Bei der Protestbewegung gegen die Schwächung der israelischen Justiz ist kaum je die Rede von der militärischen Besetzung palästinensischer Gebiete durch Israel. Obwohl hier demokratische Grundsätze am längsten und stärksten verletzt werden.
Die Sieben-Monate-Bilanz ist schockierend: Seit dem Jahresbeginn wurden in dem von Israel besetzten Westjordanland und in Jerusalem 137 Palästinenser vom israelischen Militär erschossen. Im gleichen Zeitraum kamen 26 Israeli im Zusammenhang mit dem Konflikt ums Leben. In den Medien findet das alles kaum mehr Beachtung. Es ist zu alltäglich geworden.
Die sogenannte internationale Gemeinschaft hat sich damit abgefunden, dass Gewalt den Alltag in Nahost bestimmt und dass Israel in den besetzten Gebieten durch neue Siedlungen auch ständig mehr Fakten schafft, bis die Vision eines Friedens durch die Bildung eines Palästinenserstaats an der Seite Israels endgültig begraben werden muss, das heisst: Bis das Westjordanland annektiert ist.
Spielt dieses Thema in den nun schon monatelang dauernden Protesten der Israeli gegen die von Netanjahu geplante Justizreform eine Rolle? Die Frage, so wichtig sie für die rund 3,1 Millionen Palästinenser im Westjordanland und die gut zwei Millionen im Gazastreifen (und eigentlich auch für Israel selbst) ist, wird kaum jemals angeschnitten. Sie scheint auch für die Demonstrantinnen und Demonstranten in Israel, die um den Fortbestand der Demokratie und des Rechtsstaats besorgt sind, nicht wesentlich.
Israelische Justiz entscheidet selten für Palästinenser
Man kann das Thema auch aus anderer Perspektive angehen, nämlich: Hat Israels Justiz in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten Urteile gegen den Expansionsdrang der Siedler-Gemeinschaft, also zugunsten der Palästinenser, gesprochen? In Einzelfällen sorgten die Gerichte dafür, dass Enteignungen von Häusern im palästinensisch beanspruchten Ost-Jerusalem verunmöglicht und dass über Nacht aufgerichtete Aussenposten von Siedlungen im Westjordanland wenigstens für begrenzte Zeit als illegal verurteilt wurden.
Insgesamt ist die Erfolgsbilanz der israelischen Justiz in diesem Bereich aber bescheiden. Nur ist anderseits zu erwarten, dass die Rechtsradikalen in Netanjahus Koalitionsregierung, wie Itamar Ben-Gvir, sich noch hemmungsloser durchsetzen können als bisher, wenn selbst die Bremswirkung der Justiz nicht mehr vorhanden ist. Dann können sie sozusagen in der Direttissima auf ihr Ziel zugehen, nämlich die Annexion des ganzen Gebiets bis zum Jordan.
Sollte Netanjahu dann selbst auf die Idee kommen, gewissen Expansionsprojekten Zügel anzulegen, werden sie mit dem Austritt aus der Koalition drohen. Einen solchen Konflikt aber will Netanjahu mit aller ihm zur Verfügung stehenden politischen Schlauheit vermeiden – wahrscheinlich auch, weil ihm im Fall eines Verlusts der Immunität, auf die er als Regierungschef Anspruch hat, ein Gerichtsverfahren wegen Korruption droht.
Erfolgsgeschichte der Siedlerbewegung
Wer sich nicht über längere Zeit mit dem Thema befasst hat, kann kaum verstehen, wie es dazu gekommen ist, dass die Siedlerbewegung sich zur wesentlichsten Kraft in Israel entwickeln konnte. Man muss ins Jahr 1977 zurückblenden. Damals wurde Menachem Begin, Chef des rechtsnationalen Likud, Premierminister. Mit ihm begann die Profilierung der Siedlerbewegung (der er selbst allerdings nicht angehörte). Ernst nehmen wollte sie damals kaum jemand. Rabbi Mosche Levinger, Gründer der Bewegung Gusch Emunim, galt jahrelang als Exzentriker, was er auch dadurch selbst betonte, als er sich kritischen Fragen zu seinen Zielen konsequent entzog. Ich begegnete ihm einmal, das war 1979 oder 1980, per Zufall, wollte ihn interviewen – er rannte mir über ein Feld bei der später entstehenden Siedlung Mahle Adumim mit grossen Schritten davon.
Klar konnte man erkennen, dass sogar schon in den Jahren, als in Israel noch progressive Persönlichkeiten wie Yitzhak Rabin die grossen Linien der Politik bestimmten (erste Hälfte der neunziger Jahre) die Siedlerbewegung an Zustrom und Einfluss beim politischen Establishment gewann. Aber man nahm sie dennoch viele weitere Jahre lang nicht wirklich ernst.
