Die 42jährige, rothaarige, verheiratete Journalistin und zweifache Mutter ist eine bekannte Persönlichkeit in der Kulturlandschaft der Romandie. Sie ist eine vielgelesene Literaturkritikerin. Sie wurde auch im Vorfeld der Eröffnung ihrer ersten Buchmesse in der welschen Migros-Zeitung in einer mehrseitigen Reportage als ausgezeichnete Köchin gerühmt und ihre „Geheimrezepte“ veröffentlicht.
Ob sie ein Erfolgsrezept hat, um der nach 25 Jahren vielfach als überholt und veraltet, als nicht mehr zeitgemäss betrachtete Buchmesse ein neues Leben zu verleihen, bleibt vorerst noch ein ungelüftetes Geheimnis. Sicher ist, dass Falconnier ein schwieriges Amt übernommen hat. Sie muss in ihrer Kulturküche jedenfalls über ein Geheimrezept verfügen, will sie die Veranstaltung im Genfer Palexpo für alle Kulturinteressierten wieder schmackhaft machen. Sie muss mit einem komplett erneuerten Menü aufwarten und rasch und schockartig so etwas wie ein „Effet de nouvelle cuisine“ hervorzaubern. Man darf es ihr wohl zumuten, bis in einem Jahr eine nachhaltige Wende sichtbar machen zu können. Gewisse Spuren ihrer Handschrift waren dieses Jahr bereits zu erkennen und dies nicht bloss in einem der erotischen Literatur gewidmeten Sektor.
Ein Jahr Ferla
Für eine Neuausrichtung der Messe waren die Weichen allerdings bei ihrer Nominierung weitgehend gestellt. Die Messe stand nämlich schon letztes Jahr unter neuer Leitung. Für einen vielversprechenden Neubeginn sorgte der nahezu vier Jahrzehnte beim Westschweizer Radio tätige Patrik Ferla, ein äusserst begabter und vielseitiger, origineller Kulturmensch, der für das kulturelle Niveau des Senders massgebend wirkte. Ferla hatte 2011 die Nachfolge des Gründers der Buchmesse, Pierre-Marcel Favre übernommen. Favre hat eindeutig mit der Messe eine Kulturveranstaltung aufgebaut, die internationales Renommée erlangt hatte. Er hat die Kultur in die vom Nimbus des prestigeträchtigen Autosalons erfüllten Palexpo-Hallen geholt und so dem Genfer Messeplatz neue Dimensionen verliehen. Doch mit den Jahren kam auch die Buchmesse „in die Jahre“. Sie war zu einer Art Jahrmarkt verkommen, unter der Sammelbezeichnung „Village alternatif“ waren politisch ausgerichtete Drittweltorganisationen, religiöse Vereinigungen aus aller Welt, usw. unüberseh- und -hörbar oft tonangebend versammelt. Dazwischen standen ein Kinderkarussell, diverse Verkaufsstände und vieles mehr. Die Literatur wurde da oft Nebensache. An Gründen hierfür fehlte es sicher nicht, schliesslich mussten Quadratmeter Standflächen vermietet werden.
Ferla war dies ein Dorn im Auge, er träumte von Kultur und Literatur ohne Kommerz, und er versuchte unverzüglich die Messestruktur umzukrempeln. Erfolge blieben nicht aus, das war vor allem bei einem Besuch der letztjährigen Messe wohltuend aufgefallen. Doch Ferla ist nicht mehr da. Er hat die Organisation im letzten Sommer überraschend auf Knall und Fall wieder verlassen. „Die Voraussetzungen, wie ich sie erwartet und wie ich sie mir vorgestellt hatte, waren nicht gegeben, um weiter positiv wirken zu können“, vertraute er mir an, als ich ihn nun am Stand von Radio Suisse Romande traf, wieder zurück in seiner vertrauten Radiowelt.
Begegnung mit Rousseau
An Attraktivität und Vielseitigkeit mangelte es der diesjährigen Messe bestimmt nicht. Über 400 Aussteller hatten abertausende von Büchern ausgebreitet, weit über 100 Autoren waren aufgeboten worden. Die Liste der anwesenden Schriftsteller füllte ganze Seiten im Programmheft. Die mehr oder weniger illustren Gäste signierten während fünf Tagen ihre Werke. Sie trafen ihre Leserschaft bei unzähligen Vorlesungen und Forum-Gesprächen. Stolz nannte Isabelle Falconnier Namen wie Frédéric Beigbeder, Marie Laberge, der Amerikaner Douglas Kennedy, Pascal Bruckner, Paulo Coelho, Anne Cuneo, Tristane Banon (deren Bekanntheitsgrad nicht zuletzt in ihrem Kampf gegen Dominique Strauss-Kahn/ DSK wurzelt), ohne der stets omnipräsenten Jean Ziegler zu vergessen und viele mehr. Die neue Direktorin, „Miss Falconnier“ wie sie der französische Akademiker François Weyergans liebevoll betitelt und ihr Erfolg wünscht, will nach eigenen Aussagen künftig vermehrt Autoren und Leserinnen und Leser zusammen bringen. Die Messe habe „eine Brückenfunktion“, ist sie überzeugt.
Auf Schritt und Tritt begegneten die Besucherinnen und Besucher dieses Jahr einem ganz besonderen Gast: Jean-Jacques Rousseau (1712 – 1778). Genf feiert schliesslich dieses Jahr den 300. Geburtstag des berühmten Philosophen, der die Kultur seiner Geburtsstadt nicht weniger nachhaltig prägte als ein Jean Calvin (1509 – 1564).
