Literatur von jungen Autorinnen und Autoren aus Iran gibt es so gut wie nicht auf Deutsch. Der Herausgeber und Übersetzer Arash Alborz will das mit seinem Literaturmagazin «dort» ändern. Die ersten beiden Ausgaben seien vielversprechend, sagt Gerrit Wustmann.
«Mein Vater wirft sich jeden Tag aus dem Fenster unseres Wohnzimmers hinaus. Fliegt, leise und rasch, aussen entlang die sechs unteren Etagen hinunter und stürzt auf das Strassenpflaster.» So beginnt die Kurzgeschichte «Die Taufe» des Teheraner Autors und Journalisten Masoud Riahi, die die zweite Ausgabe des neuen Literaturmagazins «dort» eröffnet. Der Text stammt aus Riahis 2022 erschienenem Prosadebüt.
Der Vater des Erzählers zerschellt auf dem Pflaster, lockt Schaulustige an, die Geldstücke nach ihm werfen, und sobald es Abend wird, sammeln er und sein Sohn die Almosen auf, gehen zurück in die Wohnung und freuen sich, wenn es ein guter Tag war. Bis eines Tages die Polizei Ärger macht, der das selbstmörderische Schauspiel nicht geheuer ist. Weshalb Vater und Sohn eine Lösung ersinnen müssen, um weiterhin die Familie ernähren zu können.
Es ist eine so makabere wie surreale Erzählung, der Riahi passenderweise ein Kafka-Zitat voranstellt. Und sie gibt den roten Faden vor: Auch in den Geschichten von Niloofar Nedaei und Sanaz Asadi bildet ein Sprung (vom Balkon, von der Leiter) ein Schlüsselelement, das in allen drei Texten auf vielerlei Weise gelesen werden kann: metaphorisch, ironisch, wörtlich und alles zugleich. Es ist diese augenzwinkernde Doppeldeutigkeit, die sich häufig findet in der jungen iranischen Prosa, die das «dort»-Magazin erstmals hierzulande zugänglich macht. Es sind allesamt Erstübersetzungen.
Wenig persische Literatur auf Deutsch
Der Initiator, Herausgeber und Übersetzer, der Kölner Arash Alborz, hatte die Idee für das Magazin bereits vor gut zehn Jahren. «Es gibt einfach so wenig persische Literatur auf Deutsch», sagt er. Daran habe er etwas ändern wollen. Inmitten der Pandemie hat er via Instagram dazu aufgerufen, ihm Texte zu schicken – ohne die üblichen Begrenzungen: Er wünschte sich Beiträge sowohl von etablierten Autorinnen und Autoren als auch von solchen, die vielleicht noch gar nichts veröffentlicht hatten.
Das erweitert das Spektrum und eröffnet die Chance, auch auf gute Literatur zu stossen, die noch niemand kennt. Denn gerade der Nachwuchs hat es nicht immer unbedingt leicht in Iran. Mitgeholfen haben «Freunde, die im Iran in Verlagen und bei Zeitschriften arbeiten», erzählt er.
Auf Anhieb haben er und sein kleines Team rund fünfzig Texte erhalten, «die meisten, gut neunzig Prozent, von Frauen – darüber war ich selbst überrascht», sagt Alborz. Was ebenfalls auffällt: Fast alle Beiträge in den ersten zwei Ausgaben des «dort»-Magazins haben starke surreale Elemente, lassen sich ohne Weiteres bei der Weird Fiction einordnen, einem heutzutage vor allem in den USA starken Genre, denkt man an Autoren wie O. Henry-Preisträger Brian Evenson oder Steve Rasnic Tem.
In Deutschland bewegt sich die Weird Fiction – trotz Kafka – seltsamerweise im Nischenbereich. Alborz hat nachgefragt und erfahren, dass das unter jungen Autorinnen und Autoren in Iran zurzeit ein Trend ist, und man denkt an Sadegh Hedayats wegweisenden Roman «Die blinde Eule», 1936 erschienen, der bis heute grossen Einfluss hat – wie übrigens auch Kafka und Rilke, die beide in der Literaturszene zwischen Teheran, Isfahan und Shiraz hoch im Kurs stehen.
«Man sagt», schreibt er im Vorwort zur zweiten Ausgabe, «persische Literatur habe das Metaphorische, das Ironische, das Doppel- oder Mehrdeutige gemeistert, und das seit Jahrhunderten. Schon in den Versen von Omar Chayyam oder Hafis begegnet man andauernd Rätseln und Geheimnissen. Und als Grund dafür gilt eine jahrhundertelange politische und gesellschaftliche Unterdrückung.» Das merkt man auch den vorliegenden Geschichten an.
Gewitzte Persiflage
Allerdings sind sie keineswegs hermetisch. Und man kann sie auch problemlos lesen, wenn man keinen Bezug zum Iran oder zur persischen Literatur hat. Wie bei Zahra Godarzis Geschichte «Im Dunklen wirken Propheten keine Wunder»: Der Erzähler, ein Grundschüler, ist angefressen, weil er bei der Aufführung des Schultheaters nicht die Hauptrolle spielen darf, die die meiste Aufmerksamkeit erntet: die des Propheten. Stattdessen spielt er hinter der Bühne Gott.
Man sieht ihn nicht, hört lediglich seine Stimme. Das allein würde genügen, um die Geschichte zu einer so gewagten wie gewitzten Persiflage auf die Religiosität und ihre allzu weltlichen Regeln zu machen, aber natürlich ist das bloss der Anfang. Denn der feiste Schuldirektor lässt sich vom Grossvater des Erzählers mit seiner Zweitfrau vermählen, was bei der Familie der Erstfrau nicht allzu gut ankommt, und obendrein wünscht er, den Lieblingshahn des Jungen, der auf den Namen Manchmal hört, zu schlachten.
Das wiederum bringt den Erzähler in eine gute Verhandlungsposition: Er kann Bedingungen stellen und sieht sich seinem Ziel, von der Rolle Gottes in die Rolle des Propheten zu schlüpfen, ein Stückchen näher kommen.
Zahra Godarzis tiefschwarzer Humor ist hintersinnig und doppelbödig, und dass ihr Text obendrein höchst elegant geschrieben (und von Alborz nicht weniger elegant übersetzt) und unterhaltsam ist, ist mehr als eine Dreingabe, denn man wünscht sich, mehr von dieser versierten Autorin zu lesen. Das gilt ebenso für die Texte von Naghmeh Dadvar und Rafa Rostami, die den ersten «dort»-Band, erschienen im Herbst 2021, abrunden.
Die kleinen Bände sind, das sei ebenfalls angemerkt, nicht nur lesens- sondern auch sehenswert mit den zu den Geschichten passenden surrealistischen Illustrationen von Mehdi Aslaghi sowie den Fotos von Houtan Nourian. Das «dort»-Magazin dürfte am Ende auch für Verlage interessant sein, die auf der Suche nach neuen Autorinnen und Autoren jenseits westlicher Literatur sind.
Mit freundlicher Genehmigung von IranJournal.org