Eigentlich müssten sich die Männer freuen, denn dieser Tag des Frauen-Fastens ist den Ehemännern gewidmet, damit sie lange leben mögen, ihren Familien Sorge tragen, und natürlich lieb sind mit ihren Gattinnen.
Es ist ein anstrengender Tag. Die Frauen einer Grossfamilie stehen vor Morgengrauen auf, essen und trinken, bevor sie den Tag zusammen verbringen, ohne auch nur Wasser zu kosten. Pujas werden durchgeführt, Hände und Füsse mit Henna bemalt, Geschichten von ehelicher Treue erzählt. Alle kreisen um einen Tonkrug (‚Karva‘), dem traditionellen Wasser- und Kornspeicher und damit Symbol von Fülle und Fruchtbarkeit. Geschenke werden ihm entnommen und ausgetauscht, und am Abend wird er bis zum Rand mit Wasser gefüllt.
Die Frauen setzen sich auf die Dachterrasse und erwarten den Mond. Sobald sie ihn im Wasser des Krugs gespiegelt sehen – und zwar so klar, dass er durch ein Sieb oder einen Baumwollschleier sichtbar ist – ist das Fasten zu Ende. Das Gesicht des Gatten erscheint nun ebenfalls im Widerschein des Wassers, ein Zeichen für die Frau, dass sie ihn nun von Angesicht zu Angesicht anschauen und von ihm einen symbolischen Bissen Nahrung entgegennehmen darf.
Wer glaubt, dass sich dieser nordindische Brauch überlebt hat, irrt sich. Er mag noch so sehr mit den Zyklen einer bäuerlichen und patriarchalischen Gesellschaft zusammenhängen, zu Beginn der Aussaat, wenn sich der Nachthimmel von den Monsunwolken geleert hat und das Dorf in Mondlicht getaucht wird. Nahezu vierzig Prozent der indischen Bevölkerung leben unterdessen in Städten, in winzigen Wohnungen eines Wohnblocks. Die Grossfamilie, die früher unter einem Dach hauste, ist oft über ganz Indien verstreut. In knapp der Hälfte dieser städtischen Haushalte geht auch die Frau einer Lohnarbeit nach, sei es als Teil der Karriere oder aus purer wirtschaftlicher Not.
Kompensatorische Sinnsuche
Dennoch zeigt dieser alte Zopf von einem Ritual keine Zeichen der Schwindsucht. Im Gegenteil, inzwischen wird Karva Chauth auch in Bengalen und Maharashtra gefeiert, und er breitet sich sogar nach Südindien aus, das über nordindische Importe sonst die Nase rümpft. Es ist wie bei den meisten religiösen Bräuchen: Globalisierung und Modernität haben Tempelbesuch und Pilgerreisen, religiöse Eherituale und die Wahl eines Gurus eher gefördert als verdrängt. Soziologen sehen darin eine kompensatorische Sinnsuche, wenn der hedonistische Konsum sein Versprechen von Lebensfülle nicht einzuhalten vermag.
Der Beweis dafür ist paradoxerweise der Markt, der für die Sinnentleerung verantwortlich ist – und sich dieser Sehnsucht nach Lebenssinn nun sofort bemächtigt. Man braucht dafür nur die Werbung anzuschauen, die dieser Tage über die Fernsehschirme flimmert. Auch nur der Hauch von ‚Austauschs‘ im Karva Chauth-Brauch wird kommerziell genutzt. Die kleinen Geschenke im Tonbehälter? Im Werbespot werden sie zu einem Füllhorn von Waren – Haushaltgeräte, Früchtekörbe, Parfums. Und die winzige Geste des Anbeissens einer Süssigkeit, die der Ehemann der Frau am Ende des Fastens an die Lippen presst? Sie wird zur Geschenkorgie aufgeblasen, die bis zu Goldschmuck und, warum nicht, einem Kleinauto gehen kann. Natürlich ziert im TV-Spot der rote Farbtupfer einer Puja-Zeremonie die Motorhaube des kleinen Chevrolets, und um das Steuer windet sich eine Girlande.