Graduell änderte sich das erst durch die Buchpublikation von «Die Herren des Landes» im Jahr 2007. Die Autoren Akiva Eldar und Idith Zertal wiesen nach, wie systematisch die Nationalreligiösen, also die Organisation der Siedlerbewegung, an ihrem Ziel gearbeitet hatten, das ganze Gebiet «Eretz Israel» bis zum Jordan zu besetzen respektive zu annektieren.
Mit stiller Konsequenz, aber auch mit demonstrativ zur Schau getragener Gewaltbereitschaft, eroberten die Siedler sich in der Politik eine Position nach der anderen – und erhielten bei Wahlen ständig Zustrom, nicht für eine einzige Partei, sondern im Splittersystem Israels mal bei der einen, mal bei der anderen politischen Kraft, bis sie vereint zum Punkt gelangten, dem «Magier» der Macht, Benjamim Netanjahu, das Ultimatum zu stellen: Entweder gibst du uns freie Hand bei unserem Kern-Anliegen, faktisch der Annexion des Westjordanlands, oder du wirst gestürzt – und dann wohl auch der Justiz überantwortet, im Zusammenhang mit den diversen Korruptions-Anschuldigungen.
Justizreform dient den Zielen der Siedler
Darum geht es jetzt, bei der Auseinandersetzung um die Justizreform: um freie Hand für mehr und noch mehr israelische Siedlungen (das sind gut organisierte Kleinstädte), bis so viele «faits accomplis» geschaffen sind, dass das ideelle Konstrukt einer Zweistaaten-Lösung (skizziert in den so genannten Oslo-Verträgen von 1993) endgültig als Fiktion entlarvt ist.
Die sogenannte internationale Gemeinschaft schaut all dem teils ratlos, teils desinteressiert zu. Offiziell zeigen sich die europäischen Regierungen und jene der USA und Kanadas weiterhin überzeugt, dass Friede in Nahost nur durch die Bildung eines Palästinenserstaats an der Seite Israels und auf dem Gebiet des Westjordanlands, mit Ost-Jerusalem als Hauptstadt für die Palästinenser, möglich sei.
Doch das sind nur noch Worte. Alle wissen, dass diese Vision realitätsfremd geworden ist. Aber niemand kann eine Alternative präsentieren. Also lässt man die Dinge eben laufen. Die Biden-Regierung in den USA hat bereits erklärt, sie plane auf keinen Fall eine Kürzung der Finanzhilfe für Israel (es handelt sich allein schon im Bereich der militärischen Unterstützung um mehr als drei Milliarden Dollar jährlich). Sie beschränkt sich darauf, Netanjahu mit eher höflichen als schroffen Worten darauf hinzuweisen, dass sie der sogenannten Justizreform ablehnend gegenüberstehe.
Auch neue Siedlungsprojekte im Palästinensergebiet missbilligt Washington, aber auch da bleibt es bei Worten, und in Israel weiss wohl jeder und jede, dass keine weiteren Konsequenzen zu erwarten sind. Was im Klartext heisst: Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis das von mehr als drei Millionen Palästinensern bewohnte Gebiet bis zum Jordan «reif» ist für eine Annexion.
Besetzung: kein Thema der israelischen Protestbewegung
Es ist zwar beeindruckend, wie viele Israeli mit Konsequenz seit Monaten gegen die Pläne der Netanjahu-Regierung auf die Strasse gehen, wie mächtig der Widerstand gegen die angestrebte Teil-Entmachtung der Justiz ist. Aber es gibt in Israel auch progressive Persönlichkeiten, welche den ideellen Gehalt dieser Proteste hinterfragen. Publizistisch prominent profiliert sich da Dahlia Scheindlin, Politologin und Kommentatorin für Publikationen wie «Haaretz» oder den britischen «Guardian». Sie schrieb: «Die meisten Protestierenden zielen nicht auf die militärische Besetzung der palästinensischen Gebiete – obwohl diese Besatzung die längste und undemokratischste Politik des Landes ist.» Im Guardian schrieb sie am 31. Juli: «Israel will soon annex the West Bank and make its authoritarian rule over Palestinans complete and permanent.»
Das ist eine düstere, aber wahrscheinlich realistische Einschätzung des Inhalts: Auch wenn die grosse Protestbewegung gegen Netanjahus Pläne Erfolg haben sollte (was kaum zu erwarten ist), auch dann rückt der Zeitpunkt der Annexion des Palästinensergebiets immer näher. Sie könnte durch die Justiz bestenfalls zeitlich etwas hinausgeschoben werden, mehr jedoch ist nicht zu erwarten.