Erdoğan und seine Gefolgsleute der regierenden AKP werden alles tun, um die Wahlen für sich zu entscheiden. Gewinnt der Präsident, würde er die uneingeschränkte Macht eines Sultans erringen.
Es werden ungleiche Wahlen sein. Noch immer gilt in der Türkei der Notstand. Dieser erlaubt es dem Präsidenten, durch Dekret zu regieren. Mit den Vollmachten, die ihm der ausgerufene Notstand bringt, konnte und kann er die Wahlen für sich beeinflussen und die Chancen seiner Gegner reduzieren.
Wirtschaftsturbulenzen
Trotz alldem ist der Sieg Erdoğans nicht gesichert. Sein Machtstreben hat die Türkei in zwei beinahe gleiche Hälften gespalten. Alle vorausgehenden Wahlen und Abstimmungen haben gezeigt, dass Erdoğan etwa 52 Prozent und die Opposition etwa 48 Prozent der Anhänger mobilisieren konnte. Jetzt kommt allerdings ein neuer Faktor dazu, vor dem sich Erdoğan fürchten muss.
Erdoğan war sich bewusst, dass wirtschaftliche Schwierigkeiten bevorstehen, nachdem sein Regime in den vorausgegangenen 16 Jahren stets wirtschaftliche Erfolge hatte aufweisen können. Das war ein wichtiger Grund dafür, dass er alle Wahlen und Plebiszite gewonnen hatte. Weil er die kommenden Wirtschaftsprobleme voraussah, hatte er die jetzigen Wahlen vorverlegt. Sie waren ursprünglich auf August 2019 angesetzt und angekündigt.
Wirtschaftskrise?
Die Wirtschaftsturbulenzen, die sich leicht bis zu einer Wirtschaftskrise ausweiten könnten, sind in den letzten Wochen für die ganze Bevölkerung schmerzlich spürbar geworden. Die türkische Währung verliert dauernd an Wert gegenüber dem Dollar. Die Inflation steigt, die Arbeitslosenquote wächst. Die ärmeren Bevölkerungsteile müssen schon heute ihre Mahlzeiten einschränken. Die Aussichten für die Geschäftsleute stehen schlecht, weil Staat und Privatwirtschaft hohe Auslandsschulden in Dollar häufte, und diese mit der Entwertung der türkischen Lira weiter wachsen. Dies alles schreckt ausländische Investoren ab.
Die „Nationalisierung“ sämtlicher Unternehmen, die der Gülen-Bewegung nahegestanden sein sollen, hat die Produktivität reduziert. Unter all diesen Umständen ist es unvermeidlich, dass sich die wirtschaftlichen Rückschläge auf die Stimmung der Wählerinnen und Wähler niederschlagen.
Wer ist Schuld an den Wirtschaftsproblemen?
Für die Wahlpropaganda verkünden der Präsident und die Opposition ihre je eigene Theorie darüber, warum die Wirtschaft leidet. Für Erdoğan liegt der Grund in der feindlichen Haltung des Auslands, das die Krise provoziert habe, um ihm zu schaden. Diese Sicht der Dinge wird auch von den meisten Medien verbreitet. Radio, Fernsehen und viele Zeitungen sind längst zum Sprachrohr des Präsidenten geworden. Der Druck aus dem Ausland und „fremde Agenten“ wollten ihm schaden, wiederholt Erdoğan in seinen mehrmals täglich gehaltenen Wahlkampfreden.
Seine Medien verweisen in erster Linie auf die USA, mit denen in der Tat mehrere Streitpunkte bestehen. Da geht es um die Kurdenfrage, um gefangen gehaltene US-Bürger und um die türkische Forderung, Gülen auszuliefern. Ferner verbreiten Erdoğan und seine Medien den Vorwurf, die türkische Wirtschaft leide, weil sie vom Ausland boykottiert werde. Diese stark simplifizierende und demagogische These ist nicht sehr überzeugend. Doch die Intensität, mit der sie verbreitet wird, dürfte nicht ohne Wirkung bleiben.
Überzogene Kredite
Die Gegenseite weist darauf hin, dass die von Erdoğan initiierte Wirtschaftsexpansion zu einem wichtigen Teil mit Auslandanleihen finanziert wird. Nun seien die Kredite überzogen. Dennoch gedenke Erdoğan seine Grossbauvorhaben weiter zu führen: Noch ein Grossflughafen, noch eine neue Bosporusbrücke, immer mehr Quartiere mit Luxuswohnungen und Shopping Malls. Die Bevölkerung wird nicht gefragt, ob sie das alles will. Die Grossaufträge erhalten Bauunternehmer und Finanzleute, die Erdoğans AKP angehören.
Bekannt wurde dieses Geflecht zwischen AKP und Bauunternehmer erstmals während den Demonstrationen im Gezi-Park im Sommer 2013. Damals starben sieben Menschen, 7’000 wurden verletzt. Ausgelöst worden waren die Manifestationen, weil die Regierung Bauunternehmern die Erlaubnis gab, im kleinen Gezi-Park im Zentrum von Istanbul grosse Überbauungsprojekte zu realisieren.
Propagandavorteil
Dass in der Tat die Wirtschaftsexpansion durch staatliche Grossbauprojekte nicht uneingeschränkt andauern kann, ist die viel wahrscheinlichere Ursache für die jetzige Krise als die Behauptung, die Türkei werde vom Ausland boykottiert.
