Die politische Konstellation im Irak hat sich verändert. IS gab den Anstoss dazu. Die Kurden sehen sich in Bedrängnis, nachdem sie zuvor als die grossen Gewinner der Krise dastanden. Amerika konnte nicht länger beiseite stehen. Die Regierung von Bagdad scheint den Händen al-Malikis zu entgleiten. Alles ist in Bewegung geraten. Doch wohin diese Bewegung letzten Endes führen wird, ist völlig offen.
Die Peschmerga unter Druck
Alles begann mit einem neuen militärischen Durchbruch der terroristischen Kämpfer "des Kalifates". Sie waren mit den kurdischen Peschmerga zusammengestossen. Diese hatten nach dem Zusammenbruch der irakischen Armee im sunnitischen Norden des Landes Gebiete besetzt die nahe bei Mosul liegen, dem Machtzentrum von IS auf seinem irakischen Flügel. Die Peschmerga waren nicht in der Lage, den schweren Waffen standzuhalten, die IS einsetzte. Dies waren im wesentlichen amerikanische Waffen. Sie waren der irakischen Armee geliefert worden, und IS hatte sie in Mosul erbeutet.
Schutzlose Zivilisten in Todesgefahr
Die Kurden sahen sich gezwungen, zurückzuweichen, und sie liessen die Zivilisten, die sich ihrem Schutz anvertraut hatten, schutzlos zurück. Diese Zivilisten sind grossenteils assyrische Christen und Yeziden. Es gibt unter ihnen auch turkophone Schiiten, die man Schabbak nennt. Viele von ihnen waren in die von den Kurden gehaltenen Ortschaften geflohen, nachdem ihre Heimatorte von IS besetzt worden waren. IS tötet die Männer jener Religionen, die ihren Fanatikern als entweder vom wahren Islam abgefallen gelten – in erster Linie Schiiten oder als "heidnisch" angesehene Gemeinschaften wie die Yeziden.
Die Christen stellt IS vor die Wahl, zum Islam überzutreten (natürlich zu "ihrem" Islam), oder schwere Sondersteuern zu bezahlen, deren Höhe IS festlegt, egal ob sie bezahlbar sind oder nicht, oder aber ebenfalls getötet zu werden. Was die Frauen und Kinder betrifft, können sie statt ermordet auch versklavt werden. Sklavinnen gelten auch als sexuell versklavbar.
Notstand im Jebel Sinjar
Diese Zustände haben zur Flucht von mehreren Hunderttausend Menschen geführt. Das Geschick jener, die in den Jebel Sinjar fliehen mussten, ist besonders hart, weil es dort kaum Wasser gibt und das Gebirge ringsum von Leuten des IS umstellt wird. Ein Teil der Flüchtlinge konnte aus der Umzingelung entkommen, weil die syrischen Kurdenkämpfer ihnen einen Ausweg in Richtung Syrien freikämpften. Andere sind noch immer im Sinjar Gebirge und dabei auf die Wasser- und Nahrungsrationen angewiesen, die von amerikanischen Flugzeugen und türkischen Helikoptern abgeworfen werden.
Die Mehrheit der Flüchtlinge befindet sich in den drei kurdischen Provinzen, doch nicht alle werden über die Grenze gelassen, sondern sie müssen sich in Lagern vor dem Grenzübergang aufhalten. Den Kurden geht es darum, nach Möglichkeit zu vermeiden, dass IS Agenten mit den Flüchtlingen einsickern. Erbil und Kirkuk sind schon des öfteren Ziele von Selbstmordbombern gewesen.
Erbil bedroht
Nicht nur die Aussenbezirke, die den drei kurdischen Provinzen vorgelagert sind, waren gefährdet. Diese Bezirke waren von den Peschmerga besetzt worden, nachdem die irakische Armee in Mosul zusammengebrochen war und auch die kleineren Ortschaften des Umfeldes geräumt hatten. Viele dieser Gebiete sind kurdophon oder von kurdisch sprechenden Mehrheiten bewohnt. Ein Vorstoss von IS schien direkt auf Erbil, die kurdische Hauptstadt, gerichtet.
Zu den nach der Niederlage von Mosul von der irakischen Armee fluchtartig geräumten Positionen gehörte auch Kirkuk, die Erdölstadt. Sie wurde ebenfalls von den Peschmerga übernommen und befindet sich weiterhin in ihrer Gewalt. Über die drohende Einnahme von Erbil hinaus wäre wahrscheinlich Kirkuk zum nächsten Ziel der IS Offensive geworden. Erdölquellen gehören zu den strategischen Zielen, die IS systematisch verfolgt.
