„Ein Weiser, der seinen Garten pflegt und kaum etwas sagt, rühmt sich, die gesamte Lehre vom Handeln in zwei Kapiteln zusammengefasst zu haben. Jedes der beiden Kapitel besteht aus einem einzigen Wort.
Erstes Kapitel: Weitermachen.
Zweites Kapitel: Anfangen.
Die Reihenfolge, die einen erstaunen lässt, macht fast die ganze Idee aus. Nachdenken ist besser als Diskutieren!“
Weitermachen, um etwas zu verändern
Das erste der beiden Kapitel, das vom Weitermachen, schliesst mit dem zentralen Satz: „Weitermachen, das ist das einzige Mittel, etwas zu verändern.“ Vielleicht bringt dieser Satz alle Erfahrungen einer Bildungsarbeit auf den Punkt, vielleicht sogar die wichtigste Antriebskraft unseres menschlichen Daseins.
Den überraschenden Gedanken verfasst hat Alain. Wenn sich Nietzsche den Psychologen unter den Philosophen nannte, wenn Thomas von Aquin der Theologe unter ihnen war, so gilt der Franzose Émile-Auguste Chartier (1868–1951) als der Pädagoge unter den Denkern. Unter dem Pseudonym Alain schrieb er jeden Tag einen kurzen Zeitungstext, ein sogenanntes Propos. [1] Philosophie für ganz gewöhnliche Leserinnen und Leser.
Das „Wie“ liegt in unserer Hand
Noch einmal: „Weitermachen, das ist das einzige Mittel, etwas zu verändern.“ Weitermachen bedeutet: jeden Tag in neue Situationen geraten, nicht ausweichen, hindurchwollen, vor Entscheide gestellt sein und diesen „Zwang zur Freiheit“ – wie wir Bildung vielleicht umschreiben könnten – mit Humor tragen, dies im Bewusstsein: Das „Wie“ liegt in unserer Hand. [2] So wird jeder Tag ein neuer Tag. Und so können wir weitermachen, Tag für Tag, Woche für Woche – und immer wieder anfangen. Das freie Selbst ist nie fertig. Es bildet sich weiter. Ein Leben lang bleibt es unterwegs.
Im Aufbrechen liegt das Glück
„Paris ist nichts, Basel ist nichts, Unterwegssein ist alles.“ So sah es Arnold Kübler, Gründer des Kulturmagazins DU, im Buch „Paris – Bâle à pied“. Das Unterwegssein als Metapher fürs Leben, die Pilgerreise als Bild für den Homo Viator. Nicht im Ankommen liege das Glück, nein, im Aufbrechen, rubrizierte der kluge Kolumnist Kübler, im stetigen Vorwärtsziehen und Weitermachen.
Aber stimmt das? Nie fertig? Ein Leben lang Bildungsruine bleiben – sozusagen ein moderner Sisyphos? Oben ankommen wäre bequem. Doch was sollen wir denn dort oben machen? Uns hinlegen und ausruhen? Pablo Picassos nagende Angst vor dem Fertigen wäre wohl bald zu Gast – und damit die drei Heidegger’schen Gefahren: sicher sein, fertig sein, genau wissen.
Beherzt weitermachen und schwungvoll anfangen
Weitermachen, das ist das Mittel, etwas zu verändern. Und was bedeutet nun „anfangen“? Nochmals der Philosoph Alain: „Denken Sie darüber nach, dass das Denken keine Handlung ausführen kann, die nicht schon begonnen wäre.“ Und weiter sagt er: „… es ist ganz nutzlos, nachzudenken über das, was man tun will, solange man sich nicht ans Werk begeben hat.“
In diesem Sinne gibt es für den bevorstehenden Aufbruch ins neue Jahr nur eines: beherzt weitermachen und schwungvoll anfangen. Wieder ans Werk gehen und unbedingt am Werk bleiben. Tag für Tag, Woche für Woche. Nie fertig sein. Weitermachen! Und immer wieder anfangen.
[1] Alain, Sich beobachten heisst, sich verändern. Frankfurt am Main und Leipzig: Insel Verlag 2016; ders., Die Kunst, sich und andere zu erkennen. Fünfundfünzig Propos und ein Essai. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1991.
[2] Werner Hegglin, Neu werden. Unter welchen Bedingungen?, in: Jahresbericht Lehrerseminar St. Michael Zug 1995/96, S. 24-25.