Khodorkovsky habe das Land bestohlen, hörte Tuschi bei seinen Recherchen von vielen DurchschnittsbürgerInnen – falls diese von der seinerzeit sensationellen Verurteilung überhaupt noch etwas wußten. Bei informierteren Zeitzeugen – alles Männer – stieß er auf Schweigen. Weder Vladimir Putin, 2000-2008 Russlands Präsident noch Michail Gorbatschow wollten dem 1969 geborenen Deutschen ein Interview geben, noch der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder – Aufsichtsratvorsitzender der Gasleitungs-Gesellschaft Nord Stream, in welcher die russische Gazprom die Aktienmehrheit hält. Auch „die Oligarchen sagten alle höflich ab“, berichtet Tuschi. Man gehe ja sehr intelligent mit dem Fall Khodorkovsky um, man sitze ihn so „Helmut-Kohl-mässig“ aus. „Schweigen ist ein Ausdruck von Macht“.
Grigori Jawlinski, der 1991/92 als Wirtschaftsreformator zu Jelzins Regierung gehörte, rät dem Dokumentaristen, wenn er einen ehrlichen Film über Khodorkovsky machen wolle, mache er am besten überhaupt keinen.
Tuschis Recherchen
Tuschi besuchte Khodorkovskys Mutter in ihrem leergewordenen Haus, konnte allmählich das Vertrauen von Khodorkovskys frühen Geschäftspartnern und –freunden Nevzlin und Brudno, beide jetzt in Israel, gewinnen und mit vielen anderen ins Gespräch kommen. Anläßlich des zweiten Moskauer Prozesses Ende 2010 erwirkte er die Erlaubis, Khodorkovsky selbst zehn Minuten lang zu interviewen. Als 2006 Alexander Litvinenko in seinem Londoner Asyl ermordet wurde, bekam es Tuschi allerdings mit der Angst zu tun. Der ehemalige Geheimdienstmitarbeiter war ein Kritiker von Putin gewesen, der offenbar einiges über die Zerschlagung der Jukos wußte, auch über einen Mord, welcher der Führung der Jukos zur Last gelegt wird. Den Diebstahl eines Computers, auf welchem sich die Endfassung von „Khodorkovsky“ befand, hat Tuschi „versucht nicht so ernst zu nehmen“. Bezeichnender sei, „daß alle Russen sofort gesagt haben: Das war der KGB.“
Khodorkovskys Werdegang
Khodorkovskys Mutter, Marina Chodorkowskaja, Chemikerin, erzählte dem Filmer von ihrem Mischa und zeigte ihm alte Fotos. Michail hat Chemie studiert, dabei spezialisierte sich auf Sprengstoffe. Sein Vater, ebenfalls Chemiker, war jüdisch – das Studium sei für Juden einer der wenigen offenen Wege nach oben gewesen, kommentiert der ehemalige Geschäftspartner Nevzlin. Der junge Khodorkovsky war ein aktives, bald führendes Miglied des kommunistischen Jugendverbands Komsomol und stand als solches zur Zeit der Perestroika in gutem Kontakt mit der Regierung. 1989 gründete er die Privatbank Menatep. 1995/96 kaufte er dem Staat das vor dem Bankrott stehende Staatsunternehmen Jukos relativ billig ab. Dies hänge damit zusammen, daß nur Nichtrussen den Weltmarktpreis hätten aufbringen können, man habe derartige Unternehmen aber im Lande behalten wollen, bemerkt sein früherer Sicherheitsberater. Alle Oligarchen seien Produkte der Regierung. Sie durften nur mit der Genehmigung des Staates handeln, genossen im Gegenzug jedoch dessen Schutz, gibt ein anderer zu Protokoll. Es galt in jener Gründerzeit offenbar eine Art finanziellen Faust- und Filzrechts.
Vom „Criminal Style of Business“ zum „Western Style of Business“
Um die Jahrtausendwende veränderte Khodorkovsky Image und Geschäftsstil, er führte Jukos nun transparent, womit er auch das Vertrauen der Investoren zu stärken beabsichtigte. Auf Ratschlag einer amerikanischen PR-Firma gründete er 2001 die nichtstaatliche Organisation „Offenes Rußland“, welche Freiheit und Demokratie propagierte. Er stiftete 100 Millionen Dollar für Universitäten, Schulen, Wohltätigkeit und Ausbildungsprogramme, unterstützte die Opposition, gab sich volksnah und rasierte seinen Schnurrbart weg. Boris Nemzow, Marktreformer, Vizeministerpräsident unter Jelzin, nennt es die Wandlung von einem „criminal style of business“ zum „western style of business“. Putin beschwor Khodorkovsky, die Opposition nicht zu unterstützen und sich von der Politik fernzuhalten. Khodorkovsky sei jedoch nicht einfach ein güter raffender Geschäftsmann gewesen, erklärt dessen Londoner Berater, sondern ein Visionär. Er habe einen Plan gehabt, er sei ein „builder“ gewesen, er habe ein Imperium aufbauen wollen, welches seinen Stempel tragen sollte. Daß er russischer Präsident habe werden wollen, stimme aber nicht, schrieb Khodorkovsky an Cyril Tuschi.
