Als am vergangenen Sonntag in einer sogenannten Hauptstadt einer sogenannten Republik einige Fensterscheiben in Trümmer gingen, machte das internationale Schlagzeilen. Und jetzt wurden einige Strommasten gesprengt. Dringen bald russische Panzer in Transnistrien ein?
Die ukrainische Regierung ist überzeugt, dass es russische Kräfte sind, die hinter den Anschlägen stecken. Mit dieser Provokation, so heisst es, wollten die Russen die Lage in der Region destabilisieren und einen Vorwand schaffen, um in Moldawien einzumarschieren. Überprüfen lässt sich das nicht. Die moldawische Präsidentin Maia Sandu sagte nach einer Sitzung des Uno-Sicherheitsrates, dass es pro-russische transnistrische «Gruppen» sind, die die Anschläge verübt haben – Gruppen, die einen Krieg und einen Anschluss Transnistriens oder ganz Moldawiens an Russland wünschen
Transnistrien, wo jetzt geschossen und Strommasten gesprengt wurden, ist ein langgezogener Landstrich, zehn Mal kleiner als die Schweiz. Nicht einmal eine halbe Million Menschen leben hier. Trotzdem könnte der 202 Kilometer lange, enge Landstreifen im Ukraine-Krieg eine wichtige Rolle spielen. Vielleicht werden die Russen von hier aus eine neue Front gegen die Ukraine eröffnen – und in Moldawien einmarschieren.
Eine Art «Volksrepublik»
Transnistrien gehört völkerrechtlich zur Republik Moldau (Moldawien), hat sich aber von ihr abgespalten und steht seit dem Zerfall der Sowjetunion unter russischer Dominanz. Anerkannt wird die «Republik Transnistrien» von keinem Staat.
Transnistrien ist eine Art russisch dominierte «Volksrepublik» wie Donezk und Luhansk im Osten der Ukraine. Die moldawische Regierung in der Hauptstadt Chisinau (sprich: Kisinau) hat längst die Kontrolle über den Landstrich verloren.
Das kleine Land heisst offiziell «Republik Moldau». Umgangssprachlich wird es auch «Moldawien» genannt. In der Schweiz heisst das Land offiziell «Republik Moldova» oder einfach «Moldova».
Nach Ostern hatte Rustam Minnekajew, ein hoher russischer Militärkommandant, aufhorchen lassen. Er erklärte, dass sich die Russen keineswegs mit der Ukraine begnügen würden. Russland wolle (im Uhrzeigersinn) von der Ostukraine über die Südukraine bis nach Transnistrien im Westen vorstossen. Damit würde der Ukraine der Zugang zum Schwarzen Meer verwehrt.
Russland würde ein zusammenhängendes Gebiet von der Region Charkiw im Norden des Donbass herunter bis über Donezk und Kramatorsk ans Meer bei Mariupol, dann westlich über die Krim und Odessa bis hinauf nach Transnistrien besitzen. Die Ukraine würde zum Binnenland.
Von Transnistrien aus könnten die Russen eine neue, eine westliche Front eröffnen und so die Ukraine «in die Zange nehmen». Transnistrien könnte zum Sprungbrett für russische Truppen werden.
Russische Militärbasen in Transnistrien
Seit Jahren sind im schmalen Transnistrien-Streifen, der zwischen dem Mutterland Moldawien und der Ukraine eingeklemmt ist, bis zu 2’000 russische Soldaten und mehrere tausend pro-russische Paramilitärs stationiert. Dies, obwohl sich Russland bereits 1999 dazu verpflichtet hatte, Militär und Waffenarsenale abzuziehen.
Schon seit langem unterhalten die Russen hier einen Militärflugplatz und mehrere Militärbasen. In jüngster Zeit wurden Manöver durchgeführt. Im Norden des Landstrichs, in Cobasna, lagern 22’000 Tonnen Munition, die aus der Sowjetzeit stammen. Schon vor Beginn des Ukraine-Krieges sollen laut Befürchtungen die russischen Militärpositionen ausgebaut worden sein.
Transnistrien liegt östlich, also jenseits («trans») des Flusses Dnister. Daher der Name des Landstrichs: Trans Dnister = Transnistrien.
Eigene Regierung, eigene Währung
Die heutige «Republik Moldau», die zur Sowjetunion gehörte, wurde im Zuge des Zusammenbruchs des Sowjetreichs im Jahr 1991 unabhängig. Etwa gleichzeitig spaltete sich der östliche Teil des Landes, jener «jenseits des Dnister-Flusses», vom Mutterland ab.
Nach einem halbjährigen Krieg, der etwa 1’000 Tote und 4’500 Verletzte forderte, wurde Transnistrien faktisch unabhängig, wird aber nur von Russland gestützt. Der Landstrich verfügt über eine eigene Regierung, eigene Währung (den transnistrischen Rubel), eigene Verwaltung und eigenes Militär. Die Republik Moldau beansprucht nach wie vor das Gebiet. Der Konflikt gilt heute als «ruhend» und «eingefroren».
