Ziel des mit mindestens 20 Millionen Dollar dotierten Gremiums ist nichts weniger als die Neuerfindung der Politik in Amerikas grösstem Staat.
Kalifornien ist Amerikas Amerika, Endstation Sehnsucht, wo all jene aussteigen, die den amerikanischen Traum verfolgen, bis er am Ufer des Pazifiks endet. Es heisst, Kalifornien, der wohlhabendste und bevökerungsreichste Staat der Nation, verkörpere die Zukunft. „Kalifornien“, schrieb das Magazin „Time“ bereits 1991, „ist Amerikas heller, kulturell seltsamer Ableger: Was immer heute in Kalifornien geschieht, wird morgen in Amerika passieren und etwas später auf der ganzen Welt. Wer wissen will, ob Amerika funktioniert, muss fragen, ob Kalifornien immer noch funktioniert.“
Vor zwei Jahren ist „Time“ zum Schluss gekommen, dass Kalifornien, obwohl wiederholt tot gesagt, nach wie vor ein Traumstaat sei. „Dieser Pionier und Megastaat, der uns Mikrochips, Freeways, Bluejeans, Steuerevolten, Extremsportarten, Energieffizienz, Fitnessclubs, Google-Suchen, Craigslist, iPhones und Hollywoods Vison von Erfolg gegeben hat, ist noch immer an der vordersten Front der amerikanischen Zukunft – wirtschaftlich, vom Umweltschutz her, demografisch, kulturell und vielleicht auch politisch.“ Wäre Kalifornien mit seinen 38 Millionen Einwohnern ein Land, es wäre Mitglied der G-8. Sein Staatsmotto: „Heureka“ – Ich hab’s gefunden.
Amerikas erster "failed state"?
Doch auch der kalifornische Traum hat seine Kehrseite: Staus, Smog, illegale Einwanderung, überfüllte Schulen, wuchernde Städte, hohe Verbrechensraten, zerstörte Landschaften, verschmutzte Strände, Wassernot, Buschbrände, Erdbebengefahr – und ein politisches System, das in höchstem Masse dysfunktional ist. „Kalifornien funktioniert nicht, weil es nicht funktionieren kann“, schliessen die beiden Autoren Joe Mathews und Mark Paul in ihrem Buch „California Crack Up“. Sie beschreiben ein politisches System, das auf dem Papier zwar demokratisch ist wie kaum ein zweites in Amerika und wie die Schweiz Initiativen und Referenden kennt, in Wirklichkeit aber zu einer unregierbaren Karikatur seiner selbst verkommen ist, mit Volksvertretern, die sich gegenseitig lähmen, und einer riesigen Schuldenlast. Einige Kommentatoren nennen Kalifornien sogar Amerikas ersten „failed state“. Mehrere Versuche, das schlingernde Staatsschiff wieder auf Kurs zu bringen, sind in der Vergangenheit am Widerstand der Partikularinteressen gescheitert.
Auftritt Nicolas Berggruen, der sich selbst nicht als Politiker versteht, aber sich seit seiner Jugend in Frankreich für Geschichte interessiert. Der 49-Jährige will einer Gruppe von prominenten Kaliforniern mindestens 20 Millionen Dollar spenden, um nach Mitteln und Wegen zu suchen, wie Kaliforniens Politik gesunden, wie sie wieder kompetent, flexibel und effizient werden könnte. Dem überparteilichen Gremium gehören Persönlichkeiten wie Ex- Aussenministerin Condoleezza Rice, Ex-Gouverneur Gray Davis, Laura Tyson, Ex-Wirtschaftsberaterin von Bill Clinton, Google-CEO Eric Schmidt oder der Baulöwe und Philantrop Eli Broad aus Los Angeles an.