Krude Abwertung der Frau
Dasselbe gilt für die Geschlechterrollen. Schul- und Berufsbildung haben die Frau wirtschaftlich unabhängiger gemacht – haben sie damit auch ihr Wertgefühl gestärkt? Wenn die Akzeptanz von Mädchen als ‚Wunschkinder‘ ein verlässlicher Gradmesser dafür ist, reden die Ergebnisse der letzten Volkszählung eine deutliche Sprache. Nicht nur hat der Anteil von Mädchengeburten in den letzten zehn Jahren weiter abgenommen; es sind die städtischen Regionen und die wirtschaftlich starken Bundesstaaten, in denen dieser Trend besonders akut ist.
Im Industriestaat Maharashtra ist die Quote von 913 (2001) auf 883(2011) gesunken, will sagen: auf 1000 Knaben kommen 883 Mädchen (weltweit liegt der Anteil der Mädchen über jenem der Buben). Mag sein, dass der Zugang zu einem (illegalen) Sonogramm in der Stadt leichter fällt als in einem Dorf, um einen weiblichen Fötus abzutreiben. Aber zwingt dies nicht zur Folgerung, dass dieser technische Trick gerade bei der städtischen Mittelschicht besonders fleissig genutzt wird? Nur in der Kindersterblichkeit – von 0 bis 5 Jahren – und dem Schulbesuch von Mädchen steht das ländliche Indien noch schlechter da als das städtische. Und in der Krudheit, mit der die Abwertung der Frau dort zum Ausdruck kommt.
“Nakushi“ – ungewollt
Dies wurde mir kürzlich drastisch vor Augen geführt, als ich von den ‚Nakushi‘ hörte. Ein Gesundheitsbeamter in Satara in Maharashtra traf auf das Wort, als er zufällig die Namensschilder eines Hauseingangs las. Er hörte sich um und stellte fest, dass viele Eltern das jüngste Kind, wenn es (wieder) ein Mädchen ist, ‚Nakushi‘ nennen – ‚Ungewollt‘, ‚Unerwünscht‘. Sie heften der Tochter damit quasi einen Judenstern auf die Brust, denn damit wird ihr auch die ‚Taufe‘ der Namensgebung verweigert und damit das Ritual, das sie zu einem Teil der Gesellschaft macht. ‚Nakushi‘ ist ein Unwort, ein Name, der sich selbst – und damit seine Trägerin – verneint.
Der Distrikt-Magistrat von Satara heisst Dr. Ramaswamy. Als er von diesem barbarischen Brauch hörte, machte er weitere Nachforschungen und fand heraus, dass allein in seinem Bezirk über 900 ‚Nakushi‘ leben. (Und es gäbe wohl noch viele mehr, wenn sie ihre ersten Kinderjahre überlebt hätten.) Er begann eine Aufklärungskampagne, und weil die meisten Mädchen aus armen Familien kommen, versprach er ‚mädchenreichen‘ Familien besondere Vergünstigungen. Sie sollen damit zumindest die Zuversicht erhalten, dass ihre wirtschaftliche Not mit einem zusätzlichen Mädchen nicht noch schlimmer geworden ist.
Massentaufe für 222 „ungewollte“ Mädchen
Vor einigen Tagen statuierte er auch ein klares politisches Bekenntnis zur Gleichberechtigung der Geschlechter, als er auf einer Strassenbühne in Satara die erste öffentliche Massentaufe durchführte. 222 ‚Nakushi‘ erhielten von ihren Eltern einen neuen Namen, unter den Augen von Dr. Ramaswamy und eines Emissärs des Chefministers von Maharashtra, dessen Wahlbezirk Satara ist. Und unter den Konterfeis einiger Frauen – der Astronautin Kalpana Sharma, der verstorbenen Premierministerin Indira Gandhi, und von Pratibha Patil, ihres Zeichens Staatspräsidentin, und aus einem Nachbardistrikt stammend. Ob auch diese Mädchen einmal Gelegenheit haben werden, ‚Karva Chauth‘ zu feiern? Wahrscheinlich werden sie es so halten wie die vielen Frauen, die den Brauch ein klein bisschen verändert haben: Statt für den Ehemann beten sie für einen Ehemann. Damit sich eines Tages nicht nur der Mond im Wasser spiegelt.