Reformen vs. Status quo
Es gibt eine ganze Palette von Gründen, die zur Abspaltung führten. Ethnische Motive spielten eine untergeordnete Rolle. Es ging und geht vor allem um ideologische, machtpolitische, wirtschaftliche und sprachliche Motive.
In der zu Beginn der Neunzigerjahre neu entstandenen Republik Moldau wollten reformorientierte Kräfte einen autonomen, modernen, westlich orientierten Staat aufbauen. Dagegen wehrten sich reformfeindliche, vorwiegend russische, ukrainische und moldawische Eliten, die grösstenteils aus dem sowjetischen Parteiapparat stammten.
Lenin-Statuen in Tiraspol
Sie konzentrierten sich in Transnistrien und versuchten, ihre ideologischen und materiellen Interessen zu wahren – und spalteten sich vom moldawischen Mutterland ab. Extreme Kreise fordern gar offen den Anschluss Transnistriens an Russland.
Die Flagge Transnistriens zieren noch immer Hammer und Sichel. Die kyrillische Schrift und die russische Sprache sind weit verbreitet. In Tiraspol, der Hauptstadt des Streifens, sind noch immer Lenin-Statuen zu sehen.
Während sich Transnistrien Russland zuwendet, blickt das Mutterland Moldawien nach Westen. 2016 trat ein Assoziierungsabkommen zwischen Moldawien und der EU in Kraft. Die jetzige Staatspräsidentin und Wirtschaftsfachfrau Maia Sandu gilt als sehr liberal und sehr EU-freundlich. Auch die jetzige Ministerpräsidentin Natalia Gavrilița ist eine Ökonomin und westlich orientiert.
Fünfte Kolonne
Moldawien ist heute das Armenhaus Europas. Laut dem Index der Uno rangiert das Land auf Rang 114 von 187 Ländern. Die Arbeitslosigkeit ist gross, der Durchschnittslohn beträgt 220 Euro pro Monat, dies bei Nahrungsmittelpreisen, die ähnlich hoch sind wie im Westen. Viele Dörfer verfallen, nur die Alten bleiben. Korruption ist alltäglich. Viele Menschen überleben nur dank finanzieller Hilfe, die sie von ihren Verwandten im Ausland erhalten.
Die politische Lage ist instabil, im Parlament gibt es starke pro-russische Kräfte, vor allem innerhalb der Sozialistischen Partei. Russland unterhält in Moldawien eine «Fünfte Kolonne», die nicht nur die Politik und die Wirtschaft unterwandert. Die staatlichen Institutionen sind schwach, den Jungen fehlt jede Perspektive, die Abwanderung ist gross. In den letzten 15 Jahren haben 800’000 Menschen das Land verlassen. Der Transnistrienkonflikt belastet Moldawien nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich. Im abgespalteten Teil des Landes befinden sich wichtige Produktionsstätten.
Fast eine halbe Million Flüchtlinge
Und jetzt auch noch die Flüchtlinge. Nach Angaben des Uno-Hochkommissariats für Flüchtlinge UNHCR, hat Moldawien 436’275 Ukrainerinnen und Ukrainer aufgenommen (Stand: Mittwoch). Kein Land beherbergt pro Kopf der Einwohner so viele geflüchtete Ukrainerinnen und Ukrainer.
Präsidenten, Minister
Der Westen ist sich der russischen Gefahr für die Moldau bewusst. Dutzende Präsidenten, Minister und andere hohe Politiker reisten in den letzten Tagen und Wochen nach Chisinau und bekundeten ihre Solidarität mit Moldawien, unter anderem die Aussenminister der USA, Frankreichs, Spaniens, Deutschlands, Österreichs, Italiens sowie die Ministerpräsidenten Bulgariens, Litauens, der Slowakei, die Präsidenten Polens, Rumäniens und der schweizerische Bundespräsident.
Jetzt also wollen die Russen von Odessa her nach Transnistrien vorstossen. Dort werden sie – nicht wie in Donezk und Luhansk – freundlich empfangen werden.
Aggresive russische Einmischung
Zwar sind nur knapp fünf Prozent der Moldawier und Moldawierinnen russisch-stämmig: Dennoch befürchten Moldawier, dass Russland bestrebt sein könnte, seinen Einfluss im ganzen Land radikal zu stärken. Immer wieder mischt sich Russland aggressiv in Moldawien ein. Der ukrainische Präsident Selenskyj ist überzeugt, dass der russische Einmarsch in der Ukraine nur der Anfang war, und dass «die Russen nachher andere Länder einnehmen wollen».
Transnistrien könnte zum russischen Aufmarschgebiet werden – sowohl für einen Angriff auf die Ukraine als auch für eine Invasion der Republik Moldau.
Die Meinungen gehen auseinander, wie weit diese Befürchtungen berechtigt sind. Optimisten sagen, die russische Armee befinde sich nach ihren schweren Verlusten in einer derart desolaten Lage, dass sie kurz- oder mittelfristig nicht in der Lage wäre, eine neue Front zu eröffnen.
Pessimisten sagen, Putin habe bewiesen, dass er nicht kurz- und mittelfristig denkt – sondern langfristig.