Der Staudamm am Tigris
Einige kleinere Erdölvorkommen in der Nähe von Mosul sowie solche in Syrien befinden sich bereits in seiner Gewalt. Auch der grosse Staudamm am Tigris, der oberhalb Mosuls liegt, scheint sich nun ganz oder teilweise in der Gewalt von IS zu befinden. Dieser Damm erzeugt den grössten Teil der Elektrizität, die Mosul benötigt. Wenn er zerstört würde, könnte die dadurch entstehende Sturzwelle Bagdad überfluten.
Dass IS auch an der südlichen Front, die Bagdad bedroht, aktiv geblieben ist, zeigt der Fall des Städtchens Jalawla ganz im Süden der kurdisch gehaltenen Zone und nicht weit von der umkämpften Stadt Baaquba entfernt. Dort hatten seit dem 18.Juli zähe Kämpfe mit den Peschmerga stattgefunden. Sie sind nun mit einem Rückzug der kurdischen Truppen beendet worden.
Washington musste eingreifen
Beide Notlagen, die humanitäre der vertriebenen Bevölkerungen und die militärische der Bedrohung des Kurdengebietes, zwangen Washington, offenbar entgegen der von Obama bevorzugten Linie der Nichteinmischung, sofort einzuschreiten. Die amerikanischen Bombenangriffe, von denen bereits 15 erfolgt sein sollen, bewirkten viel zur Wiederherstellung der Moral der Kurden und offenbar auch einiges, um die IS Kolonnen zunächst zum Stehen zu bringen. Doch wie das Pentagon offen erklärt hat, können Luftschläge alleine die Macht von IS nicht brechen.
Mehr Waffen für die Kurden
Die Kurden sollen nun bessere Waffen von Washington erhalten. Bisher hatte sich Washington mit Waffenlieferungen an die Kurden zurückgehalten, weil besser gerüstete kurdische Kämpfer dem Streben nach Unabhängigkeit Kurdistans weiteren Vorschub geleistet hätten. Washington hatte Waffen an die Bagdader al-Maliki-Regierung verkauft, jedoch mit der unbeabsichtigten Folge, dass diese zu bedeutenden Teilen in die Hände von IS fielen. Diese amerikanischen Waffen werden nun von amerikanischen Flugzeugen bombardiert in der Hoffnung, sie unschädlich zu machen.
Schritte voran in Bagdad
Auch das zähe Ringen um die Macht in Bagdad wurde durch den Vorstoss von IS beschleunigt. Das Ende April gewählte Parlament entschloss sich dazu, einen Parlamentspräsidenten und dann einen Staatspräsidenten zu wählen. Der neue Staatspräsident, Fuad Masum, ist Kurde, Mitbegründer der PUK (Kurdische Unionspartei), deren Chef, Jalal Talabani, bisher als Staatspräsident amtiert hatte, aber im vergangenen Jahr einem Herzschlag erlitt und sein Amt nicht mehr wahrnehmen konnte. Der neu eingesetzte Staatspräsident hatte 15 Tage, um der grössten politischen Formation (Partei, Parteienkoalition oder Parteibündnis) den Auftrag zur Regierungsbildung zu erteilen. al-Maliki, der bisherige Ministerpräsident, war und ist der Ansicht, der Auftrag hätte ihm erteilt werden sollen. Seine politische Formation, das Bündnis "Gesetzesstaat", hatte in der Tat die Wahlen vom März gewonnen. Doch die Frage war, ob alle 93 Parlamentarier, die unter dieser Fahne gewählt worden waren, nach wie vor zu al-Maliki hielten.
Kritik in den Reihen der Partei und auch ausserhalb unter den bisher verbündeten Gruppierungen von anderen Schiiten war laut geworden. Die kritischen Stimmen wiesen darauf hin, dass al-Maliki in doppelter Hinsicht für die Niederlage des irakischen Staates durch IS verantwortlich sei. Zum einen, weil er eine Politik der Bevorzugung der Schiiten und der Benachteiligung, wenn nicht gar der Verfolgung der Sunniten betrieben hatte, die grosse Teile der sunnitischen Araber des Irak zur Zusammenarbeit mit IS getrieben hatte. Zum anderen, weil er aus der irakischen Armee eine schiitische Sicherheitstruppe gemacht hatte und das Gleiche auch mit den Polizei- und Geheimdienstkräften. Sie alle waren auf Grund ihrer Loyalität gegenüber al-Maliki eingestellt und befördert worden. Korruption spielte dabei ebenfalls eine wichtige Rolle.