Doch Erdoğans Erklärung für die Krise hat den Vorteil, dass sie von ihm und seinen Medien massiv verbreitet wird. Wer überhaupt noch andere Meinungen vertritt, muss leise auftreten, wenn er vermeiden will, auf unbestimmte Zeit im Gefängnis zu landen.
Kandidatur aus dem Sicherheitsgefängnis
Ein Gegenkandidat Erdoğans ist Salahettin Demirtaş. Er bewirbt sich aus dem Hochsicherheitsgefängnis von Edirne um das Präsidentenamt. Der populäre und einfallsreiche bisherige Vorsitzende der pro-kurdischen Linkspartei HDP sitzt seit dem 2. November 2016 in Untersuchungshaft, ohne bisher verurteilt worden zu sein. Auch seine Kollegin und Ko-Präsidentin der HDP, Figen Yüksekek, war festgenommen worden und musste auf Befehl der Regierung ihre Ko-Präsidentenschaft aufgeben.
Demirtaş hat das Recht, sich zu bewerben. Er darf jede Woche 10 Minuten lang mit seiner Familie telefonieren. Er nützt diese Gelegenheit, um Kurzmitteilungen an seine Anhänger zu übermitteln. Diese Botschaften werden dann über Twitter verbreitet. Als Kandidat für die Präsidentschaft durfte er auch zehn Minuten lang am staatlichen Fernsehen auftreten, was er von seiner Zelle aus tat. Sein Wahlsymbol ist ein mit Handschellen ausgestatteter elektrischer Wasserkocher, weil die Polizisten, die seine Zelle durchsuchten, vermutetet hätten, die vielen Meldungen, die er nach aussen sandte, könnten aus seinem elektrischen Kocher stammen.
Redegewandter Hauptgegner Erdoğans
Der wichtigste Gegenkandidat gegen Erdoğan ist Muharram İnce, den die grösste Oppositionspartei, die CHP (Republikanische Volkspartei) aufgestellt hat. Er ist rhetorisch Erdoğan gewachsen und zieht in Wahlversammlungen gewaltige Volksmengen an. Er war Physiklehrer bis zu seinem Aufstieg in der Partei. Wie Erdoğan betont er, dass er aus dem Volk stamme und es daher verstehe.
Er verspricht, am ersten Tag nach seiner Wahl werde er den Notstand aufheben und den Präsidentenpalast Erdoğans an den Meistbietenden verkaufen. Dieser Palast auf den Anhöhen über Ankara ist grösser als Versailles. Falls Erdoğan gewählt würde, sagt İnce, würde die Türkei „durch die Lippen eines einzigen Mannes regiert“.
Rechsaussenopposition
Neben İnce und Demirtaş tritt auch die „Mutter der Grauen Wölfe“, Meral Aksener, als Präsidentenkandatin auf. Aksener hat Teile der ultra-nationalistischen MHP-Partei abgespalten und mit ihnen ihre eigene Iyi-Partei (Partei des Guten) gebildet. Dies deshalb, weil sie das Wahlbündnis, das der MHP-Parteivorsitzende, Devlet Bahçeli, mit der AKP abgeschlossen hat, missbilligte.
Sie ist eine bittere Feindin der Kurden. Diese bezeichnen sie als „reine Faschistin“. Auch sie könnte von der schlechten Wirtschaftslage profitieren. Doch ob sie die 10-Prozent-Hürde übersteigen kann, ist ungewiss.
Gewinnt Erdogn im ersten Wahlgang?
Im bevorstehenden Wahlgang geht es zunächst darum, ob Erdoğan und seine Partei (Partei und Präsident werden gleichzeitig gewählt) die absolute Mehrheit erreichen. Wenn nicht, findet ein zweiter Wahlgang für die Präsidentschaft statt. Für diesen müssen sich die Gegner des Präsidenten auf einen einzigen Gegenkandidaten einigen. Dieser wird, wenn es dazu kommt, allem Ermessen nach Muharram İnce sein.
Doch der gefangene Demirtaş könnte für den ersten Wahlgang das Zünglein an der Waage sein. Wenn seine Partei die 10-Prozent-Hürde überspringt, kann sie Abgeordnete ins Parlament entsenden. Ihre Stimmen zählen dann mit gegen Erdoğan. Doch wenn die HDP unter 10 Prozent liegt, werden ihre Stimmen proportional unter die verbliebenen Parteien verteilt, und die AKP sowie Erdoğan werden davon am meisten profitieren. Deshalb versucht die AKP gegenwärtig mit allen Kräften, die HDP-Anhänger auszuschalten.
Die Kurdengebiete unter Militärbesetzung
Der Hauptzweig der HDP-Anhänger sind Kurden. In den kurdischen Teilen der Türkei herrscht nicht nur der Notstand. Die Kurdengebiete sind militärisch besetzt – alles im Zeichen des Kampfes gegen die PKK. So gut wie alle gewählten Bürgermeister, von denen viele der HDP angehörten, wurden abgesetzt, teils ins Gefängnis geworfen und von Regierungsvertretern ersetzt. Ob und wie die Kurden unter diesen Umständen überhaupt abstimmen können und wollen, ist unklar. Die Regierung verfügt jedenfalls über die Möglichkeit, die Wahlurnen in den kurdischen Gebieten nach ihrem Ermessen zu füllen.