Gute Ideen in der realen Welt
Der Deutsch-Amerikaner Berrgruen, der als Investor dieses Jahr die Kaufhauskette Karstatt vor dem Konkurs gerettet hat, sagt in einem Interview mit der „Los Angeles Times“, Kalifornien brauche vor allem längerfristige Perspektiven: „Wir müssen in erster Linie Massnahmen ergreifen, die zwar kurzfristig nicht populär sein mögen, längerfristig aber wirklich hilfreich sein könnten und die eine Verwaltung umsetzt, die wettbewerbstauglich ist und Leistung belohnt.“
Nicolas Berggruen sieht sein ambitiöses Unterfangen nicht als einen klassischen Think Tank, der in erster Linie forscht und Studien publiziert. „Wir wollen beides: gute Ideen generieren und sie in der wirklichen Welt realisieren“, hat er jüngst einer Interviewerin der FAZ anvertraut. Indes finanziert der Inestor, dessen Vermögen das US-Wirtschaftsmagazin „Forbes“ auf 2,2 Milliarden Dollar schätzt, bereits eine Denkfabrik in New York.: das Nicolas Berggruen Institute. Ihn interessieren Veränderungen in der Regierungsstruktur. „Wohltätigkeit ist natürlich etwas Wunderbares“, sagt er in der FAZ, „aber nicht unbedingt ein Hebel, der viel bewirkt.“
Dabei ist der „Golden State“ für Nicolas Berggruen erst der Anfang. In Kalifornien muss ihm zufolge beginnen, was leuchten soll in der Nation und dereinst vielleicht in der ganzen Welt: „Kalifornien ist die achtwichtigste Wirtschaft der Welt und hat grossen Einfluss auf Amerika, guten und schlechten. Ich würde sagen, dass Amerika im Ganzen heute ziemlich schlecht funktioniert.“ Die Rezepte, glaubt er, die eine Heilung des Staates beschleunigen können, seien bereits gesammelt: “Einige sind kurzfristig und betreffen das Budget, Steuern und dergleichen. Andere sind langfristig und sehr strukturell: Amtszeitbeschränkungen, Sparpläne, ein unpolitischer Senat, neue Wahlgesetze und Prozesse.“ Eine erste Reform ist bereits auf dem Weg: die Schaffung eines Fonds für wirtschaftlich schwierige Zeiten.
Kein Platz an der Aussenlinie
Eines von Berggruens Hauptzielen ist die Förderung des gesunden Menschenverstandes, den die Amerikaner so oft vermissen lassen. Wie heisst es so unschön? „Common sense isn’t.“ Eine in der Verfassung verankerte Kontrolle der Staatsausgaben, ein Ende der ständig wachsenden Kosten für pensionierte Staatsbeamte, mehr Kompetenzen für lokale Exekutiven und eine bessere Kontrolle der Umsetzung von staatlichen Programmen sollen dabei helfen.
Für Ex-Gouverneur Gray Davies, der 2003 nach seinem per Initiative erzwungenen frühzeitigen Abgang von Arnold Schwarzenegger ersetzt wurde, ist Berggruens Projekt „unter Umständen Spiel entscheidend“. „Wenn wir aus Kalifornien einen wirklich lebenswerteren Lebens- und Wirtschaftsraum machen wollen, dann müssen wir eine Menge Dinge anpacken“, sagt das Kommissionsmitglied in der der „Los Angeles Times“: „Diese Gruppe sagt: ‚Wir begnügen uns nicht mit einem Platz an der Aussenlinie.’“
Glitzerndes Ding der Einbildung
An einem geeigneten Ansprechpartner sollte es Berggruens prominentem Gremium nicht mangeln. Bei den Wahlen Anfang November ist der 72-jährige Jerry Brown zum Gouverneur gewählt worden, ein Politiker, der bereits früher zwei Amtszeiten lang in Sacramento regiert hatte und später, nach seiner Selbstfindung, Bürgermeister von Oakland wurde. Brown, dessen eigenwillige Persönlichkeit ihm einst den Übernamen „Governor Moonbeam“ eintrug, gilt als hochtalentierter Exzentriker. Seit er aber mit der früheren Chefjuristin der Kleiderkette „GAP“ verheiratet ist, soll Brown normaler und zugänglicher geworden sein. Anne Gust beschreibt ihren Mann als „aggressiv wissensdurstig“ – keine schlechte Voraussetzung, wenn es darum geht, Kaliforniens Probleme zu lösen.
Andere US-Staaten hätten ihre Identität, diagnostizierte „Time“ 1991, Kalifornien aber habe eine Metaphysik: „Amerikaner sprechen nicht vom Pennsylvania Dream oder vom Missouri Dream. Kalifornien ist immer ein unfassbares, glitzerndes Ding der Einbildung gewesen, die goldene Ausnahme, der kalifornische Traum.“ Der Staat, so das Nachrichtenmagazin, habe etwas Schwebendes, sei ein gelobtes Land, nicht in Tradition oder Schuld verankert: „Ein neuer Start: keine Leichen im Keller, keine Tragödien. Die Schwerkraft fühlt sich in Kalifornien anders an - das Leben dort hat mitunter die Schwerelosigkeit eines Traums. Was an der Ostküste moralisch bedenklich erscheinen mag, löst sich unter der warmen Sonne vor der Küste Montereys unter Umständen in Belanglosigkeit auf.“ Nicolas Berggruen ist gewarnt.