Präsident Macron, seine neu getaufte Partei «Renaissance» und seine Partner der Zentrumspartei fürchten an diesem Wahlsonntag um die Mehrheit in der Pariser Nationalversammlung. Und die Nervosität ist allgegenwärtig.
Es war wahrlich keine gute Woche zwischen diesen zwei Durchgängen der Parlamentswahlen für Emmanuel Macron und die Kandidaten seiner Partei, die dem wiedergewählten Präsidenten erneut zu einer Mehrheit im Parlament verhelfen sollen.
Je länger die Woche dauerte, desto mehr verfestigte sich der Eindruck, dass Macron am heutigen Sonntag für die kommende Legislaturperiode nur eine relative und keine absolute Mehrheit von Abgeordneten hinter sich haben wird.
Nichts mehr ist zu spüren von einer Welle, wie sie vor fünf Jahren nach Macrons Sieg bei den Präsidentschaftswahlen, auch bei den anschliessenden Wahlen für das Abgeordnetenhaus, durch Frankreich schwappte.
Weitgehend unbekannte und lokal nicht verwurzelte Macron-Kandidaten fegten damals reihenweise alteingesessene Abgeordnete aus dem Parlament, nur weil sie angeblich so etwas wie das Neue verkörperten.
Doch seitdem ist Ernüchterung eingekehrt. Macrons berühmtes «Sowohl-rechts-als-auch-links» hat Schiffbruch erlitten, der Newcomer von 2017, der sich selbst als Jupiter bezeichnete, war schon nach kürzester Zeit ganz eindeutig zum Präsidenten der Reichen und der Finanzwelt abgestempelt und die einst von ihm versprochene «Neue Welt» sieht nach fünf Jahren der Machtausübung ziemlich alt aus oder hat schon seit Jahren die Züge der üblichen «Alten Welt».
Macron, der fünf komplizierte Jahre hinter sich hat, ist am 24. April 2022 in der Stichwahl als Präsident nur wiedergewählt worden, weil es in Frankreich noch genügend Bürger gibt, die die extreme Rechte und Marine Le Pen auf jeden Fall verhindern wollten – und nicht weil über die Hälfte der Franzosen Macrons Politik der vergangenen fünf Jahre besonders geschätzt hätten.
Was man in Frankreich seit Jahrzehnten als «republikanische Front» bezeichnet, hat im April noch einmal funktioniert, auch wenn Macron in der Stichwahl im Vergleich zu 2017 8% einbüsste und nur noch 58% der Wählerstimmen auf sich vereinen konnte. Wieder einmal hatten auch diesmal, wie so häufig auf Grund des Wahlsystems, Millionen Franzosen gegen jemanden und nicht für jemanden votiert.
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Dies wäre die Zahl von Abgeordneten, die Macron zumindest eine Stimme Mehrheit in der Nationalversammlung bescheren würde.
Die Meinungsumfragen prognostizieren zwischen 260 und 310. Was heisst: Es könnte ziemlich eng werden für Frankreichs Präsidenten und seine Regierung. Um eine Mehrheit zu finden, müssten sie sich im Zweifelsfalle mit den verbliebenen Abgeordneten der einst staatstragenden konservativen Partei von Chirac und Sarkozy, «Les Républicains», arrangieren, die gerade noch 50 bis 60 Volksvertreter ins Parlament bringen dürfte. Eine reichlich mühsame Perspektive.
Jean-Luc Mélenchon, der Linksaussen und alte Haudegen, der seit fast einem halben Jahrhundert Berufspolitiker ist, hat Präsident Macron die Suppe jedenfalls gründlich versalzen.
Auch wenn man davon ausgehen darf, dass dieses hastig zusammengezimmerte Wahlbündnis aus Mélenchons Partei LFI («Das unbeugsame Frankreich») den Grünen, Kommunisten und den fast ganz verschwundenen Sozialisten nicht lange halten wird, weil viele inhaltliche Differenzen einfach zu gross sind, so ist dieses Wahlbündnis NUPES («Nouvelle Union Populaire Economique et Sociale») für den Moment zumindest ein genialer Streich und hat auf der schon totgesagten Linken zweifelsohne eine echte Dynamik ausgelöst.
