Die neuen Museumsbauten in Lausanne werden weitherum als städtebaulicher Wurf gefeiert. Doch ihre Qualität beweist sich vor allem im Innern – in der Architektur der Räume und in dem, was darin geschieht.
«Lausannes Meisterleistung» titelte Roman Hollenstein in de NZZ. Im gleichen Blatt schrieb Antonio Fumagalli von einem «neuen Fixstern am Schweizer Museumshimmel». Und im Journal21 war von einer «Visitenkarte für Lausanne» die Rede.
Gemeint ist die nun mit der kürzlichen Eröffnung des Design-Museums Mudac und des Photomuseums Photo Elysée bis auf die Gestaltung des grossen Aussenraumes vollendete «Plateforme 10», deren prominentester Teil, das Musée Cantonal des Beaux-Arts (MCBA), schon im Oktober 2019 seine Tätigkeit aufgenommen hat.
Damit verfügt Lausanne tatsächlich über ein Kulturzentrum von schweizerischer und auch internationaler Bedeutung: Die Werbetexter der «Plateforme 10» erklärten des neue Zentrum gleich selber zum Mittelpunkt einer imaginären Achse Paris–Mailand. Die «Plateforme 10» ist ein Beispiel geschickten Stadt- und Standortmarketings mittels grosser und prominenter Architektur, wie es vor allem für Kulturbauten seit langer Zeit, bereits seit dem 19. Jahrhundert, im Trend liegt und in letzter Zeit an Zugkraft gewonnen hat. Neuere Beispiele gibt’s, auch in der Schweiz, zuhauf – vom Luzerner KKL über das LAC in Lugano, die neuen Museumserweiterungen in Basel und Chur bis zum Chipperfield-Bau des Kunsthauses Zürich.
Die Qualität der Räume
Das äussere Erscheinungsbild all dieser Bauten ist aus städtebaulicher Sicht wichtig, doch ebenso sind alle diese Bauten auf eine Nutzung ihrer Innenräume hin angelegt. Für die Qualität eines Konzertsaales ist nicht entscheidend, wie er sich im Stadtbild präsentiert, sondern ob der akustische Rahmen optimal ist für die dargebotene Musik, und entscheidend für ein Museums sind nicht städtebauliche Signale, opulente Treppenhäuser, Foyers und Museumscafés, sondern, viel bescheidener, das Licht in den Räumen, ihre Proportionen und der Rhythmus ihrer Abfolge. Entscheidend ist aber vor allem, was in diesen Räumen geschieht und wie die Musikerinnen oder die Ausstellungskuratoren mit ihnen umzugehen wissen.
Im kantonalen Kunstmuseum MCBA in Lausanne zeigt es sich seit bald drei Jahren, dass das Architekten-Duo Barozzi-Veiga sich auf die Gestaltung von Museumsräumen versteht – und dass, nicht weniger wichtig, das Museumsteam um Direktor Bernard Fibicher mit diesen Räumen umzugehen weiss: Die Sammlung mit der wohl besten Übersicht über die in der Deutschschweiz viel zu wenig bekannte Kunst der Romandie, aber auch mit wichtigen Werken internationaler Kunst erfährt eine gute und angemessene Präsentation.
Eisenbahn und Kunst
Das gilt auch von der auf die Eröffnung der ganzen «Plateforme 10» hin gestalteten Wechselausstellung «Train – Voyages imaginaires». Mit dieser von Camille Lévéque-Claudet kuratierten Schau gliedert sich das MCBA ein in die Gesamtthematik der neuen Museumslandschaft: Photo- und Designmuseum widmen sich in den Eröffnungsausstellungen auf je ihre Art ebenfalls dem Thema Eisenbahn.
Das Kunstmuseum fächert das Thema breit auf und kann selten gezeigte Werke präsentieren. Zwei Beispiele: Ein Bild des jungen René Magritte oder eine Grafik Edward Hoppers.
Magritte kombiniert die gerundeten Formen der schwarzen Dampflokomotive mit der erotischen Ausstrahlung des weiblichen Körpers.
Auf Hoppers Grafik bedroht die qualmende Lokomotive das frohe Naturerlebnis zweier Badender. Die Ausstellung belegt auch, wie der Geschwindigkeitsrausch des Eisenbahnzeitalters die Futuristen beflügelte.
Da tauchen eher unbekannte Namen auf – die Malerin Benedetta Cappa-Marinetti (Ehefrau Filippo Tommaso Marinettis) zum Beispiel, aber auch der Schwede Gösta Adrian Nilsson, ein Beleg dafür, dass der Futurismus weit über Italien hinaus strahlte. Die Ausstellung wartet mit mehreren Werken de Chiricos und Gino Severinis auf.
