Amos Oz braucht man nicht lange vorzustellen. Der heute 79-Jährige ist der bekannteste Schriftsteller Israels. In seinem wohl erfolgreichsten und persönlichsten Buch, dem autobiographischen Roman «Eine Geschichte von Liebe und Finsternis» (2004 auf deutsch erschienen) schildert er seine Jugend in einer jüdischen Familie im damaligen britischen Mandatsgebiet Palästina, die Gründung des Staates Israel 1948, die schwierigen Familienverhältnisse mit den aus Russland eingewanderten Eltern, den aus Protest erfolgten Eintritt in einen Kibbuz, die allmähliche Entwicklung zum Schriftsteller.
«Liebe Fanatiker»
Oz ist ein politisch engagierter Schriftsteller. Er zählt zu den Gründungsmitgliedern von «Peace Now», die zur israelischen Friedensbewegung gehört, die sich für einen fairen Frieden mit den Palästinensern und die Schaffung eines palästinensischen Staates einsetzt, in den letzten zehn, fünfzehn Jahren aber stark an politischem Einfluss verloren hat. Er betont, dass er kein naiver Pazifist sei, der daran glaube, dass man dem Gegner nach einem Angriff auch die andere Wange hinhalten sollte.
Nun hat Amos Oz ein schmales neues Büchlein mit dem suggestiven und sanft-provokativen Titel «Liebe Fanatiker» veröffentlicht. Es handelt sich um drei – zum Teil schon früher geschriebene und neu überarbeitete – Essays, die sich alle mit Aspekten des religiösen und nationalen Fanatismus auseinandersetzen. Es versteht sich, dass der Autor sich dabei in erster Linie dem israelisch-palästinensischen Konflikt zuwendet, der heute von verschiedenen Seiten als unlösbar eingestuft wird.
Der Fanatismus, meint Oz, sei viel älter als der Islam, das Christentum oder das Judentum, älter als jede Ideologie auf der Welt. Fanatismus liege in der menschlichen Natur, er sei ein «schlechtes Gen». Je schwieriger und komplexer die Fragen würden, desto mehr Menschen verlangten nach einfachen Antworten, die klarstellten, wer schuld an ihrem Elend oder ihren Schwierigkeiten sei – die Globalisierung, die Muslime, der Westen, der Zionismus, die Flüchtlinge. In jedem kompromisslosen Dogmatismus und stur-feindseliger Ablehnung gegenüber Positionen, die man nicht akzeptiere, stecke auch ein «Kern von Fanatismus».
Grund für die Tempelzerstörungen
Im zweiten Essay beschäftigt sich Amos Oz vertieft mit der Frage, welche Bedeutung denn fanatische Tendenzen in der jüdischen Geschichte gehabt hätten. Von frühester Kindheit an werde in jüdischen Familien erzählt, dass die früheren Reiche Israels «wegen interner Streitigkeiten» und «aus grundlosem Hass» zerstört worden seien. Die Wahrheit sei jedoch, argumentiert der Autor, dass der Aufstand gegen die Römer, der zur Zerstörung des Zweiten Tempels führte, ebenso wie der Aufstand gegen Babylon, durch den der Erste Tempel zertrümmert wurde, nicht wegen «Bruderstreits» zum Scheitern verurteilt waren, «sondern wegen nationalem und religiösem Fanatismus, wegen des Grössenwahns von Führern und Geführten, die völlig den Bezug zur Realität verloren hatten».
Nach diesem kurzen historischen Rückblick nimmt Amos Oz unmittelbar Bezug auf die Gegenwart und wird sehr deutlich: «Auch dem Staat Israel von heute droht eine ähnliche Gefahr, wenn unsere jetzigen Fanatiker weiterhin mit dem Kopf gegen die Wand rennen.» Der israelische Schriftsteller geht noch weiter und warnt: «Wenn es hier nicht bald zwei Staaten geben wird», sei es ziemlich wahrscheinlich, dass «eine Diktatur extremistischer Juden, eine fanatische rassistische Diktatur entsteht, die mit eiserner Hand sowohl die Araber als auch ihre jüdischen Gegner unterdrücken wird.» Eine solche Diktatur werde sich jedoch nicht lange halten können. Und am Ende dieses Weges werde dann ein arabisch-palästinensischer Staat vom Mittelmeer bis zum Jordan die Konsequenz sein.
Unlösbarer Konflikt?
Inzwischen gebe es in Israel und unter seinen Freunden «alle möglichen Besserwisser», die erzählten, dass es keine Lösung für den israelisch-palästinensischen Konflikt gäbe, weshalb sie die Idee vom «Konfliktmanagement» propagierten. Diese angebliche Lösung werde genau so aussehen wie «die Serie von Kriegen im Norden und im Süden während der vergangenen Jahrzehnte», also die verschiedenen Libanon- und Gaza-Kriege sowie ein oder zwei neue Intifadas in Jerusalem und den besetzten Gebieten.
