Russland erliess einen Haftbefehl gegen sie und schrieb sie zur Fahndung aus. Jetzt hat sie Chancen, «Aussenministerin» der EU zu werden.
Die estnische Ministerpräsidentin Kaja Kallas, die am vergangenen Dienstag ihren 47. Geburtstag feierte, gehört zu den energischen Putin-Kritikerinnen. Ob das ein Vorteil oder ein Nachteil ist – darüber gehen die Meinungen auseinander.
Eigentlich wollte sie Nato-Generalsekretärin und Nachfolgerin von Jens Stoltenberg werden. Doch das klappte nicht. Der Niederländer Mark Rutte ist es, der vermutlich das Rennen macht. Jetzt möchte sie «Aussenbeauftragte» der EU werden, also Chefdiplomatin, eine Art EU-Aussenministerin. In diesem Amt will sie den etwas farblosen 77-jährigen Spanier Josep Borrell ablösen.
Gerade in Zeiten, in denen in Europa wieder Krieg herrscht, ist das Amt des EU-Aussenministers von grosser Bedeutung. Dass sie eine resolute Gegnerin von Putin ist, hat sowohl persönliche als auch historische, politische und geografische Gründe.
Estland – «russische Erde»?
Putin hat immer wieder durchblicken lassen, dass er Estland und die beiden anderen baltischen Staaten, Lettland und Litauen, als «russische Erde» betrachtet. Deshalb fürchtet man nicht nur im Baltikum, dass es der Kreml-Chef nicht nur auf die Ukraine, sondern auch auf die drei baltischen Staaten abgesehen hat.
Estland, am Finnischen Meerbusen gelegen, ist der kleinste der drei baltischen Staaten. Das Land ist etwa so gross wie die Schweiz, doch nur 1,4 Millionen Menschen leben dort. Ein Viertel von ihnen ist russisch-stämmig.
Von 1710 bis 1918 gehörte Estland zum Russischen Reich. 1918 wurde das Land im Zuge der bolschewistischen Oktoberrevolution unabhängig. 1921 trat Estland dem Völkerbund bei und eröffnete eine Botschaft in Genf. 1934 schlossen Estland und die beiden anderen baltischen Staaten in Genf die «Baltische Entente» – ein Bund, der die Unabhängigkeit der drei Länder sichern sollte.
Ein Damoklesschwert über der Region
1940 überfiel die Sowjetunion Estland, Lettland und Litauen und annektierte die drei Staaten gewaltsam. Estland wurde zur «Sozialistischen estnischen Sowjetrepublik». Während des Zweiten Weltkrieges wurde das Land von den Deutschen besetzt. Auch hier wüteten die Nazis, brachten über zehntausend Juden um und deportierten weite Bevölkerungsteile. Im Anschluss an den Krieg begann die Sowjetunion, in Estland Tausende russisch-stämmiger Menschen anzusiedeln. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurden die drei baltischen Staaten 1991 unabhängig. 2004 wurden sie Mitglieder der EU und der Nato.
Estland hat eine 324 Kilometer lange Grenze zu Russland. Die Ängste vor einem russischen Einmarsch hängen wie ein Damoklesschwert über der Region. Sie sind ein Grund für die rabiate Anti-Putin-Haltung von Kaja Kallas.
Dazu kommen persönliche Gründe. Kajas Mutter war als Baby im Viehwagen nach Sibirien deportiert worden und kehrte erst 1954 nach Estland zurück. 1977 wurde Kaja geboren. Ihr Vater wurde Ministerpräsident und führte das Land in die Nato und die EU, anschliessend wurde er EU-Kommissar.
Gehätschelt und fotografiert
Kaja Kallas wurde 2021 als Mitglied der liberalen estnischen Reformpartei zur estnischen Ministerpräsidentin gewählt – als erste Frau in diesem Amt. Doch schon bald wurde deutlich, dass sie weitere Ambitionen hat.
Auf der internationalen Bühne wird sie gehätschelt und fotografiert. Zusammen mit der damaligen finnischen Ministerpräsidentin Sanna Marin gehörte sie zu den meistfotografierten europäischen Politikerinnen.
In Estland selbst ist Kaja Kallas weniger beliebt. Viele bezeichnen sie als elitär, abgehoben. Sie denke vor allem an ihre Karriere, aber nicht an ihr Volk. Tatsächlich bewegt sie sich nur in besten Kreisen. Ihre Auftritte würden «Auftritte an Modeschauen» gleichen, sagten ihre Kritiker. «Mit knalligen Farben ihrer Kleider zieht sie die Aufmerksamkeit auf sich.» Ihr erster Mann war Finanzminister und begüterter Geschäftsmann. Ihr zweiter Mann ist ein Investment-Banker.
