Die Inflation in Kombination mit der Schuldenkrise ist eine Zeitbombe. Welche Rollen spiel(t)en die Zentralbanken? Ihre wichtigste Aufgabe ist die Sicherung der Preisstabilität.
Für die Europäische Zentralbank (EZB) heisst das, dass der jährliche Anstieg der Inflation in der Eurozone unter zwei Prozent liegen muss. Die Schweizerische Nationalbank (SNB) setzt Preisstabilität mit einem Anstieg der Konsumentenpreise von weniger als zwei Prozent pro Jahr gleich. Doch im April 2023 belief sich die Teuerung im EU-Raum auf über 8 Prozent, in der Schweiz auf 2,6 Prozent. Diese zu hohe Inflation vor dem Hintergrund der weltweit hohen Verschuldung ist brandgefährlich.
Preisstabilität ist eine wesentliche Voraussetzung für Wachstum und Wohlstand. Gemäss der SNB beeinträchtigen Inflation und Deflation dagegen die Entwicklung der Wirtschaft. Sie behindern die Funktion der Preise, Arbeit und Kapital zu einer möglichst produktiven Verwendung zu lenken, und führen zu Umverteilungen von Einkommen und Vermögen.
Die EZB und die amerikanische Zentralbank (das Fed) haben diese Kernausgabe längst aus dem Blick verloren. Jahrelang verfolgten sie eine viel zu expansive Geldpolitik, eine einst richtige, aber später falsche Zielsetzung. Unvergessen ist die Aussage Mario Draghis, des damaligen Präsidenten der EZB, der 2012 der Welt verkündete, dass die EZB Staaten Geld zur Schuldenbewältigung zur Verfügung stellen werde – «whatever it takes». Im Auge hatte er dabei wohl vor allem Italien, seine Heimat. Otmar Issing, *1936, praxiserfahrener Professor für Volkswirtschaftslehre und von 1998 bis 2006 Chefökonom der EZB, meinte dazu in der NZZ: «Sie [die Notenbanken] haben eine extrem expansive Politik fortgesetzt, als es dafür überhaupt kleinen Grund mehr gab. Die Notenbanker waren noch im Krisenmodus, als es von Krise gar nichts mehr zu sehen gab.»
Mittlerweile haben selbst die Mitarbeitenden der EZB kein oder nur geringes Vertrauen in die Führungsriege ihres Arbeitgebers. Denn die Inflation im Euroraum lag bereits 2021 bei fast 6 Prozent, als die EZB-Vertreter noch immer behaupteten, die Teuerung sei vorübergehend und werde sich bald verflüchtigen. Die EZB-Chefin Lagarde hat sich wohl zu stark auf ihren Chefökonomen Philip Lane verlassen: Ganze acht Mal in der Folge musste dieser seine eigene Inflationsprognose für 2022 nach oben korrigieren.
Die Notenbanken schliefen
Der Zusammenbruch der amerikanischen Silicon Valley Bank im März 2023 ist ein Augenöffner: Das vorangegangene hohe Wachstum dieser Bank im Herzen des Start-up-Ökosystems Silicon Valley war nur dank des viel zu späten Schliessens der Geldschleusen durch das Fed möglich. Tatsächlich kann man vor dem Hintergrund des Debakels sagen, «der Elefant im Raum ist das Fed mit seiner extrem lockeren Geldpolitik».
Inzwischen haben in den USA und in der Eurozone die Notenbanken reagiert. In der Folge sind die Zinsen nach oben geschossen. Und immer deutlicher wird sichtbar: Die Inflation wird uns noch längere Zeit erhalten bleiben. Man könnte etwas zynisch sagen, die Zentralbanken haben es der Inflation erlaubt, sich im System einzunisten.
Die EZB schlief zwar nicht, doch mit ihrer langjährigen Fehleinschätzung, die hohe Teuerung sei vorübergehend, weckte sie sehr wohl den Eindruck eines Dämmerzustandes. Und seit der globalen Finanzkrise und der darauffolgenden Staatsschuldenkrise wagte sich die Notenbank aus ihrem angestammten geldpolitischen Terrain immer mehr aufs gefährliche politische Parkett. Das gigantische Staatsanleihenkaufprogamm, während gleichzeitig immer mehr ehemalige Wirtschafts- und Finanzminister im Führungsgremium der EZB Einsitz nahmen, prägte den Eindruck einer Verpolitisierung der EZB. Ob sie lernfähig sein werden, wird sich zeigen.
Abrupte Kehrtwende seit dem Sommer 2022
Immerhin: Jetzt reagierten die Zentralbanken, und wie! In sieben Schritten hat die EZB seither die Leitzinsen um 375 Basispunkte erhöht (auf 3,75% im Mai 2023) – eine 180-Grad-Kehrtwende in Rekordzeit. In den USA waren es gar 500 Basispunkte (auf 5,25% im Mai). Es scheint, als hätten die Notenbanken – nachdem sie während Jahren ihren Fokus verloren hatten – etwas gelernt. Weil Teuerung und Preisstabilität jahrelang kein Problem gewesen waren, hatten sie sich verirrt: in die direkte und indirekte Finanzierung von Staaten mit ihren sozialen und ökologischen Problemen (siehe oben).
Die Rolle der Schweizerischen Nationalbank (SNB)
Vorauszuschicken ist, dass es für die SNB unter Führung von Thomas Jordan nicht leicht war, in den schwierigen letzten, stürmischen Jahren einen zielkonformen Kurs zu halten. Heute steht die Schweiz bezüglich Inflation deutlich besser da als das europäische Umfeld. Dem starken Franken sei Dank.
Bei der Beurteilung der aktuellen Lage sieht es allerdings problematischer aus. Die SNB hat die eigene Bilanz während Jahren durch gigantische Devisenmarktinterventionen mit ausländischen Anlagen von schliesslich ungefähr 1000 Milliarden Franken per Ende 2021 «gefüttert». Bei einer Frankenaufwertung verliert sie gewaltig an Substanz. Denn bei der Rückzahlung der Papiere ist der Euro zwangsläufig weniger wert als beim Kauf. «Diese enormen Verluste», so Klaus Wellershoff, der bekannte Wirtschaftsexperte im Tages-Anzeiger, «können zur Folge haben, dass die Nationalbank viel Vertrauen verspielt, ihr Eigenkapital aufbraucht und Bund und Kantone zur Rekapitalisierung gezwungen würden. Aber die könnten das gar nicht. Es ist ein Albtraum, der da entstanden ist.»
Zusammenfassend: Die riesige, weltweite Staatsverschuldung und das Zusammentreffen mit steigenden Zinsen zur Inflationsbekämpfung ergeben eine Zeitbombe. Was, wenn die betroffenen Staaten die explodierende Zinslast für ihr Schuldenpaket nicht mehr zu bezahlen in der Lage sind?
(Nebenbei gesagt: Langjährige Leserinnen und Leser meiner Kolumnen mögen sich daran erinnern, dass ich die Politik der Zentralbanken seit vielen Jahren kritisch beleuchtet habe. So im Mai 2020 die Negativzinspolitik mit der Belohnung der Schuldner, im Juli und Oktober 2019 die endlose Gelddruckerei und die Finanzierung der Schuldnerländer und 2017 mit dem Aufruf an «Signor Draghi, bitte umdenken!», bezogen auf den Aufkauf von staatlichen Ramschanleihen.)