Wie zu erwarten war, haben die ersten Besetzungen von Erdölladehäfen durch bewaffnete Milizen dazu geführt, dass viele Milizen den Schritt getan haben, Erdölhäfen oder Erdölquellen zu besetzen, um ihre politischen oder rein finanziellen Forderungen wirksam zu unterstreichen. Sie setzen damit die Regierung im letzen Bereich unter Druck, in dem sie bisher über Machtmittel verfügte, in jenem der staatlichen Finanzen. Libyen lebt so gut ausschliesslich von seinem Erdöleinkommen, und bisher war die Regierung in der Lage gewesen, diese Mittel zu verteilen. Doch dies droht nun zu Ende zu gehen.
Ölquellen und Ölhäfen
Es gibt zwei Ansatzpunkte für die Bewaffneten, um die Erdölströme zu unterbrechen, die Produktionsstätten, an denen der Ausfluss verschiedener Bohrungen zusammengefasst und in Rohrleitungen eingespeist wird. Diese Produktionszentren liegen tief in der Wüste, weit südlich von der Cyrenaika und von der tripolitanischen Küste.
Den zweiten Ansatzpunkt liefern die Erdöl-Verladehäfen an der Küste. Diese sind insofern leichter unter Druck zu setzen, als an der Küste und in ihrer Nähe die Bevölkerungszentren liegen, in denen sich auch die bewaffneten Milizen normalerweise aufhalten. Dort können sie leichter grössere Massen von ihren Anhängern konzentrieren als in den fernen Wüstengebieten, wo der Transport von Menschen, Waffen und Nachschub auf Flugzeuge, Helikopter und auf Lastwagen angewiesen ist, die über lange, verwundbare Strecken fahren.
Aus diesem Grund sind es zunächst die Erdöl-Verladehäfen, die unter Besetzung gelangen. Doch die Wüstenbewohner lernen schnell, dass auch sie Druckmittel besitzen, indem sie gegen die Produktionszentren vorgehen.
Der Besetzer von Brega
Illustrativ ist der Fall von Ibrahim al-Jathran, der gegenwärtig mit «seiner» Miliz den Erdölhafen von Brega und andere Verladestationen in der Umgegend von Ajdabiya sperrt. Was die Regierung bisher über 5 Mia. Dollar an verlorenen Exporten gekostet hat.
Al-Jathran ist von Ajdabiya und hatte eine Miliz angeführt, die er Hamza Brigade nannte. Er hatte zuvor sieben Jahre im Gefängnis von Abu Salim verbracht, einem der schlimmsten Kerker Ghaddafis. 2010 war er im Zuge einer Amnestie freigekommen. Als der Aufstand in Benghazi ausbrach (am 15. Februar 2011) soll sein Stamm, die Maghrerba von Ajdabiye, und seine engere Familie Waffen von Ghaddafi erhalten haben, weil dieser hoffte, sie würden für ihn gegen Benghasi kämpfen. Doch sie entschlossen sich, zu den Rebellen überzugehen und sich gegen Ghaddafi zu stellen.
Ajdabiya und die nahe gelegenen Erdölhäfen, westlich von Benghasi, waren schwer umkämpft. Sie haben 2011 mehrmals den Besetzer gewechselt. Nach dem Sturz des Diktators erhielt al-Jathran «zur Belohnung» das Kommando über die bewaffneten Erdöl Sicherheitswächter (Petrol Security Guards). Offenbar verblieben seine Kämpfer als Sicherheitswächter unter seinem Kommando, und offensichtlich handelt es sich primär um Stammesleute der Maghrerba.
Von Wächtern zu Besetzern
Im vergangenen Juli brachen al-Jathran und seine Kämpfer mit dem Staat – sie sagen «mit Tripolis» – und sie besetzten die Erdölhäfen rund um Ajdabiya. Der wichtigste ist Brega. Al- Jathran, der mit zwei Journalisten von Reuters sprach, erklärt, er wolle für die Autonomie der Cyrenaika kämpfen. Die korrupten Politiker von Tripolis «stehlen» das Erdölgeld, sagte er.
Gut 60 Prozent des libyschen Erdöls wird im Hinterland der Cyrenaika produziert. Die Bohrungen, hunderte von Kilometern von der Küste entfernt, liegen in weiten Wüstenstrichen, die administrativ zur Provinz Cyrenaika gehören.
