Was gebaut wurde und wird, ist lediglich ein klitzekleiner Teil von dem, was in Skizzen, Modellen und Renderings vorliegt. Das Schweizerische Architekturmuseum Basel öffnet seine Räume den nicht realisierten Ideen. Eine erhellende Ausstellung ist entstanden.
«Was wäre, wenn», fragten sich die Organisatoren unter der Federführung von Andreas Kofler und begannen mit ihrer weiträumigen Suche nach Projekten, die aus irgendwelchen Gründen unvollendet blieben. Sie kontaktierten fast dreissig Institutionen in der Schweiz, die Architekturausstellungen veranstalten und/oder Plannachlässe hüten. Man bat um je einen Vorschlag eines nicht umgesetzten Projekts, das dennoch für den Diskurs unter Fachleuten wichtig war. Schliesslich sammelte das Museum 23 Beispiele, deren Unterlagen – Modelle, Skizzen, Zeitungsartikel, Arbeitsmaterial – auf einfachen Tischen ausgebreitet sind. Dabei teilte man die Fälle in vier Kategorien ein, die mit einer griffigen Formel versehen wurden: verloren, verneint, versackt, verändert.
Verloren
Dieses Stichwort bezieht sich auf die Wettbewerbe, bei denen halt nur einer gewinnen kann. Darüber zu spekulieren, ob das Siegesprojekt denn auch tatsächlich das beste ist, bleibt müssig. Es ist aber eine Binsenwahrheit, dass der Entscheidungsprozess von vielen Zufällen abhängig ist und dass es unter den nicht berücksichtigten Vorschlägen ebenso gute, wenn nicht sogar bessere gibt.
Im ersten Raum des Museums wird der 2013 gedrehte Dokumentarfilm «The Competition» abgespielt, der die Jurierung des Wettbewerbs für ein neues Nationales Kunstmuseum in Andorra zum Thema hat. Die Bühne gehört den ganz Grossen: Jean Nouvel, Zaha Hadid, Dominique Perrault, Frank Gehry, die ihre Projekte vorstellen und den Juroren Red und Antwort stehen. Insgesamt ein aufschlussreicher Blick auf eine Debatte, die sonst nur hinter verschlossenen Türen ausgetragen wird.
In der Ausstellung trifft man ganz zu Beginn auf die Quellen des wohl berühmtesten Wettbewerbs der Architekturgeschichte, nämlich für einen neuen Völkerbundpalast in Genf im Jahre 1927. Selbst nach 65 Sitzungen gelang es der neunköpfigen Jury nicht, unter den 377 Eingaben einen eindeutigen Gewinner zu küren, mit den bekannten Folgen. In der Schlacht zwischen den Traditionalisten und Modernen obsiegten die Ersteren, was den unterlegenen Le Corbusier zu einem persönlichen Kreuzzug anstachelte. Heute kann kaum jemand sagen, wie die Architekten des gebauten Palastes heissen, doch nicht nur Experten dürften das Projekt von Le Corbusier bestens kennen.
Verneint, versackt
Die Trennung zwischen den Projekten der Schubladen «verneint» und «versackt» ist unscharf. Grob gesagt fallen darunter angestrebte Neubauten, die entweder durch Abstimmungen verhindert oder die wegen finanzieller oder politischer Hürden aufgegeben wurden. Hier wird zu Recht auf die schweizerische Eigenart der Mitsprache durch das Volk hingewiesen, das mittels Initiative oder Referendum einzelne Vorhaben ablehnen beziehungsweise durch angenommene Gesetzesänderungen selbst fortgeschrittene Planungen blockieren kann.
Vorgestellt wird unter anderem die 1971 angedachte Waldstadt vor Zürichs Toren, die als 4,5 Kilometer langes Band aus bis zu 100 Meter hohen Einheiten Platz für 80‘000 Einwohner geboten hätte. Man kann heute wahrlich all denen dankbar sein, die ein Veto eingelegt hatten. Wehmütig hingegen begutachtet man das 1965 von Jørn Utzon entwickelte neue Schauspielhaus Zürich am Heimplatz, das für die Stadt eine ähnliche Bedeutung hätte erlangen können wie das KKL für Luzern. Das zeichenhafte Denkmal erhielt Zürich mit der Kunsthauserweiterung von David Chipperfield zwar, jedoch ohne die geniale Lösung des Verkehrsproblems im Projekt von Utzon, der das Kunsthaus und das Schauspielhaus mit einer weiten Terrasse über dem stark frequentierten Knotenpunkt verbinden wollte.
