für die Sache der Demokratie gestorben sind.“
In Saigon geht das Leben nach Pyles Tod seinen gewohnten Gang. Nur der französische Polizeioffizier Vigot ahnt etwas von den Hintergründen des Attentats auf Pyle, schliesst aber die Untersuchung vorzeitig ab, um keine Probleme mit den Amerikanern zu bekommen. Die Vietnamesin Phuong, die Fowler verlassen hatte, um mit Pyle zu leben, kehrt wieder zum Journalisten zurück.
Abneigung gegen die Amerikaner
Graham Greenes Buch wurde zu einem Welterfolg. Die Amerikaner, die sich, wie schon Tocqueville vermerkte, gerne loben lassen, ärgerten sich. Nicht zu Unrecht: denn sie werden vom Autor, im Gegensatz zu den Franzosen, durchwegs kritisch dargestellt. Diese Abneigung gegen die Amerikaner und ihre Aussenpolitik, auch in andern Romanen Greenes offensichtlich, verstärkte sich unter dem Einfluss der Kommunistenhetze, die der amerikanische Senator Joseph McCarthy in den fünfziger Jahren betrieb und die auch Greenes engen Freund, den Filmemacher Charles Chaplin, nicht verschonte.
Man weiss, dass die USA den aussichtslosen Kampf nach dem Abzug der Franzosen noch während zwanzig Jahren weiterführten. Im zweiten Vietnamkrieg wurde mit grösster Grausamkeit gekämpft: Er kostete gegen 60’000 Amerikanern und rund zwei Millionen Vietnamesen das Leben. Vor dem Hintergrund dieser Tragödie erschien Graham Greenes „Stiller Amerikaner“ als eine Prophetie, die sich mit grausamer Konsequenz in Wirklichkeit verwandelte.
Manchmal scheint es, als wiederhole sich die Weltgeschichte. Leser, die vor einem halben Jahrhundert Greenes Roman verschlungen haben, mögen sich heute fragen, warum die Politiker so selten aus Erfahrungen lernen. Vielleicht darum, weil sie die falschen Bücher lesen...