Diese politisierte und korrupte Armee erwies sich jedoch als unfähig, dem zahlenmässig weit unterlegenen IS entgegenzutreten. Dies zeigte sich zuerst im vergangenen Januar in Ramadi und Falludscha, später im Juni katastrophal in Mosul, und zum dritten Mal, als ihnen Mitte Juli die versuchte Zurückeroberung von Tikrit misslang.
al-Maliki persönlich hatte die Oberaufsicht über den Aufbau dieser wenig glorreichen Streitkräfte ausgeübt.
Druck auf al-Maliki
Kritik an al-Maliki kam auch von ausserhalb seiner Partei. Ayatullah Sistani, der einflussreichste der schiitischen Gottesgelehrten im Irak, hatte deutlich gemacht, dass er einen neuen Ministerpräsidenten als unumgänglich erachte. Dieser müsse, anstatt das Land in Schiiten und Sunniten zu spalten, eine Politik des Ausgleichs und der Zusammenarbeit aller gegen IS betreiben. Iran hatte nach anfänglichem Zögern ebenfalls deutlich gemacht, dass es nicht mehr hinter al-Maliki steht. Die Amerikaner betonten, sie könnten Bagdad nur "entscheidend" zur Hilfe kommen, wenn sich dort eine Regierung bildet, in der Sunniten, Schiiten und Kurden zusammenarbeiten. Die USA werde nicht als unterstützende Macht eines Alleingangs der irakischen Schiiten auftreten.
Nachdem 15 Tage verflossen waren, und der neue Präsident es unterlassen hatte, einen Regierungsauftrag zu erteilen, begehrte al-Maliki auf. In einer Ansprache am staatlichen Fernsehen, sofort nach dem Ende der 15 Tage, erklärte er, er werde den neuen Staatschef vor dem Verfassungsgericht verklagen, denn er habe gleich doppelt gegen die Verfassung verstossen, indem er den 15-Tage-Termin nicht eingehalten habe und indem er sich geweigert habe, ihn, al-Maliki, dem Gewinner der Wahlen, den Regierungsauftrag zu erteilen.
Aufmarsch der Sicherheitstruppen
Gleichzeitig liess al-Maliki die "Grüne Zone" von Bagdad, in der die Regierungsgebäude liegen, durch seine Sicherheitsleute besetzen. Sie brachten Panzer in die Innenstadt. Dies sind Sondereinheiten, die von al-Malikis Sohn, Ahmed, kommandiert werden. Ihr Aufmarsch wirkte wie eine Notstandsmassnahme. Die Antwort des Staatschefs erfolgte am nächsten Tag. Er erteilte einen Regierungsauftrag, aber nicht al-Maliki, sondern einem anderen wichtigen Mitglied der Parteienverbindung al-Malikis, die sich "Gesetzesstaat" nennt.
Dies war Haidir al-Abedi, und es erwies sich, dass al-Abedi die Mehrheit der schiitischen Parlamentarier hinter sich hatte. Nach den Wahlen hatte al-Maliki über 95 Parlamentarier verfügt, doch 50 davon waren zu al-Abedi übergelaufen und weitere schiitische Gruppierungen, die nicht "Gesetzesstaat" angehörten, aber in der Vergangenheit mit al-Malikis Formation verbündet waren, verliessen ihn ebenfalls. Insgesamt konnte al-Abedi im Augenblick seiner Ernennung mit der Unterstützung von 177 gegen 148 Parlamentarier rechnen, und weitere Gruppen und Grüppchen kamen später dazu. Die Mehrheit im Parlament wird durch 163 Abgeordnete gebildet.
al-Maliki unnachgiebig
Doch al-Maliki besteht weiter auf seiner Sicht der Geamtlage. Er hält daran fest, dass die Beauftragung al-Abdedis zur Regierungsbildung zu spät erfolgte und daher gegen die Verfassung verstosse. Er scheint auch weiter daran festzuhalten, dass der Regierungsauftrag ihm hätte erteilt werden müssen, da er und seine Partei die Wahlen mit einer relativen Mehrheit gewonnen hatten. Der Umstand, dass er gegenwärtig nicht mehr über diese Mehrheit verfügt, macht es für ihn allerdings schwer, zu behaupten, er hätte vorher ernannt werden sollen, als er diese Mehrheit noch besass.