Interessant auch der im Zusammenhang mit der Expo 64 präsentierte Turm in Lausanne, der mit seinen 325 Metern Höhe ein Pendant zum Eiffelturm hätte werden sollen. Der überraschende Tod des Architekten Jean Tschumi bedeutete das Ende dieser Vision, die anfänglich viel Zustimmung gefunden hatte. Das beeindruckende Modell eines anderen, in diesem Falle megalomanischen Turms, stellt im Museum mehr oder weniger den Fluchtpunkt der beiden Haupträume dar. In New York wurde 2015 mit grossem Pomp der Vorschlag für eine 380 Meter hohe Vertikale im bündnerischen Vals vorgestellt – das wäre nichts anderes als das höchste Gebäude in Europa geworden, und dies ausgerechnet in einem beschaulichen alpinen Dorf. Es sei hier der Verdacht geäussert, dass nicht einmal die Initiatoren an ein Gelingen geglaubt hatten, sondern dass es vielmehr um Show und vielleicht auch um Provokation ging. Immerhin wurde das Projekt in zahlreichen internationalen Medien besprochen, die damit beste Werbung für Vals machten.
Verändert
Kaum ein Entwurf wird ohne Nachbearbeitungen umgesetzt. Insofern trifft die Kategorie «verändert» auf sämtliche Bauten zu. Warum die 1983 bis 1987 formulierte utopische Gesellschaftsform «bolo’bolo» auch dazu gehören soll, ist nicht einsichtig, ebenso wenig im Falle des Stadtbogens in Rapperswil von 2021, der Neukonzipierung des Sulzer-Areals in Winterthur zwischen 1992 und 2001 sowie der Ponts-Ville in Lausanne, über die Bernard Tschumi zwischen 1988 und 2001 brütete. Da wurde nichts verändert, sondern abgewürgt. Als Gegenbeispiel könnte man das KKL in Luzern von Jean Nouvel nennen, denn das, was sich nun neben dem Bahnhof erhebt, hat nichts mit dem Wettbewerbsentwurf zu tun.
Speziell ist die Begleitpublikation, die fast alles dokumentiert, was in den Räumen ausgelegt ist. Für Andreas Ruby, den Direktor des Museums, gleicht das Buch einer bibliophilen Schnitzeljagd, allerdings mit der Einschränkung, dass gewisse Schnitzel, etwa Zeitungsberichte zu stark beschnitten wurden und dadurch nicht lesbar sind. Die Gestalter warten mit einer originellen Idee auf: «Diese Publikation ist im Postquart-Papierformat (22x28cm) aufgelegt, das in der Schweiz (…) vor der Vereinheitlichung der Papierformate in Gebrauch war. Was wäre, wenn die Schweiz die DIN-Formate nie eingeführt hätte?»
Was ist Architektur?
Es war bei dieser Ausstellung Rubys Anliegen, «einen Impuls für eine ontologische Redefinition von Architektur» zu setzen. Was Architektur sei, ist eine berechtigte Frage. Gehören die nicht umgesetzten Projekte dazu? Das hängt davon ab, ob diese Frage in einem aristotelischen oder in einem platonischen Sinne reflektiert wird. Für Aristoteles ist volles Sein die Verbindung von Form und Materie, und das würde heissen, lediglich die materiell ausgeführte Form wäre gültiges Sein. Auf der anderen Seite versteht er Form als mögliches Sein, und das würde bedeuten, dass der Entwurf eine bedeutende Vorstufe für das vollendete Werk ist, eine notwendige und unverzichtbare Voraussetzung.
Platonisch betrachtet, kommt der Idee vollständiges Sein zu, und damit wäre jede Visualisierung, ob dies auf Papier, im Modell oder im gebauten Werk geschieht, nichts anderes als der Verweis auf das Reale jenseits des Abgebildeten und dieses Reale kann nur mit der Vernunft begriffen, nicht aber mit den Sinnen erfasst werden. So etwas wie die Unterscheidung zwischen unausgeführt und realisiert gäbe es bei dieser Weltanschauung nicht.
Der Output architektonischer Ideen wird mit KI gewiss exponentiell zunehmen und damit weitere Überlegungen zur Folge haben. Was ist von Entwürfen zu halten, die gänzlich ohne Hilfe von Architektinnen und Architekten zustande gekommen sind? Und muss ein Entwurf tatsächlich materiell umgesetzt werden, wenn dank Virtual Reality dieselben Raumerlebnisse ermöglicht werden können? Dem Schweizerischen Architekturmuseum wird die Arbeit nicht ausgehen.
Was wäre wenn. Ungebaute Architektur in der Schweiz.
SAM Schweizerisches Architekturmuseum
bis 7. April 2024
Publikation: Andreas Kofler/Andreas Ruby, Christoph Merian Verlag, Basel 2023