Paul Delvaux setzt einen liegenden weiblichen Akt als Göttin des «Eisernen Zeitalters» in eine Bahnhofhalle (Bild: siehe oben). In manchen Bildern steht die Eisenbahn für Fernweh, Sehnsüchte, dunkle Fantasien, Ängste oder für Grundfragen des Lebens wie jene nach dem Woher und Wohin unserer Lebensreise.
Werke von Jannis Kounellis, Fiona Tan oder der Fotokünstlerin Sophie Ristelhueber zeigen, dass auch die Gegenwartskunst sich des Themas annimmt. Fiona Tans Spielzeugeisenbahn-Landschaft wirkt nur auf den ersten Blick niedlich Die Harmlosigkeit hat bald ein Ende: Eine Fabrik brennt, eben ereignet sich ein Unfall, Eisenbahn-Waggons stürzen in eine Schlucht, Polizei und Ambulanz sind vor Ort.
Photographie als Zeitdokument
Das MCBA bezieht auch Fotografie in seine Ausstellung ein.
Das kantonale Photomuseum Photo Elysée im Untergeschoss des Neubaus zeigt in der thematisch breit angelegten Schau zum Thema Eisenbahn in der Photographie auch Malereien – von Gustav Caillebotte zum Beispiel, der im Gegensatz zu seinen impressionistischen Zeitgenossen vor allem der realistischen Stadtlandschaft verpflichtet war und in dessen Bildern sich klare Rückgriffe auf Bildschnitt und Komposition der damals jungen Photographie zeigen. Da sind auch Plakate und Zeichnungen zu sehen – vor allem aber eine fast überbordende Fülle von Belegen der wichtigen Rolle, welche die Photographie als unschätzbares Zeitdokument und als Aufzeichnung von früheren Alltagssituationen spielt. Betreut wurde die Eröffnungsausstellung des neuen Hauses von Tatyana Franck, die dem Haus von 2015 bis 2021 als Direktorin vorstand.
Photo Elysée verfügt neu über wesentlich grössere Räume als am früheren Standort in der Maison de l’Elysée. Sie sind flexibel und dem Medium Photographie, was Licht und Geschosshöhe betrifft, angepasst. Das neue grössere Museum gestattet es auch, die reiche eigene Sammlung zur Geltung zu bringen. Mit der Eröffnung des neuen Hauses geben die Kuratorinnen und Kuratoren denn auch unter verschiedenen Gesichtspunkten Einblick in diese Bestände und zeigen zugleich neue Wege im Umgang mit dem eigenen Kulturgut. Photo Elysée präsentiert sich als umfassendes Informationszentrum zur Geschichte der Photographie mit Ausstrahlung über die Romandie hinaus.
Spielerischer Umgang mit Eisenbahn-Design
Das Mudac, das Musée cantonal de design et d’arts appliqués contemporains, verfügt im Obergeschoss des neuen Museumskomplexes über grosse und helle Oberlicht-Räumlichkeiten, deren offene Strukturen einen freien und spielerischen Umgang mit dem Ausstellungsgut ermöglichen. Auch hier gibt es Einblicke in die hauseigene Sammlung, vor allem aber eine Eröffnungsausstellung wiederum zum Thema «Train Zug Treno Tren. Begegnungen im Bahnhof». Im Zentrum steht der Bahnhof als Ort der Abreise, der Ankunft, des Fernwehs, der zufälligen Begegnungen. Die Ausstellung zeigt in spielerisch- einfallsreicher Präsentation Gebrauchsobjekten im Zusammenhang mit dem Bahnhof wie Uhren, Signale, Reiseinformationen oder Bahnplakate und Werbung.
Einbezogen werden auch Werke der bildenden Kunst. Ein Beispiel ist eine autobiographische Arbeit der Französin Sophie Calle, die in zahlreichen Fotos und Texten eine tagelange Reise mit der Transsibirischen Eisenbahn dokumentiert, während der sie das Abteil mit dem Russen Anatoli teilte, mit dem sie wegen fehlender Sprachkenntnisse kein Wort wechseln konnte.
Rücktritte und Nachfolgen
Kuratorin der Ausstellung im Mudac ist Chantal Prod’Hom. Sie ist seit 2000 Direktorin des für seine unkonventionelle Vermittlungsarbeit bekannten Museums, und sie hat in dieser Zeit das Profil des Hauses wesentlich geprägt. Sie tritt auf Ende Jahr zurück, wartet aber bis dahin noch mit interessanten Projekten auf – so mit der Präsentation einer Sammlung von 230 Stühlen aus einer Genfer Privatsammlung. Der Künstler und Regisseur Bob Wilson wird die Szenografie gestalten. «Es ist grossartig, mit so einer Schau aufzuhören», sagte Prud’Hom in einem Interview mit der Zeitung «Südostschweiz». Wer künftig das Haus leiten wird, ist noch nicht bekannt.
