Tripolis ist bisher von den Kämpfen der Milizen eher verschont geblieben. Die Regierung hat einige der wichtigsten Milizen in ihren Dienst genommen und die Milizionäre mit Geld geködert. Folge war, dass die Milizen zwar auch in der Hauptstadt Waffen einsetzen, um ihre politischen Ziele zu erreichen und an Geld heranzukommen. Sie begnügten sich jedoch meist damit, in die Luft zu schiessen und unter der Bevölkerung, aber auch unter den Parlamentariern, Angst zu verbreiten.
Unbewaffnete Demonstranten als Opfer
Doch jetzt starben Menschen. Am vergangenen Freitag wurden 42 Tote und 450 Verwundete gezählt. Eine Brigade der Misrata Miliz hatte auf unbewaffnete Demonstranten das Feuer eröffnet. Die Manifestanten hatten gegen die Milizen demonstriert, und zwar auf Anordnung des Bürgermeisters ihrer Stadt, der den Titel eines Präsidenten der Stadtkommission trägt. Verschiedene Prediger hatten in der Freitagspredigt das Vorhaben unterstützt. Der Bürgermeister war persönlich bei der Demonstration anwesend. Anlass war
ein Zusammenstoss vom 7. November gewesen, an dem zwei Bürger von Tripolis ihr Leben verloren hatten.
Die Demonstranten trugen Plakate mit der Aufschrift: "Wir fordern eine Armee und eine Polizei". Sie riefen: "Libyen, Libyen" und verlangten den Abzug der Misrata Brigade.
Heldenhaftes Misrata
Die Demonstranten wandten sich einerseits gegen die Milizen aus der zweihundert Kilometer entfernten Hafenstadt Misrata, die sie als „fremde Waffenträger“ bezeichnen. Anderseits wollen die Manifestanten Sicherheit, Ruhe und Ordnung. Sie betrachten die Milizen mit gutem Grund als ein störendes Element, das nur Unruhe stiftet. Manchen der Milizen werden Morde und Folter vorgeworfen. Immer wieder würden Menschen entführt, erpresst und in Gefängnisse der Milizen geworfen.
Misrata war die einzige Stadt in Tripolitanien, die der Armee
Ghadhafis erfolgreichen Widerstand leistete. Die Hafenstadt östlich von Tripolis bezahlte einen hohen Preis dafür. Die Truppen Ghadhafis waren einmal bis ins Zentrum vorgedrungen und wurden blutig zurückgeschlagen. Die Strassenkämpfe verunmöglichten es den alliierten Flugzeugen, in die Kämpfe einzugreifen, da sonst Zivilisten gefährdet worden wären. Die Stadt war gezwungen, ihre eigene Miliz auszubilden und aufzustellen. Als schliesslich die Truppen Ghadhafis weichen mussten, waren sie zu einer gut organisierten und kampffähigen Kraft mit erprobten Anführern geworden. Eine Truppe aus Misrata half dann entscheidend mit, Tripolis zu befreien, als die Hauptstadt sich am Ende des Krieges gegen Ghadhafi erhob. Gleichzeitig traf auch Hilfe aus dem Westen ein.
Ein Arm Misratas in Tripolis
Die Brigade aus Misrata übernahm die Vorstadt Gharghour, in der die Offiziere und Truppen Ghadhafis vor ihrer Flucht gelebt hatten, und sie liess sich dort dauerhaft nieder. In Ihrer Heimat, Misrata, wurde ein Stadtregiment gegründet. Man huldigte der Opfer, die man für die Befreiung des Landes erbracht hatte – und begann, Forderungen an die Regierung zu stellen. Wegen ihrer revolutionären Leistungen betrachteten sich die Milizen als berechtigt, im Land eine Vorzugsstellung zu erhalten.
In Misrata wurde ein gewaltiges Arsenal angelegt. Es besteht zum grossen Teil aus Waffen, die aus Ghadhafis Beständen geplündert wurden. Auch Katar hatte den Milizen in Misrata Waffen geliefert. Mit den Jahren wurde die Brigade
von Misrata, die in Tripolis zurückblieb, zu einem verlängerten Arm der östlichen Hafenstadt in der Hauptstadt. Sie diente dazu, den Politikern von Tripolis die Wünsche und Anliegen der "Stadtrepublik von Misrata" nahe zu legen.
Keine Reue bei der Miliz
Nach der tödlichen Schiesserei vom vergangenen Freitag erklärte der Kommandant der Misrata Brigade, ein gewisser Taher Basha Agha, es seien die Demonstranten gewesen, die zuerst geschossen hätten. Sie hätten "leichte Waffen" mit sich getragen. Er sprach auch den bezeichnenden Satz aus: "Die Leute von Tripolis haben überhaupt keinen Krieg gesehen. Aber nun werden sie lernen, was ein Krieg ist". Er weigerte sich, mit seiner Brigade die Stadt zu verlassen.
Nach den Aussagen aller anderer Beteiligten und Beobachter waren die Demonstranten unbewaffnet. Als die ersten Todesopfer zu beklagen waren, wichen die Zivilisten zurück. Doch dann griffen "andere Milizen" ein und begannen, die Misrata Miliz zu belagern. Teile ihrer Wohnungen und Kasernen wurden verbrannt.
