Zuhauf erscheinen Schriften über Bildung. Vielfach beleuchten sie Nebenaspekte des Unterrichts. Nicht so das Buch «Gute Bildung sieht anders aus». Die Publikation will den Blick weiten und das Lernen mit der Sinnperspektive verbinden.
Der PISA-Schock von 2000 war so etwas wie ein Reformkatalysator. Ein bildungspolitischer Aktivismus setzte ein. Praktisch kein Stein ist auf dem andern geblieben. Die staatliche Strategie stellte von der inhaltlichen «Input-» auf die ergebnisorientierte «Output-Steuerung» um. Das bedeutete, so sagt die Wissenschaft, einen Paradigmenwechsel. Der Fokus verschob sich radikal. Detailliert dekretiert und genau geregelt wurde nun der «Output».
Er orientiert sich am Können der Schülerinnen und Schüler. Rund 3'500 Mal taucht darum das Wort «können» im Lehrplan 21 auf – und mit ihm lauter kleinparzellierte Einzelkompetenzen. Anwendbare, abrufbare, kontrollierbare. Über die «Kompetenzorientierung» sollte die Effizienz schulischen Lernens erhöht und der Unterricht am operationalisierten Ergebnis gemessen werden.
Schule lässt sich nicht aufs Lernen reduzieren
Spiritus Rector dieses Paradigmenwechsels war Ernst Buschor. Als Zürcher Regierungsrat unterzog der St. Galler zuerst das Spitalwesen und dann die Volksschule einer Radikalreform. Die NZZ sprach vom «Turboreformer». Als Professor für Finanzwirtschaft und Finanzrecht glaubte er an die umfassende Effizienzorientierung von Bildungssystemen, an ihre Mess- und Kontrollierbarkeit. Die Schule sollte sich in eine effiziente Organisation verwandeln, gesteuert von der Bildungsverwaltung. Das Pädagogische als ISO-9000-Projekt.
Lernwirksam sollte der Unterricht sein. Diesen Auftrag bestreitet niemand. Doch die Gefahr der Messbarkeitsorientierung liegt im Einseitigen. Denn das eigentlich Sinnvolle lässt sich nicht messen. Eine kluge Publikation verlangt darum von der Schule mehr: «Gute Bildung sieht anders aus»[i]. Zu diesem provokanten Schluss kommen zwei anerkannte Wissenschafter: der Augsburger Pädagogikprofessor und John Hattie-Übersetzer Klaus Zierer sowie Harald Lesch, Physiker und Wissenschaftsvermittler.
Für ein humanistisches Bildungsverständnis
Beiden geht es nicht allein um wirksames Lernen, nicht um ein Qualifikations- und Kompetenztraining. Es geht ihnen um ein Lernen, das nach dem Sinn fragt und auf Bedeutung aus ist. Es geht ihnen um eine Bildung im umfassenden Sinne – und damit um einen «bildungswirksamen Unterricht». Zierer und Lesch wollen den Unterricht aus der einseitigen PISA-Perspektive herausführen und den jungen Menschen in allen seinen inneren Möglichkeiten begreifen – mit dem Erwerb von Wissen und Weisheit, von Können und Haltungen. Dazu gehört auch der sorgsame Umgang mit sich selbst, mit der Mitwelt und der Umwelt. Das «macht den Kern eines humanistischen Bildungsverständnisses aus», schreiben die Autoren.[ii] Und bei ihnen taucht es wieder auf, dieses alte Wort – dieses Bildungsideal ohne Verfallsdatum.
Welches aber wären die Qualitätskriterien für dieses «anders» in der Bildung, wie es der Buchtitel postuliert? Eines steht für beide fest: Eine gute Schule verzettelt sich nicht ins fachliche Vielerlei.[iii] Sie konzentriert sich auf ihren pädagogischen Kernauftrag und auf die elementaren Grundlagen. Dazu gehören die Kulturtechniken des Lesens, Schreibens, Rechnens. So bleiben Zeit und Raum für Kreatives und Kulturelles, Musisches und vor allem auch Gemeinschaftliches.
