Jedes Mal, wenn ein neues Kommunikationsmedium sich breit macht, verkünden Medienauguren, meist in gedruckter Form, das Ende des Buches in gedruckter Form. So etwa 1894, nachdem Edison den Phonographen erfunden hatte. Der französische Schriftsteller Octave Uzanne schrieb einen Artikel - „Das Ende des Buchs“ -, der mit visionärem Überschwang eine Zukunft ausmalte, in welcher der Taschen-Phonograph das Buch ablösen und den Leser von der mühsamen Praxis der Lektüre erlösen würde. Nur noch hören, nicht mehr lesen. Statt Bibliotheken Phonographotheken.
So auch und immer noch 2011. Anlässlich des internationalen Buchfestivals in Edinburgh proklamierte der schottische Autor Ewan Morrison, „dass innert 25 Jahren die digitale Revolution das Ende des Papierbuches bringen wird.“ Morrison bezog Rückendeckung aus der Statistik: Das traditionelle Verlagshaus Barnes&Noble verkauft nach eigenen Angaben dreimal soviele digitale wie gedruckte Bücher; Amazon verkauft pro 100 Papierbücher 242 E-Books; der Geschäftsführer von Bertelsmann gibt zu bedenken, dass die Zukunft des Buches eng mit den Konsumgewohnheiten der Digital Natives verknüpft sei. Sie sollen schon jetzt 78% aller Nachrichten in digitaler Form lesen. Das Buch würde diesem Beispiel folgen. Dem papierenen Medium ist eine Generation abhanden gekommen.
Zwei beharrliche Grundirrtümer über Technik
Das mag so sein. Aber die Statistiken von heute sind morgen überholt, gerade auf dem kabbeligen Markt der elektronischen Medien. Ohnehin erscheint die Debatte um die Zukunft des Buchs viel zu stark geprägt von einem Technikverständnis, das auf zwei alten Grundirrtümern basiert, dem Determinismus und dem Eliminationismus. Der erste Irrtum: Neue Technologien, haben sie sich einmal etabliert, bestimmen unser Verhalten von Grund auf. Deutlich kommt dies im Titel eines vieldiskutierten Essays des amerikanischen Publizisten Nicholas Carr zum Ausdruck „Macht Google uns dumm?“ (2008). Er suggeriert eine Eigenmächtigkeit der Technik, die mit uns (heute: unseren Gehirnen) etwas „macht“, uns zu passiven Benutzern, wenn nicht sogar „Sklaven“ degradiert - ein gängiger Topos der Technophobie (man denke nur daran, wie wir von „dem“ Internet sprechen). Der zweite Irrtum: Neue Technologien verbessern und „überwinden“ alte, und damit verbessern sie auch den Menschen - ein gängiger Topos der Technophilie. Beide Topoi bilden eine Klammer um die endlose Diskussion über Vor- und Nachteile der jeweils neuesten Gadgets und Apps. Und sie lenken ab von einem wichtigeren Thema. Viel fruchtbarer erscheint es, das Papierbuch aus der Perspektive seiner vermeintlichen Überwundenheit zu betrachten.
The medium is material
Im ökonomisch verengten Blick unserer Zeit wird über das Buch vorzugsweise ein Diskurs der Profitabilität geführt. Man erörtert Geschäftsberichte, Marktprognosen, Trendanalysen, Aktienkurse, als ob es nicht um ein entscheidendes kulturelles, erzieherisches, anthropologisches Problem ginge. Dazu zähle ich die Frage, auf welche spezifische Weise der Nutzer mit dem jeweiligen Medium interagiert, in dem er liest. Und hier macht sich eine alte Binsenweisheit geltend: Lesen braucht Stoff, in der doppelten Bedeutung des Wortes. Lesen ist immer Lesen-im-materiellen-Medium. Nicht nur auf der Tontafel, der Schriftrolle, im Buch oder auf dem Bildschirm, sondern auch in einer Gebärde, in einem Gesicht, in der Borkenstruktur eines Baums, in der Wolkenbildung am Himmel, in den Sternen. Lesen heisst, der belebten und unbelebten Welt auf eine Weise begegnen, die nur Menschen kennen: hermeneutisch, d.h. interpretierend, Sinn gebend und suchend, über den Moment, das Gegebene hinausblickend. Und jedes Medium hat selbstverständlich seine eigene Hermeneutik.
Lesen ist eine Körpertechnik
In der Vielfalt unserer „Lektüren“ manifestiert sich der kunstvolle, kreative Gebrauch des Ur-Mediums: unseres Körpers. Lesen ist eine Körpertechnik, wie Sprechen, Singen, Tanzen, Gehen. Zweifellos erlaubt die Schrift eine Abstraktion vom Körperlich-Performativen des Gesprächs. Sie ersetzt in gewissem Sinn das Gespräch (wie sie es auch erweitert). Sie ist eine in ein künstliches Medium hinausverlagerte Rede. Sie gestattet zumal, unser Gedächtnis zu exkorporieren. Aber Lesen ist und bleibt eine Körpertechnik. Wie die Historiker Guglielmo Cavallo und Roger Chartier in ihrer Monografie Die Welt des Lesens bemerken: „(Es gibt) keinen Text ohne den Träger, der ihn der Lektüre (oder dem Gehör) zugänglich macht, und ohne die Umstände, unter denen er gelesen (oder gehört) wird. Autoren schreiben keine Bücher: Sie schreiben Texte, die zu geschriebenen – handgeschriebenen, gravierten, gedruckten und heute computerisierten – Objekten werden und von leibhaftigen Lesern, deren Leseweisen je nach Ort, Zeit und Kontext wechseln, unterschiedlich gehandhabt werden.“
Genau dies sucht neuerdings ein norwegisches Forscherteam um Anne Mangen mit empirischem Vergleichsmaterial über analoge und digitale Medien zu untermauern. In einer kürzlich veröffentlichten Studie berichten Mangen et alia von einem Leseversuch mit 15-16-jährigen Schülern: Eine Gruppe liest einen Text von ca. 1500 Wörtern auf Papier, die andere als PDF auf dem Bildschirm. Das Textverständnis wird nach dem PISA-Leseverständnistest online geprüft. Die Papier-Gruppe schnitt besser ab. Aufschlussreich an diesem Resultat sind die Erklärungsversuche für die Differenz.
