Die Kleinräumigkeit der Schweiz macht die Erfahrung von extrem gegensätzlichen Erlebniswelten in rascher Abfolge möglich. Man kommt im Nu von hier nach dort und von dort wieder hierhin. Parallele Wirklichkeiten, die wegen der Konfusion ihrer Wahrnehmung als Unwirklichkeiten erfahren werden. Man behilft sich mit der Redewendung: Wie im Traum.
Das heisst, ich kann am Morgen auf meinem Balkon in Zürich die Wäsche zum Trocknen aufhängen, während ich noch immer die Aufstiegsspur lege, mich im tiefen Schnee bergauf wühle, mit hohem Puls, in der grossen Stille der Winterlandschaft, kein Geräusch wahrnehmend ausser dann und wann das Zischen der Neuschneerutsche, die als weisse Fliessbänder aus den Felsen niedergehen. Oder die Stimme eines Begleiters, der mir von unten zuruft, es gehe vielleicht besser weiter nach links hinaus auf der Rampe. Das war gestern morgen um die gleiche Zeit, aber die Bilder laufen im Kopf mit unerbittlicher Macht, bin immer noch halb blind, geblendet von dieser intensiven Sonne.
Und sitze doch hier auf dem Balkon bei meiner Tasse Tee, höre den Lärmpegel der Stadt, bin wie gelähmt, kann mich nicht entschliessen, die Zeitung zu holen, denn zuerst muss ich noch den grossen Tiefschneehang hinunterfahren, atemlos in einer weissen Schneewolke.
Der Amerikaner Peter Matthiessen beschrieb 1978 in seinem Buch «Auf der Suche nach dem Schneeleopard», wie das gleissende Schneelicht ihn durchlässig machte für Grenzerfahrungen des Bewusstseins: «Die Sonne dröhnt. Sie füllt jeden Schneekristall bis zum Bersten. Ich bin gerührt, so erschüttert, dass ich es nicht verstehe, und erneut frieren auf meinem Gesicht die warmen Tränen ein. Diese Felsen und Berge, diese ganze Materie, der Schnee, die Luft – die Erde klingt hell. Alles ist in Bewegung, voller Kraft, voller Licht.»
Die Welt vergessen
Er habe seit Monaten nichts mehr gehört von der Welt da draussen, notierte Matthiessen, und es sei auch nicht mehr so wichtig. Man muss nicht durch das tibetische Hochland laufen, um die schlechten Nachrichten der Welt für einen Moment zu vergessen. Es geht auch an einem Maimorgen im Bündnerland.
Tiefschnee fahren ist ein wenig wie Fliegen, aber Fliegen mit dem weichen Kontakt zur Erde. Die Arme ausbreiten und hinunterschweben, Passage durch das Tor zu einem anderen Raum. Es gibt in jeder Sekunde nichts anderes mehr als diesen Walzer. Fahre ich noch selbst oder wiegt mich die Schneemulde in ihrem Rhythmus?
Alles, was je passiert ist und je passieren könnte, ist in diesen Momenten weg. Solange jedenfalls, bis es an der Tür läutet, der Briefträger bringt ein Paket. Ich bin nicht an der Fuorcla d’Emmat sondern in Zürich. Und beim Runtergehen auf der Treppe tun die Beine weh, Muskelkater von gestern.