Die Misrata-Kämpfer erzielten Verstärkung aus Misrata. Als den Tripolitaniern bewusst wurde, dass mehr Truppen aus Misrata eintrafen, versuchten sie die Zufahrtstrasse in ihre Stadt zu sperren. Sie errichteten Barrikaden in der Vorstadt Tajoura, die als die östliche Pforte zu Tripolis gilt. Dort kam es dann Freitagabend zu weiteren Zusammenstössen zwischen den Bewaffneten aus Misrata und lokalen Milizen von Tripolis. Am Samstag kam es erneut zu Gewalttätigkeiten.
300 Milizen in Tripolis
Die Ereignisse waren ziemlich unübersichtlich. Man rechnet damit, dass es alleine im Raum von Tripolis gegen 300 verschiedene Milizen gibt, jede mit ihrem eigenen Kommandanten, manche "verbündet" und daher bezahlt von der Regierung, andere nicht, aber alle in erster Linie loyal zu ihren eigenen Anführern. So kam es, dass Ministerpräsident Ali Zeidan in einer ersten Stellungnahme beide Seiten
tadelte, die Demonstranten und die Milizen. Er erklärte, die
Demonstranten hätten die Misrata Brigade in Gharghour provoziert. Doch in einer zweiten Erklärung korrigierte er sich und sagte, die Demonstranten seien unbewaffnet gewesen, und die Misrata Brigade habe mit schweren Waffen das Feuer eröffnet. Diese zweite Version scheint zuzutreffen.
Ende der Bezahlung von Milizionären?
Der Regierungschef sagte auch, alle fremden Milizen sollten Tripolis sofort verlassen und keine neuen Milizen dürften die Hauptstadt betreten. Bei früheren Gelegenheiten hatte er bereits angekündigt, ab Dezember werde der Staat keine Gelder mehr an die Milizen bezahlen. Er übernehme nur noch die Finanzierung seiner eigenen Armee und Polizei.
Wenn sie Geld wollten, sollten die Milizionäre in die offiziellen
Sicherheitstruppen eintreten. Doch ob er dieses Vorhaben verwirklichen kann, ist ungewiss.
Manche der Milizen sind bereits dazu übergegangen, sich "direkt" zu finanzieren, indem sie Erdölhäfen oder Erdölproduktionsstätten besetzen und den Staat dadurch zu erpressen versuchen. Offenbar meist mit Erfolg. Der Staat soll durch solche Blockaden bisher gegen 6 Milliarden Dollar an Erdöleinnahmen eingebüsst haben. Ali Zeidan sagte
auch, der Staat habe noch Geld. Er könne zunächst seine Angestellten weiter bezahlen. Doch wie lange noch, weiss er wohl selbst nicht, weil dies davon abhängt, wie lange die Blockaden aufrecht erhalten werden.
Hin und Her in Mellitah
Die Ereingisse auf dem grossen Ladekomplex von Mellitah, westlich von Tripolis, zeigen, wie wenig voraussehbar solche Aktionen ablaufen können. Die Berbermilizen von Zwara hatten den Erdöl- und Erdgashafen von Mellitah vor guten zwei Wochen besetzt. Sie forderten mehr Rechte für die Berber in der kommenden Verfassung Libyens. Sie liessen
zunächst das Erdgas, das von Mellitah über eine Unterseeleitung nach Italien eingespeist wird, weiterfliessen. Sie erlaubten sogar, einigen Tankern weiter Erdöl zu laden. So konnte eine Stilllegung der Erdölpipelinses aus dem südlichen Hinterland vermieden werden. Eine Schliessung wäre unvermeidlich geworden, sobald in Mellitah alle Speicher gefüllt waren.
Doch am 11. November beschlossen die Arbeiter des Ölhafen- und Erdgaskomplexes, ihre Arbeit niederzulegen, weil sie unter dem Druck der bewaffneten Berber nicht weiterarbeiten wollten oder konnten. Daraufhin musste der ganze Komplex stillgelegt werden. Es ist einer der wichtigsten in Tripolitanien. Als die Berber in Mellitah vom blutigen Zwischenfall in Tripolis hörten, waren sie derart eingeschüchtert und beschlossen, ihren Streik abzubrechen und zogen aus dem Erdölkomplex ab. Die Regierung hofft natürlich, ihn nun baldmöglichst wieder voll in Betrieb zu nehmen.
Die Regierung muss auch damit rechnen, dass ausländische Erdölfirmen ihre Techniker abziehen, wenn die Verhältnisse rund um die libyschen Erdölquellen allzu gefährlich werden. In einigen Fällen sind offenbar bereits Spezialisten abgezogen worden.
Vor entscheidenden Tagen
Ali Zeidan hat zweifellos recht, wenn er erklärt, Libyen stehe nun in der kritischen Phase. Entweder müssten die Milizen gebändigt werden, oder das Land treibe rasch ins Verderben. Doch wie diese Bändigung vor sich gehen soll – dazu äusserte er sich nicht. Es wird nicht einfach sein, denn die Milizen sind im Vergleich zu den wenigen Regierungstruppen militärisch weit überlegen und gut bewaffnet.