Kann ein aus Zelten und Bauholz errichtetes und nur für kurze Zeit bestehendes Camp ein Thema der Architektur sein? Das Deutsche Architekturmuseum in Frankfurt sagt ja und überzeugt mit einer grandiosen Ausstellung.
Protestarchitektur, so der Titel der derzeit im Deutschen Architekturmuseum Frankfurt laufenden Ausstellung, wird von den Kuratoren wie folgt definiert: Sie umfasst «die räumlichen, in den Raum ausgreifenden Aspekte von Protestbewegungen. Orte werden angeeignet, blockiert, markiert, verteidigt. (...) Es entstehen ephemere Architekturen, die in ihrer Ausdehnung und Form so unterschiedlich sind wie die Proteste selbst: Ad-hoc-Ansätze treffen auf planvoll entworfene Konstruktionen, Handwerk auf Ingenieurskunst und Vorfabrikation, das Sich-häuslich-Einrichten auf fast schon militärische Taktiken.»
Dieses Zitat stammt aus dem lexikonartigen Beitrag in der Begleitpublikation. Die Form könnte abschrecken, doch die Autoren und Autorinnen fanden eine originelle Mischung zwischen reinen Definitionstexten und Reportagen zu insgesamt 13 Protestcamps weltweit, die als Fallbeispiele im Detail analysiert werden. So pendelt man als Leser hin und her zwischen banal klingenden Begriffen wie Fahne, Feuer, Pflasterstein, Seil oder Spiegel, historischen Ereignissen wie Black Lives Matter, EDSA-Revolution, Flint-Sitzstreik, G20-Proteste, Sturm auf das Kapitol, Spartakusaufstand, sowie den in der Ausstellung schwergewichtig bearbeiteten Protestcamps von Resurrection City von 1968 in Washington DC bis Hambacher Forst – einem Camp, das teilweise noch in Betrieb ist. Selbst die umfangreiche Bibliografie zu den aufwändigen Vorarbeiten der Schau ist als Lexikoneintrag mit dem Stichwort «Literaturverzeichnis» irgendwo in der Mitte der über 500 Seiten dicken Schrift im Taschenformat zu finden.
Leser älteren Semesters werden sich bei etlichen Stichwörtern an Vorfälle aus der eigenen Jugendzeit erinnern, Proteste, die zur damaligen Subkultur gehörten und explizit als Aufstand gegen die biedere Erwachsenenwelt gepflegt wurden. Man denke an die Zürcher Jugendunruhen, die in der Publikation unter dem Stichwort «Züri brennt», zugleich der Titel eines Dokumentarfilmes, kurz erwähnt werden.
Die Art und Weise, wie junge Menschen in Protestcamps leben und arbeiten, ist nicht grundsätzlich verschieden vom Groove in Pfadfinderlagern und Openair-Konzerten. Was sie von den üblichen Freizeitaktivitäten Jugendlicher trennen, war und ist der Protest gegen eine tief empfundene Ungerechtigkeit, woher auch immer sie stammt: gegen neue Agrargesetze (Farmer-Proteste in Dehli), gegen die Förderung der Atomenergie (Gorleben), gegen Raubbau (Hambacher Forst), gegen Naturzerstörung (Lobau, Lützerath), gegen politische Eliten (Hongkong-Proteste, Majdan-Proteste, Movimiento 15M).
Wird einmal ein Gelände in Beschlag genommen, erfolgt so etwas wie eine Planung. Es braucht Hütten und Zelte für die Unterbringung der Protestierenden, es braucht Verpflegungsstationen, es braucht sanitäre Anlagen, Gemeinschaftsräume für die Versammlungen, Verbindungswege zwischen den einzelnen Bauten, und an vielen Orten versucht man mit Barrikaden und Beobachtungstürmen, sich gegen mögliche Gewalt von aussen zu wappnen. Erstaunlicherweise wirkten an einigen Orten auch Architekten mit, die wichtige Gebäude entwarfen und mit begabten Handwerkern realisierten.
Für die Ausstellung in Frankfurt wurden einige Camps als Modelle liebevoll rekonstruiert, mit allem, was dazugehörte. Damit wollte man den Besuchern die gestalterischen Kräfte, die sich in solchen Protestcamps manifestieren, bewusst machen. Zusätzlich wurden auf Plakaten wichtige Konstruktionen (Türme, spezielle Bedachungen, Küchenzelte) mit einfachen Strichzeichnungen dargestellt. Präzise Pläne zeigen, dass in der scheinbaren Unordnung der Camps so etwas wie unbeabsichtigte Stadtplanungen zu erkennen sind.
Obwohl dies nicht das primäre Ziel der Protestierenden war, bekannte man sich in solchen Camps implizit zu alternativen Lebensformen mit einem Minimum an Aufwand und Bedürfnissen. Zahlreiche Personen, die an den Protesten beteiligt waren, haben für die Begleitpublikation Erfahrungsberichte geschrieben. Wie es wirklich war, ist selbstverständlich nur ansatzweise zu erfassen. In der Ausstellung geben historische Aufnahmen einen Einblick in das bunte Treiben; dazu wird auf einer grossen Leinwand ein kommentarloser Dokumentarfilm gezeigt, den man auch zu Hause anschauen kann.
Die Beschäftigung mit dieser Art von Bauen lohnt sich allemal, und man ist überrascht über die professionelle Ernsthaftigkeit der Macherinnen und Macher. Diese äussert sich beispielsweise darin, dass man mit allen Mitteln versuchte, einen mit der Aufschrift «Rotkoehlchen» versehenen Holzschuppen aus dem Camp Lüzerath als Denkmal zu retten. Es misslang schliesslich, sodass lediglich ein Modell gezeigt werden kann. Oder man etabliert so etwas wie einen neuen Zweig der Archäologie, indem planierte Areale ehemaliger Protestcamps nach Fundgegenständen ausgegraben werden. Im Zusammenhang mit den Majdan-Protesten in Kiew sammelte man über 4000 Erinnerungsstücke, die in einem speziellen Museum konserviert werden sollen.
Im Vorfeld der Ausstellung sind etliche Architekturfakultäten eingeladen worden, sich thematisch mit dieser Art des Bauens zu beschäftigen. Daraus resultierten historische Untersuchungen insbesondere zum Barrikadenbau, der seit dem Mittelalter bekannt ist, bis hin zu kunsthistorischen Einordnungen, so etwa, wenn die labilen Brettergebilde am Boden und in den Bäumen mit der vitruvianischen Urhütte in Beziehung gebracht werden.
Glücklicherweise werden die Exponate in den loftartigen und rohen Räumen des ehemaligen Neckermann- und Telekomgebäudes am Danziger Platz gezeigt, wo das Deutsche Architekturmuseum gegenwärtig Gastrecht geniesst. In den ehrwürdigen Hallen im Originalhaus hätten sie gepasst wie die Faust aufs Auge, abgesehen davon, dass dann etwas zusammengeführt worden wäre, was nicht zusammengehören kann, denn staatlich hoch subventionierte kulturelle Institutionen gehören zum Beuteschema traditioneller Protestbewegungen.
Ausstellung im DAM Frankfurt bis 14. Januar 2024, danach bis 25. August 2024 im Museum für Angewandte Kunst in Wien
Begleitpublikation: Protestarchitektur. Barrikaden, Camps, raumgreifende Taktiken 1830–2023, Park Books Zürich 2023