Al-Jathran fordert, dass die historische Dreiteilung Libyens wieder eingeführt werde. Das Land ist aus den drei Provinzen und Bevölkerungszentren zusammengesetzt, die durch weite Wüstengebiete voneinander getrennt sind: Tripolitanien, Fezzan und die Cyrenaika. Dabei besteht eine Ungleicheit in Erdölbelangen dadurch, dass der Fezzan südlich von Tripolitanien liegt. Was bewirkt, das viel Erdöl in Westlibyen in den Wüsten produziert wird, die administrativ zu Fezzan gerechnet werden, aber durch Rohrleitungen an die tripolitanische Küste und die dortigen Ladehäfen fliesst.
Dies ist anders im Fall der Cyrenaika. Die Cyrenaika Provinz erstreckt sich nach Süden über ganz Libyen hinweg, bis an die Grenze von Tschad. Das Erdöl, das in der Wüste hinter Cyrenaika aus dem Boden quillt oder gepumpt wird und dann bis zur Küste derselben Provinz geleitet wird, ist «rein cyrenaikisches» Öl.
Mit anderen Worten, wenn es zur Autonomie der drei Landesteile käme, müssten sich Tripolitanien und der Fezzan in 40 Prozent des libyschen Erdöls teilen. Die Cyrenaika erhielte für sich alleine 60 Prozent.
Folgen der Autonomie
Schon aus diesem Grund ist Tripolis für ein «geeinigtes» Libyen, dessen Hauptstadt es bildet, während die Cyrenaika Autonomiepläne bevorzugt. Dazu kommt, dass das Ghaddafi-Regime den Stämmen und Stadtbewohnern der Cyrenaika nicht traute und jenen Landesteil bewusst vernachlässigte. Dies wiederum hat historische und sogar religiöse Hintergründe: Die von Ghaddafi abgesetzte Königsfamilie des Senussi-Hauses stammt aus der Cyrenaika. Sie ist verwurzelt in dem religiösen Mystikerorden der Senussiya. Gaddafi hat die Oase Maghjbub, das historische Zentrum des Ordens, tief in der cyrenaikischen Wüste, dem Erdboden gleich gemacht, weil er die Senoussi fürchtete. Sie hatten mehrmals versucht, sich gegen ihn zu erheben.
Al-Jathran droht, er werde im kommenden Monat versuchen, Erdöl von «seinen Häfen» aus direkt an Tanker zu verkaufen, die es zu kaufen bereit seien. Die libysche Regierung droht, sie werde Tanker, die «illegales Erdöl» kaufen oder transportieren aus der Luft bombardieren. Die Fachleute glauben, dass es al-Jathran schwer fallen wird, Abnehner zu finden. Er hat eine Kommission «ernannt», die im Namen «der Cyrenaika» die Verkäufe tätigen soll.
Die Macht von al-Jathran ist beschränkt. Nach seinen Aussagen kommaniert er 20’000 Bewaffnete, doch die Beobachter urteilen, dies sei zu hoch gegriffen. Es gibt zahlreiche andere Milizen in der Cyrenaika. Einige sind für Autonomie. Andere, die islamistisch orientierten von ihnen, haben nichts gegen Autonmie einzuwenden, doch sie sehen die Einführung der Sharia als ihr wichtigstes Ziel. Dabei handelt es sich immer in der Praxis um ihr eigenes Verständnis und ihre besondere Interpretation dieses «Gottesgesetzes».
Stämme und islamistische Ideologie
Die meisten der Milizen haben, wie jene von al-Jathran, einen Stammeshintergrund. Das heisst, sie sind primär aus Stammesleuten zusammengesetzt, die sich selbst als entfernte Verwandte ansehen, weil sie nach der Stammesmythologie von einem gemeinsamen Stammvater abstammen. Sie haben auch einen gemeinsamen Hintergrund in ihrem Territorium, ihren Gebräuchen und Gesetzen, ihrem eigenen Dialekt, ihrem Ehrenkodex usw. sowie in dem dichten Geflecht gegenseitiger Verschwägerungen.
Die sich auf «den Islam» berufenden Gruppen haben ihnen gegenüber den Vorteil, dass sie eine über die Stammesteilungen hinausgreifende Ideologie besitzen, gleich ob es sich dabei um eine den «echten Islam» entstellende oder eine mehr oder weniger mit diesem übereinstimmende Ideologie handelt. Sie haben aus diesem Grund ein viel weiter ausgedehntes Rekrutierungsgebiet.