Im Photo Elysée und im Kunstmuseum haben Wechsel in der Direktion kürzlich stattgefunden. Tatyana Franck trat auf den 1. Juni als Direktorin des Photomuseums zurück. Sie wird in New York das French Institute Alliance Française leiten. Ihre Nachfolgerin ist Nathalie Herschdorfer, seit 2014 Direktorin des Musée des Beaux-Arts in Le Locle. Das neue Engagement in Lausanne ist eine Rückkehr, denn sie gehörte bereits von 1998 bis 2010 zum Team des Musée de l’Elysée.
Bekenntnis zur kompromisslosen Kunst
Diese Tage geht Bernard Fibicher, Direktor des MCBA seit 2007, in Pension. Zuvor war er in verschiedenen Funktionen am Kunstmuseum Bern, am Kunsthaus Zürich, am Kunstmuseum Sitten und an der Kunsthalle Bern tätig, wo er 2004 die erste Schweizer Ausstellung mit Werken von Ai Weiwei zeigte. Ihm widmete er 2017 auch die letzte und umfassende Ausstellung im ursprünglichen Musée des Beaux Arts im Lausanner Palais de Rumine.
In seine beinahe 20 Jahre umfassende Direktionszeit fielen zahlreiche spannende Präsentationen. So veranstaltet er erstmals in der Schweiz monographische Ausstellungen von Piero Manzoni, von Kader Attia oder vom einem grösseren Publikum als Maler kaum bekannten August Strindberg. Seine letzte Ausstellung in Lausanne, «Résister encore!», war ein eigentliches Bekenntnis zu einer kompromisslosen, keinerlei Mainstream verpflichteten und sich auf relevante ethische und gesellschaftspolitische Fragen konzentrierenden Kunst. Fibichers Nachfolger ist der 1969 geborene Kunsthistoriker und Germanist Juri Steiner, Dadaismus-Fachmann, Kurator verschiedener thematischer Ausstellungen – zum Beispiel «Der erschöpfte Mann» im Landesmuseum in Zürich – und während langer Zeit Moderator von Sternstunde-Sendungen im Schweizer Fernsehen. Einige Jahre war er Direktor des Klee-Zentrums in Bern.
Ein Schwerpunkt des MCBA im Herbst wird die Ausstellung «So Many Dreams» der 68-jährigen Britin Lubeina Himid sein. Der einflussreichen Aktivistin der schwarzen britischen Kunst, Turner-Prize-Winner 2017, der eben jetzt die Tate Modern in London eine Retrospektive widmet, war in der Schweiz bisher nicht zu begegnen.
Konfliktpotential
Die Persönlichkeiten, die den in der «Plateforme 10» zusammengeführten drei Museen vorstanden, haben das Profil ihrer Institutionen entscheidend geschärft. Nun hat der Kanton Waadt 2021 aber mit der Person von Patrick Gyger einen Generaldirektor der ganzen «Plateforme 10» eingesetzt: Der 1971 geborene Historiker leitete zuvor die Maison d'Ailleurs in Yverdon, ein Sciencefiction-Museum, und stand ab 2011 an der Spitze des Lieu Unique in Nantes, eines vielseitigen modernen Kulturinstitutes mit multimedialen Angeboten. Auch er ist offenbar eine initiative und profilierte Persönlichkeit.
Manche Gemeinsamkeiten verbinden die ihm unterstellten Museen, die allen drei visuellen Medien verpflichtet sind. Ebenso gibt es aber Unterschiede, da Kunst, Photographie und Design die Wirklichkeit je anders abbilden. Wie Gyger sein Amt wahrnehmen wird, zeichnet sich noch nicht ab. Für den Kanton als Träger des ganzen Zentrums drängt sich die neue übergeordnete Struktur aus praktischen Gründen vielleicht auf. Doch die Frage mag sich stellen, ob die Gross-Struktur nicht auch mit erheblichem Konfliktpotential verbunden ist. Es droht vor allem dann aufzubrechen, wenn die hohen Gesamtkosten der Anlage (gemäss NZZ insgesamt rund 180 Millionen Franken bei einem jährlichen Betriebsbudget von 27 Millionen) den Erfolgsdruck auf die einzelnen Museen erhöhen. Der politische Ruf nach einer starken (und sparenden) Hand wird dann rasch zu hören sein. Das wird der Eigenständigkeit der Museen kam förderlich sein.
Alle Ausstellungen bis 25. September.