Räumliche Orientierung im Text
Drei Aspekte verdienen in diesem Zusammenhang nähere Beachtung, weil sie viel damit zu tun haben, wie wir uns körperlich auf Texte einlassen. So hängt erstens das Verstehen eines Textes damit zusammen, dass wir uns in ihm räumlich orientieren können. „Leser unter Papierbedingungen haben unmittelbaren Zugang zum Text in seiner Ganzheit. Dieser Zugang baut überdies auf visuelle wie taktile Fingerzeige: der Leser kann die Ausdehnung und die physische Dimension sowohl sehen als auch fühlen (..) Leser unter Bildschirmbedingung sind dagegen darauf beschränkt, immer nur eine Textseite zu sehen.“ Vielleicht ist es gar nicht so abwegig, das Lesen mit dem Wandern im Gelände in Analogie zu setzen. Ich navigiere besser durch das Terrain, wenn ich mich an räumlichen Fixpunkten orientieren kann: diese Tanne markiert Westen; der Weg führt links am Berghang vorbei usw. Der gedruckte Text ist in diesem Sinn Terrain des Lesens, in dem man sich orientieren kann. Man „scrollt“ im Wandern ja auch nicht einfach die Landschaft herunter. Wie Mangen et alia schreiben, „(behindert) das Scrollen den Leseprozess, indem es eine räumliche Instabilität einführt; diese wiederum kann das mentale Bild des Textes negativ beeinflussen und damit auch dessen Verständnis.“
Selbst-Monitoring und visuelle Ergonomie
Ein zweites Hindernis liegt in der „Meta-Kognition“, betrifft also die Fähigkeit, seine eigenen Leseaktivitäten im Auge zu behalten: zu „monitorisieren“. Hier spielt der Faktor Zeit die Hauptrolle. Das Monitoring erfolgt beim Lesen auf dem Papier genauer als auf dem Bildschirm nicht zuletzt deshalb, weil man sich für das Erstere in der Regel mehr Zeit nimmt. Ein andere Studie kommt zum Schluss, dass die Bildschirmpräsentation von Informationen als schnellen, oberflächlichen Botschaften zur Reduktion von kognitiven Ressourcen führen könne, welche notwendig für eine wirkungsvolle Selbst-Regulierung sind.
Die Differenz des Leseverständnisses könnte drittens mit der „visuellen Ergonomie“ zusammenhängen, mit dem Unterschied der Beleuchtungsverhältnisse. Flüssigkristallschirme (LCD) verursachen visuelle Ermattungserscheinungen, ein Effekt, den man auf das von Displays emittierte Licht zurückführt. Als leserfreundlicher erweisen sich E-Books mit elektronischer Tinte, die Licht reflektieren; also eigentlich Papierbedingungen simulieren. Studien weisen darauf hin, dass bestimmte Merkmale des LCD-Schirms – Kontrast, Auflösung, schwankende Lichtintensität – potenziell das Langzeitgedächtnis beeinträchtigen können.
Der Text ist ein Körper
Wir haben es hier mit den Anfängen eines neuen Untersuchungsfeldes zu tun; mit Hypothesen, die noch konkreterer Ausformulierung bedürfen; mit Korrelationen, nicht mit ursächlichen Zusammenhängen. Der Test des Leseverständnisses bedarf wohl elaborierterer Kriterien als blosser Multiple-Choice-Prüfungen. Techno-Optimisten werden darauf hinweisen, dass alle aktuellen Weiterungen binnen kurzem von einer verbesserten Technologie überwunden würden. Und die Neurowissenschaft wird ebenfalls ihr Wort mitreden. Nicht zuletzt hört man den grundsätzlichen Einwand, dass ja möglicherweise die nächsten Generationen sich an die neuen Lesebedingungen gewöhnt haben werden.
Trotzdem erscheint der Ansatz fruchtbar, er eröffnet den Horizont einer – wie man sie nennen könnte - materiellen Komparatistik der Medien. Ein Text ist nie bloss eine Ansammlung von Wörtern oder Zeichen, er ist ein Körper, mit dem wir physisch auf vielfältige Weise interagieren. Wir müssen den Menschen in den Fokus rücken. Papier und Pixel repräsentieren verschiedene Aufmerksamkeitsarten auf den Text. Und in diesen Aufmerksamkeitsarten manifestiert sich die Vielfalt unseres Weltbezugs. Wenn man Lesen als körperliche Aktivität betrachtet, erscheint die Diskussion um die Zukunft des Buches – ob digital oder analog - ziemlich müssig. Das Buch ist eine Technologie wie jede andere auch, und jede Technologie ist in einem spezifischen Sinn eine Erweiterung unseres Körpers. Eine Abschaffung des Buches käme somit einer – bewussten, absichtlichen - Amputation gleich.