Amos Oz verweist in diesem Zusammenhang auf den saudischen Friedensvorschlag, der erstmals im Jahr 2002 präsentiert wurde. Dieser hatte die volle Normalisierung der Beziehungen aller arabischen Staaten mit Israel gegen die Räumung sämtlicher seit 1967 besetzten Gebiete angeboten. Natürlich müsse Israel ein solches Angebot nicht einfach unterschreiben, aber er hätte zumindest ernsthaft geprüft und diskutiert werden sollen, was bis heute nie geschehen sei. Stattdessen habe das «israelische Regime» «ungefähr ein Drittel des Bodens der Westbank geraubt, und das Rauben geht weiter». «Unsere Fanatiker sind davon überzeugt, dass die religiöse Pflicht uns dazu zwingt», alle mit diesen Annexionen verbundenen Gefahren zu ignorieren. Man flüchte sich in den religiösen Wahn «der Himmel wird uns schon retten».
Begeisterung über Trumps Wahl
Schliesslich äussert sich Amos Oz auch zur Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten. Dies habe die israelischen Siedler und ihre Unterstützer «derart aus dem Häuschen gebracht, als wäre es ihnen gelungen, eine neue Siedlung mitten im Weissen Haus zu errichten». Die Israelis sollten aber besser daran denken, dass die Mehrheit der amerikanischen Wähler nicht für Trump gestimmt habe. Und dass selbst Trump die Annexion der besetzten Gebiete und die Schaffung eines Gross-Israel, «in dem die Juden auf der Herrschaftsetage und die Palästinenser im Bedientestenkeller leben», nicht unterstütze.
Amos Oz erwähnt in seinem Büchlein an die «lieben Fanatiker» den Namen des israelischen Ministerpräsidenten nicht ein einziges Mal. Doch es gibt keine Zweifel, dass er mit seiner scharfen Kritik an der israelischen Regierungspolitik gegenüber den Palästinensern sehr wesentlich auf den Kurs des amtierenden Regierungschefs abzielt. Netanyahu steuert die israelische Regierung nun schon seit neun Jahren und er war schon zuvor zwei Mal Ministerpräsident.
Trotz einiger Anfechtungen und Skandale, die er trickreich auszusitzen wusste, scheint er heute fester denn je im Sattel zu sitzen – nicht zuletzt darum, weil er es verstanden hat, mit seiner stark nationalistisch eingefärbten Politik grosse Teile jener Gruppen, die Amos Oz dem Einzugsbereich der Fanatiker zurechnet (Siedler und ihr ideologisches Umfeld, Ultra-Religiöse, Immigranten russischer und orientalischer Herkunft) auf seine Seite zu ziehen.
Glücksspieler am Roulettetisch
Anders als Amos Oz befasst sich hingegen eine andere publizistische Stimme aus Israel sehr direkt mit der Person Netanyahus. Es ist die Stimme von Uri Avnery, der trotz seiner bereits 95 Jahre seit Jahrzehnten unverdrossen für einen Kompromissfrieden mit den Palästinensern trommelt. Avnery ist in Deutschland geboren, er kam als Zehnjähriger nach Israel und war später mehrmals Abgeordneter in der Knesset. Seine unkonventionellen politischen Meinungen verbreitet er heute hauptsächlich durch Internet-Kolumnen in verschiedenen Sprachen, die sich durch scharfsichtige Argumentation und breites historisches Wissen auszeichnen.
In seiner jüngsten Kolumne vergleichet Avnery Netanyahu mit einem Glücksspieler am Roulettetisch, der sehr viel Glück hat. «Der Chip-Haufen vor dem Spieler wird immer grösser.» Das ganze Land, schreibt Avnery, sehe heute Netanyahus Glück, deshalb steige auch eine Popularität. Sogar der amerikanische Präsident komme allen Wünschen des israelischen Führers entgegen und verlege genau zum 70. israelischen Nationalfeiertag die US-Botschaft nach Jerusalem. Auch Putin verstehe sich überraschend gut mit Netanyahu und Saudi-Arabien arbeite neuerdings fast offen mit ihm zusammen.
Die Geschichte, schreibt Avnery weiter, sei voller Helden, die märchenhaftes Glück hatten, bis ihr Schicksalstag kam – Napoleon zum Beispiel oder sein deutsches Eroberer-Pendant im 20. Jahrhundert. «Sie gingen einen Schritt zu weit und stürzten in den Abgrund.»
Die Weisheit würde sagen, Netanyahu sollte jetzt die gewonnen Chips einlösen und er sollte den Palästinensern und der gesamten arabischen Welt ein grosszügiges Friedensangebot machen. «Es ist immer gut, wenn ein Land Frieden schliesst, solange es auf dem Höhepunkt seiner Kraft ist.»
In Richtung Apartheid
Avnery glaubt allerdings nicht daran, dass Netanyahu je ein solches Angebot machen werde. Selbst wenn ein neuer Krieg vermieden werden könne, so führe sein jetziger Kurs doch «in Richtung eines Apartheidstaates.» So werde Israel sich zu einem binationalen Staat verwandeln, mit immer kleiner werdenden jüdischen Minderheit, da viele Juden in einem solchen Land nicht leben wollten.
Das tönt ähnlich düster wie die pessimistische Variante der Prognose von Amos Oz. Ob Netanyahu, dem namentlich seit Trumps Einzug ins Weisse Haus so erstaunlich vieles gelingt und der deshalb zurzeit in Israel keinerlei Konkurrenz haben zu scheint, solche unbequemen Stimmen erfahrener Patrioten überhaupt wahrnimmt?
Amos Oz: Liebe Fanatiker. Drei Plädoyers, Suhrkamp Berlin, 2018
Uri Avnery: Glück eines Spielers