Wachsende Spannungen zwischen Khodorkovsky und Putin
Schon unter Jelzin hatte es jährliche Treffen des Staatspräsidenten mit den Reichsten seines Landes gegeben. 2003 sprach Khodorkovsky bei dieser Gelegenheit – in Anwesenheit des Fernsehens – die Frage der Korruption im Kreml an. Tuschis Film reproduziert die Fernsehaufzeichnung dieser Szene einschliesslich der Antwort Putins. Sie markiert den Anfang vom Ende der Jukos. In demselben Jahr verhandelte der Oligarch mit amerikanischen Ölimultis über Beteiligungen und Verkäufe, traf auch Präsident George W. Bush. Manche von Tuschis Auskunftspersonen weisen auf eine persönliche Dimension des Machtkampfs zwischen ihm und Putin hin. Einige sagten, schreibt Khodorkovsky dem Filmer, Putin sei beleidigt gewesen, weil er ihn im Kreml ohne Kravatte aufgesucht habe. Einer berichtet, Khodorkovsky habe zwar recht gehabt, aber er sei arrogant aufgetreten; ein anderer, eine kleinliche Person könne so etwas nicht vergeben. Joschka Fischer erzählt, wie „unglaublich hart und emotional“ Putin jede Diskussion über Khodorkovskis Verhaftung abgelehnt habe.
Verhaftung und Verurteilung
Trotz hoher Geldangebote für den Fall seiner Emigration und vielfacher Warnungen, im Wissen, daß er verhaftet werden würde, kehrte Khodorkovsky im Oktober 2003 aus den USA nach Rußland zurück. Er habe für seine Haltung und Überzeugung vor Gericht geradestehen wollen, sagt er dazu, und fügt lächelnd bei: „Plus … I had naive ideas about justice“. Er wurde zunächst wegen Steuerdelikten verurteilt. Seither sind neue Beschuldigungen – jener angebliche Auftragsmord, über den der ermordete Litwinenko mehr gewußt haben soll – und Ende 2010 ist er wegen Diebstahls von Öl zu weiteren sechs Jahren Haft verurteilt worden.
Der Mehrwert der bewegten Bilder
Tuschis Film ist gut gemacht, spannend und aufschlußreich. Khodorkovskys Verhaftung zeigt er, da er dazu keine Aufnahmen hat, in Form einer gekonnten schwarz-weissen Animation. Solche Animationen fügt er auch später wieder ein. Zu den Hintergründen von Khodorkovskys Verurteilung und Gefangenschaft legt er ein breites Panorama aus. Offene Fragen lässt er seine Interviewpartner aufbringen oder eben vermeiden – daß es da um Macht geht, wird einem auch als Zuschauerin evident. Der Film bringt indessen einen Mehrwert: die Gesichter der Macht, die Ober- und Untertöne ihrer Reden, ihr Zaudern, die Umgebungen, in welchen sie sich bewegen. Filmische Rückblicke auf die Komsomol-Zeit, das Einspielen von Zeitdokumenten aller Art öffnen eine Vielfalt von Wahrnehmungskanälen für den Fall Khodorkovsky. Auch von dessen als „eine Art Aura“ beschriebener, charismatischer Ausstrahlung kann man etwas sehen, und nur die „bewegten Bilder“ können zeigen, wie ruhig er sein Gesicht hält und wie merkwürdig undurchsichtig seine offene Freundlichkeit wirken kann.
Ist Tuschis Film „Pro-Khodorkovsky“?
Manche glaubten dies, sagt der Filmer. Er finde es aber „unfair, wenn jemand auf dem Boden liegt, noch auf ihn einzutreten“. Damit nimmt er die Position des menschlichen Zeugen eines Machtkampfs ein. Was die rechtlichen Waffen betrifft, mit welchen der Machtkampf zwischen Putin und Khodorkovsky ausgefochten wurde, vermittelt sein Film indessen tatsächlich einiges Material, welches Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Urteile und Verfahren gegen Khodorkovsky aufkommen lässt. Daß dieser einen mit Charme, Klugheit und Bildung mehr für sich einnehmen kann als der mächtige und gefährliche Putin, lässt sich ebenfalls nicht bestreiten.
Man möchte sich deswegen jedoch nicht einer kapitalistischen Weltherrschaft und dysfunktionellen Machtkonzentrationen zugeneigt verstehen wollen. So gerne würde man sich den Kraftfeldern der Macht etwas weniger ausgeliefert sehen. Aber „die Welt ist nicht so, wie Sie sie sich vorstellen“, beendet Joschka Fischer halb verzweifelt, halb ungeduldig ein Gespräch und meint mit „Sie“ wohl nicht nur den Filmer und sein Publikum, sondern auch sich selbst. Und Tuschi bestätigt es ihm: er sei ja immer noch voller Idealismus, was die Welt betreffe.
Einen nächsten Film bereitet Tuschi über WikiLeaks und den Gründer Julian Assange vor – von Assange stammt auch der Satz: „Schweigen ist ein Ausdruck von Macht“.