Die konkurrierenden bewaffneten Gruppen tun al-Jathran ab. In ihren Augen ist er bloss ein Stammeschef, der «seinem Stamm mehr Gewicht zu verschaffen sucht».
Die Regierung bezahlt
Braga ist nicht der einzige gesperrte Erdöhafen. Soeben hat Ministerpräsident Ali Zeidan vom Flughafen aus den Verladehafen von Tobruk, Marsa Hariga, besucht und erklärt, er werde demnächst wieder geöffnet werden; die Regierung habe die Wünsche der ihn sperrenden Miliz erfüllt. In welcher Form sagte er nicht. Doch ist bekannt, dass die Regierung von Tripolis in ihrer Notlage versucht, die Milizchefs mit Geld abzuspeisen. Dies ist dem Ministerpräsidenten offenbar mehrmals gelungen, und er konnte dann die Wiedereröffnung von Ladehäfen in Tripolitanien verkünden.
Al-Jathran hat seinerseits den Journalisten der Agentur Reuter Checks gezeigt, die die Unterschrift eines «wichtigen Parlamentariers» aus Tripolis aufwiesen. Dieser, befragt, erklärte, es habe sich um «persönliche Bemühungen» gehandelt, die Probleme von Braga zu beheben. Al-Jathran sagte, er gehe nicht auf Geldzahlungen ein. Er bestehe auf seinen Autonomieforderungen für die Cyrenaika, als deren Vorkämpfer er sich sieht.
Viele potentielle Erpresser
Doch die unvermeidlichen Folgen der durch die Zahlungen erwiesenen Erpressbarkeit der Regierung sind natürlich, dass andere Milizformationen ebenfalls aktiv werden, um ihre Interessen zu fördern. Es ist schon soweit, dass kleinere Gruppen im Inneren des Landes zur Besetzung der Ölquellen schreiten. Sie haben natürlich auch Interessen. Eine Gruppe von Touareg «mit schweren Waffen» hat die Sharara-Ölfelder bei Obari im westlichen Fezzan besetzt. Das Feld wird von Akakus Oil betrieben, hinter welcher die spanische Repsol und die libysche Nationale Ölgesellschaft stehen. Die dortigen Wächter empfahlen die Schliessung der Anlagen aus Sicherheitsgründen.
Die Besetzer fordern libysche Identitätskarten und Identitätsummern für sich und ihre Landsleute. Die Regierung wollte die Touareg offenbar nicht als Libyer anerkennen. Auch hier gibt es Rückverbindung zu den Kämpfen gegen Ghaddafi. Er hatte Touareg als Söldner auf seiner Seite eingestellt, natürlich nicht notwendigerweise solche aus dem westlichen Fezzan. Es gibt einige im libyschem Wüstengebiet heimische Touareg. Die Besetzer gehören zu ihnen. Sie verlangen auch, dass ihre Sprache, eine Variante des Berberischen, als eine der Sprachen des Landes in der Verfassung erwähnt werde. Der Erdölminister Abddulbari al-Arusi musste hinfliegen, und er versprach, die Ölfelder würden binnen 24 Stunden wieder geöffnet. Welche Zugeständnisse er machte, sagte der Minister nicht.
Berber kamen zur See
Gleichzeitig haben 80 Berber, die offenbar von Zuwara, der Hafensatdt nah an der tunesischen Grenze, zur See kamen, den Öl- und Erdgashafen von Mellitah, zwischen Zuwara und Sabratha gelegen, gesperrt. Tanker können nicht mehr ausfahren. Die Rohrleitung, die von dort Erdgas nach Italien transportiert, sei noch in Betrieb, heisst es. Doch die Besetzer drohten, auch sie zu schliessen. Bewohner von Mellitah, Regierungsvertreter, Produktionsleiter von Mellitah und Stammesälteste versuchen alle mit den Besetzern zu verhandeln. Diese fordern mehr Sitze für die Berber in der Verfassungsversammlung in Tripolis. Diese besteht aus 60 Personen, von denen nur zwei Berber sind.
Zur gleichen Zeit wird gemeldet, eine Gruppe von Bewaffneten habe sich eines Geldtransports der libyschen Nationalbank bemächtigt, der von Flughafen der Stadt Sirte in die Stadt unterwegs war. Er habe nur über einen einzigen begleitenden Sicherheitswagen verfügt. Die Beute soll 54 Millionen betragen. Es gibt offenbar auch «Milizen», die auf den Umweg über die Erdölerpressung verzichten und direkt auf das Geld ausgehen.