Der Präsident kann das Gegenargument anführen, das Abbröckeln der Mehrheit al-Malikis sei nach der Niederlage der irakischen Armee in Mosul voraussehbar gewesen und dann auch eingetreten, so dass ein Auftrag zur Regierungsbildung an al-Maliki unrealistisch geworden sei. Vorläufig sieht es jedoch so aus, als wolle al-Maliki seine Drohung einer gerichtlichen Klage verwirklichen. Der Umstand, dass er auch zu einer Mobilisation der ihm anhängenden Sondertruppen griff, scheint bei vielen seiner bisherigen Parteigänger bewirkt zu haben, dass sie ihn endgültig verliessen.
Putsch oder Machtdemonstration?
Was er damit bewirken wollte, ist ungewiss. Er liess auch Demonstrationen von Anhängern in den zentralen Stadtteilen durchführen. Schon die einheitlich gedruckten Schilder, die sie mit sich führten, alle mit der Standartaufschrift: "Wir haben al-Maliki gewählt!" machten klar, dass es sich um vom Staat al-Malikis mobilisierte Personen handelte.
Möglicherweise versuchte er, mit diesen Schritten nur die Bevölkerung und vielleicht auch die Verfassungsrichter zu beeindrucken. Möglicherweise dachte er an einen Putsch. Jedenfalls hat ihn Kerry öffentlich gewarnt, wenn er auf Grund von Übergriffen gegen die Verfassung an der Macht bleibe, werde der Irak keinerlei amerikanische Hilfe erhalten.
Folgen im Hintergrund Verhandlungen?
Es ist auch denkbar, dass der Versuch, seine militärische und polizeiliche Macht auszuspielen, dazu dienen sollte, seine Verhandlungsposition zu stärken für den Fall, dass es im Hintergrund zu Verhandlungen und Absprachen über die Zukunft des bisherigen Regierungschefs kommt, beispielsweise über Fragen der Indemnität gegen Korruptionsklagen.
al-Maliki bleibt provisorischer Regierungschef, bis eine neue Regierung unter al-Abedi zustande kommt. Wenn diesem die Regierungsbildung misslingen sollte, bleibt al-Maliki weiter an der Macht und würde wahrscheinlich die Möglichkeit erhalten, seinerseits eine parlamentarische Mehrheit zu suchen, die seine Regierung stützt. Dass er alles tun wird, was in seiner Macht liegt, um die Regierungsbildung unter al-Abedi zu verhindern, ist zu erwarten. Diese Macht ist legal gesehen gering, doch die Sicherheitskräfte und die Armee, soweit diese noch forbesteht, gelten als eng mit al-Maliki verwoben. Dass es dadurch zu Unruhen kommt, in denen Schiiten gegen Schiiten aufbegehren und möglicherweise kämpfen, ist eine ernste Gefahr.
Die Manöver sind noch nicht beendet
Auch ist zu erwarten, dass manche der schiitischen Politiker, die nun von al-Abedi Regierungspositionen erwarten, wenn sie in ihren Hoffnungen und Ansprüchen enttäuscht werden, möglicherweise zu al-Maliki zurückkehren. Ministerposten für alle kann al-Abedi nicht vergeben, umso weniger als von ihm erwartet wird, dass er auch die Kurden und die Sunniten möglichst gleichberechtigt an der Regierung beteilige.
Sogar wenn eine derartige Regierung mit signifikanter Beteiligung der anderen beiden Grossgemeinschaften des Landes zustande kommt, bleibt ungewiss, was mit den ziemlich einseitig schiitischen Militärs und Sicherheitsleuten al-Malikis geschehen soll. Ihre Zusammensetzung und Leitung müsste neu austariert werden, während sie gleichzeitig gegen IS eingesetzt werden sollen. Im Einsatz sollen sie mit den in jüngsten Wochen mobilisierten schiitischen Kämpfern zusammenarbeiten, die ihrerseits in vielen Fällen von Vorurteilen gegen die Sunniten belastet sind.
Man sieht, die Probleme der Regierung von Bagdad sind noch lange nicht bewältigt, sogar wenn die erhoffte Regierung unter al-Abedi Wirklichkeit werden sollte.