Jetzt hat Kaja Kallas Chancen, neue Chefdiplomatin der EU zu werden. Für sie spricht neben ihren Fähigkeiten, dass sie aus einem osteuropäischen Land stammt. Die EU muss ihre Chefposten auch nach geografischen Kriterien verteilen. Und Osteuropa kam bisher immer etwas zu kurz. Zudem kennt sie, die Juristin, Brüssel seit zehn Jahren. 2014 wurde sie ins EU-Parlament gewählt.
Chancen als Liberale
Nicht nur nach geografischen, sondern auch nach ideologischen Kriterien sollten die drei Top-Posten der EU (Präsidium der Kommission, Präsidium des Europäischen Rates und Chefdiplomatie) verteilt werden.
Drei politische Familien dominieren den EU-Kosmos: Die konservative, christsoziale «Fraktion der Europäischen Volkspartei» (EVP), die «Fraktion der Sozialdemokraten» und die liberale und zentristische «Renew Fraktion». Ursula von der Leyen, die auf eine Wiederwahl als Kommissionspräsidentin hofft, gehört der konservativen EVP-Fraktion an. Die Sozialdemokraten werden vermutlich Anspruch auf das Amt des Präsidenten des Europäischen Rates erheben – als Nachfolger des flattrigen Belgiers Charles Michel.
Dass Kaja Kallas als Mitglied der liberalen estnischen Reformpartei der Liberalen Fraktion angehört, erhöht ihre Chancen gewaltig. Zu ihren Pluspunkten gehört auch, dass sie in Estland bewiesen hat, dass sie mit den Konservativen und den Sozialdemokraten zusammenarbeiten kann.
Beschwörende Warnerin
Den Zorn Russlands zog die Estin erstmals auf sich, als sie entschied, sowjetische Denkmäler aus dem öffentlichen Raum zu entfernen. «So schnell wie möglich», sagte sie. Man solle auf den Friedhöfen der Toten gedenken und nicht in den Strassen. So wurde in Narwa, der drittgrössten estnischen Stadt, ein sowjetischer Panzer aus den Strassen entfernt. Russland bezeichnet dies als «Schändung des historischen Gedächtnisses».
Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine hört Kallas nicht auf, den Westen beschwörend zu warnen und zur Aufrüstung zu drängen. Sie fordert die europäischen Staaten mit emotionalen Parolen auf, mehr Geld in die Armee und die Verteidigung zu stecken. «In einer Welt voller Gewalt ist Pazifismus Selbstmord», sagt sie.
Für diese harte Haltung wird sie in weiten europäischen Kreisen, vor allem auch in Osteuropa, gelobt. Gerade in der heutigen Zeit brauche es eine kompromisslose Haltung gegenüber dem Kriegsverbrecher Putin, heisst es. Dieser verstehe nur Härte und Gewalt. Oberstes Ziel müsse es sein, Putin in die Schranken zu weisen.
Doch nicht nur Putin greift sie an, sondern auch das russische Volk, das diesen Krieg befürworte. Russinnen und Russen würden eine Mitverantwortung für das tragen, was in der Ukraine geschieht, sagt sie.
Stimmen, wonach ihre «kriegerische Haltung» ein Ende der Kämpfe und einen Kompromiss in der Ukraine verzögere, sind in jüngster Zeit leiser geworden. Auch Ursula von der Leyen gehörte von Anfang an zu jenen, die eine harte Haltung gegenüber Putin einnahm.
Keine Gegenkandidaten in Sicht
Zu Kaja Kallas Vorteilen gehört auch, dass bei ihrem Bestreben, EU-Chefdiplomatin zu werden, kein Gegenkandidat, keine Gegenkandidatin in Sicht ist.
So, wie bei der Besetzung des Top-Top-Jobs: Ursula von der Leyen gilt immer noch als einzige ernsthafte Kandidatin für das Kommissionspräsidium. Zusammen mit den Sozialdemokraten und den Liberalen verfügt von der Leyens Europäische Volkspartei über 403 Sitze. Das sind 43 mehr als nötig, um im 720 Mitglieder zählenden Europäischen Parlament erneut als Kommissionspräsidentin gewählt zu werden. Dennoch steht die Wahl noch nicht ganz fest.
Denn: Im Europaparlament herrscht kein Stimmzwang, und von der Leyen hat einige Parlamentarier und Parlamentarierinnen aus den eigenen Reihen vor den Kopf gestossen, als sie begann, mit der italienischen Rechtsaussen-Ministerpräsidentin Giorgia Meloni zu flirten. Werden deshalb einige ihrer eigenen Leute diesmal nicht für sie stimmen? Wie viele könnten das sein? Genügend, um ihre Wahl zu verhindern?
Ihre Stärke ist, dass kein profilierter Gegenkandidat sich aufdrängt. In Rom spekuliert man zwar erneut darüber, dass der allseits verehrte Mario Draghi das Amt übernehmen könnte. Doch das gilt im Moment als unwahrscheinlich. Bisher hat er keine Zeichen ausgesendet, dass er will.