Können ist nicht gleich Verstehen
Eine gute Schule führt die Jugendlichen zum Verstehen. Das ist entscheidend. Etwas können ist aber nicht gleichbedeutend mit dem Verstehen. Eigentlich eine Binsenweisheit! Und doch betonen es die beiden Wissenschafter. Wenn ich Prozente berechnen kann, heisst das nicht, dass ich das Prozentrechnen auch verstanden habe. Wer beispielsweise eine Operation wie das Faktorisieren eines mathematischen Terms nicht versteht, der kann sich den Ablauf der Operation kaum so merken, dass sie im richtigen Moment auch wieder abgerufen und angewendet werden kann.
Bildung braucht «scholé»
Verstehendes Lernen ist darum zentral. Doch überfrachtete Lehrpläne verhindern diesen Auftrag. Zu vieles muss in zu kurzer Zeit durchgenommen sein. Lernen wird kaum zur Bildung. Druck und Hektik stehen dem entgegen. Die Last der Hast! Die Schule allerdings hätte einen wunderschönen Namen. Er stammt aus dem Altgriechischen. Aristoteles‘ geschliffener Begriff müsste Programm sein: «scholé», was so viel wie Musse bedeutet. Es ist das Stammwort unserer Schule. Die «scholé» wäre jener Ort, an dem sie noch möglich sein müsste, eine gewisse Musse. Ein Ort, an dem man füreinander Zeit hat und einander zuhört, zueinander findet und sich aneinander reibt, miteinander lernt und gemeinsam zu Neuem unterwegs ist. Das ist der tiefe Sinn von Schule.
Bildung basiert auf «scholé». Das Lernen kann man nicht beschleunigen; es lässt sich nicht in der in der Hast raschen Durchnehmens erwerben. Lernen kennt keine Autobahnen, keine Schnellstrassen und keine abgekürzten Routen oder gar Überholspuren. Da gelten Feldwege und da gehören Bergpfade dazu. Manchmal auch Unterholz und Dickicht. Und natürlich Umwege. Darum braucht Lernen Zeit. Eben: Musse für den Bildungs- und Erziehungsauftrag, wie er Zierer und Lesch so wichtig ist.
Bildung als «vernünftige Freiheit»
Mit dem Philosophen Jürgen Habermas votieren die beiden Wissenschafter für eine vernunftgeleitete Autonomie des Einzelnen. Doch «zur Wahrnehmung der Möglichkeiten und Grenzen seiner Freiheit [muss der Mensch] erzogen werden, indem er seine Vernunft entwickelt».[iv] Mit Bezug auf den Erziehungswissenschaftler Wolfgang Klafki geht es den Autoren um drei Dinge: Selbstbestimmung, Mitbestimmung und Solidaritätsfähigkeit. Keine davon kann Ausschliesslichkeit beanspruchen. Es kommt auf das Ausbalancieren dieser drei Grundfertigkeiten an.
Vernunft und Freiheit seien heute gefährdet, diagnostizieren Zierer und Lesch. Ihre Schrift zeigt auf, wie Schule und Unterricht gegenhalten können. Entstanden ist ein lesens- und bedenkenswertes Plädoyer für eine pädagogische Wende.
[i] Harald Lesch, Klaus Zierer: Gute Bildung sieht anders aus. Welche Schulen unsere Kinder jetzt brauchen. München: Penguin Verlag, 2024.
[ii] Ebda., S. 14.
[iii] Es ist das, was der Bildungsforscher John Hattie mit «Avoid politics of distraction» meint, eine klare Fokussierung, in: Heike Schmoll: Schüler für das Lernen begeistern. FAZ, 21.11.2024, S. 7.
[iv] Lesch/Zierer, a. a. O., S. 104.