Panik
Und es ist, als würde Macron und seinen Mitstreitern kaum etwas einfallen, um dagegenzuhalten.
Gleich mehrere Kandidaten aus dem Lager des Präsidenten scheuten sich nicht, das linke Wahlbündnis mit der extremen Rechten gleichzusetzen und suggerierten, dessen Kandidaten stünden ausserhalb der republikanischen Normen.
Die neu ernannte Umweltministerin, Amélie de Montchalin, die – warum auch immer – ebenfalls für einen Abgeordnetensitz kandidiert und sehr wahrscheinlich nicht gewinnen und damit ihr Ministeramt gleich wieder verlieren wird: sie verstieg sich gar dazu, das linke Wahlbündnis als eine Ansammlung von Anarchisten zu bezeichnen.
Und die ehemalige Sportministerin, Roxana Maracineanu, rief in ihrem Wahlkreis dazu auf, eine republikanische Front gegen die Linke zu bilden. Ihre Gegnerin in der Stichwahl ist eine von vielen, eher untypischen Kandidaten und Kandidatinnen, die dieses Linksbündnis nominiert hat: Rachel Kéké, die Anführerin eines monatelangen und erfolgreichen Streiks des Reinigungspersonals in einer Hotelkette, und sie hat gute Chancen zu gewinnen.
Macron auf dem Flugfeld
Und sogar der Präsident höchstselbst schlug fast gleiche Töne an, wie die eine oder der andere seiner Parteigenossen.
Kurz vor seiner Reise nach Rumänien, der Moldau und schliesslich der Visite in Kiew stand der Präsident auf dem Rollfeld in Orly vor seiner Präsidentenmaschine und tat, was ihm offensichtlich seine Kommunikationsstrategen in letzter Minute eingeflüstert hatten: Mit einem Zettel in der Hand – was man bei Macron in fünf Jahren Amtszeit nie gesehen hatte – versuchte er noch schnell den Eindruck zu erwecken, er sei durchaus im Wahlkampf engagiert und sprach die Worte: «An diesem Sonntag darf der Republik keine einzige Stimme fehlen.»
Anders herum, so muss man das wohl interpretieren: Stimmen für das Linksbündnis sind Stimmen gegen die Republik. Das klang dann doch sehr nach allgemeiner, grosser Verunsicherung.
Republikanische Front?
In 61 Wahlkreisen kommt es an diesem Sonntag zu einem Duell zwischen einem Kandidaten des rechtsextremen «Rassemblement National» und des Linksbündnisses NUPES.
Und auch hier ertönte im Macron-Lager die grosse Kakophonie. Die ausgeschiedenen Kandidaten der Präsidentenpartei zierten sich reihenweise, für die Stichwahl eine klare Empfehlung an ihre Wähler abzugeben, will heissen: Stimmt gegen die Kandidaten der extremen Rechten, also für die des Linksbündnisses. Eher rar machten sich die Macron-Vertreter, die den einfachen Satz wieder aufnahmen, den Jean-Luc Mélenchon vor der Stichwahl um das Präsidentschaftsamt geprägt und mehrmals wiederholt hatte: «Keine einzige Stimme für die extreme Rechte.»
Ein Lavieren, das ein ziemlich deutlicher Ausdruck der allgemeinen Verunsicherung unter den Parteigängern von Präsident Macron ist.
Nicht zu vergessen
Dabei ist bei dem ausgelösten Trubel um das Linksbündnis und Macrons Sorgen, eine parlamentarische Mehrheit zu bekommen, fast in Vergessenheit geraten, dass die Kandidaten von Marine Le Pens «Rassemblement National» im ersten Wahlgang ein historisch gutes Ergebnis erzielt hatten. Auf Grund des Wahlsystems wird sich die extreme Rechte am Ende jedoch mit etwa 30 Abgeordneten begnügen müssen, hätte aber Fraktionsstatus, was bislang, mit nur 7 Vertretern unter 577, nicht der Fall war.