Keine „nationale“ Messe
Im Vordergrund der Messe standen wie üblich vorwiegend französische Grossverlage. Die Messe ist in erster Linie die Messe der französischsprachigen Literatur, ob nun mit schweizerischen, französischen, belgischen, kanadischen oder afrikanischen Wurzeln (zum 9.Mal übte der „Salon africain“ seine Anziehungskraft aus). Deutschsprachige Literatur nimmt in diesem gigantischen Schaufenster nur ein kleines Plätzchen ein. Deutschschweizer Verlage sind mit einem bescheidenen Gemeinschaftsstand präsent (und leider zufrieden). Erstmals zeigt sich BuchBasel. Ob sich hier eine wünschenswerte Zusammenarbeit zwischen der grossen Buchmesse am Genfersee und der kleinen Schwester am Rhein herauslesen lässt, bleibt eine offene Frage. Längstens vergessen sind die Zeiten wo noch ein Extrazug, ein eigentlicher „Literaturzug“, von Zürich nach Genf fuhr. Die Schweiz braucht nicht nur eine „internationale“ Buchmesse, sondern auch eine „nationale“, eine auf den gesamten schweizerischen Buchmarkt ausgerichteten Veranstaltung, die zu Beginn dieses dritten Jahrtausend und im Zeitalter der Globalisierung kaum noch kleinkarierte, sprachliche Einschränkungen verträgt. Auch das ist eine Voraussetzung und eine Chance für eine sichere Zukunft der Genfer Messe. Eine rasch wahrzunehmende Herausforderung auch für Isabelle Falconnier.
Glanzvolle marokkanische Präsenz
Der internationale Charakter der Genfer Messe ist natürlich erfreulich. Er widerspiegelt sich nicht nur im Ausstellerverzeichnis, glanzvollen Ausdruck findet er jeweils in der Präsenz der ausländischen Ehrengäste. Dieses Jahr war Marokko an der Reihe. In einer hochkarätigen, aufwendigen und spektakulären Schau zeigte der nordafrikanische Staat den vielfältigen kulturellen Reichtum seiner Geschichte. Wie ein roter Faden zog sich die Präsenz durch die ganzen Messehallen hindurch. Nichts wurde vernachlässigt, von der Gastronomie bis zur Kunst der Gegenwart. Vermisst wurde lediglich ein ungeschminkter Einblick in die politische und soziale Gegenwart Marokkos.
Ein Pavillon für Auguste Courbet
Auch die Kunst hat im Salon einen würdigen Platz eingenommen. Eine logische Erweiterung der literarischen Ausdrucksformen. Jedes Jahr wird einem grossen Künstler einen speziellen Pavillon reserviert. Nach den Giacomettis, Valloton und anderen Berühmtheiten, kam dieses Jahr dem aus der benachbarten Franche-Comté stammende Gustave Courbet (1819 – 1877) die Ehre zu. Courbet, dessen Werk von der ländlichen Natur seiner Heimat und den Menschen geprägt ist und dem eigentlichen Realismus in der Malerei den Weg wies, war in den letzten fünf Lebensjahre in der Schweiz im Exil (seine revolutionäre Aktivitäten hatten ihn gezwungen, Frankreich zu verlassen). Die traditionelle Ausstellung wurde dieses Jahr nahtlos in die Buchmesse integriert und der offene Pavillon verfehlte die magnetartige Wirkung nicht. Der Weg vom Buch zur Malerei kannte keinen Umweg mehr. Die Courbet-Ausstellung war hochprofessionell aufgebaut, in enger Zusammenarbeit mit dem Institut und Musée Courbet in Ornans (Département du Jura), Geburtsstadt des Künstlers.
Eine weitere Kunstveranstaltung findet jeweils mehr oder weniger Beachtung. Unabhängig von der Buchmesse aber doch direkt mit ihr verbunden (und wohl von ihr profitierend) ist eine seit Jahren einen Stock höher eingerichtete Ausstellung. Als Europ’art kam ihr eine eher vernachlässigende Bedeutung zu. Vor einem Jahr nun hatten die Kunstgalerien, es ist ihre Ausstellung, einen neuen Namen für ihren Auftritt gefunden: Art by Genève. Eine vielversprechende Aufwertung und Erneuerung zeichnete sich ab. Doch bereits dieses Jahr überraschte ein neuer Name: Artgenève. Ein neues Logo und neues Design weisen erneut auf eine Wende hin. Die Ausstellung wird ab nächstem Jahr zudem separat und zu einem anderen Zeitpunkt durchgeführt. Träumt Palexpo etwa von einem Neubeginn à la Art Basel und beabsichtigt vielleicht eine parallele Konkurrenz-Veranstaltung aufzugleisen? Schon manche Stadt hat es gewagt, nicht unbedingt mit Erfolg.
Mehr Besucher – mehr Umsatz
Dem Salon international du Livre et de la Presse 2012 war ein Erfolg beschieden. Die Zahl der Eintritte hatte sich gegenüber dem Vorjahr um 10 Prozent auf 92 000 erhöht (BuchBasel verzeichnete 20 200 Eintritte). Die 100 000-Grenze, die noch vor zwei Jahren überschritten wurde, liegt also noch weit zurück. Die Besucherinnen und Besucher kommen vorwiegend aus der Romandie und dem benachbarten Frankreich. Dass die Romands in Scharen kommen verwundert kaum, sie gelten als begeisterte Leser. Gemäss einer neusten Umfrage haben 55 Prozent der Welschschweizer letztes Jahr zwischen 6 und 20 Bücher gelesen. Mit eindeutiger Vorliebe ausschliesslich Printprodukte. Nur gerade ein Leser auf 300 gab dem eBook den Vorzug (auf der Messe waren elektronische Lesegeräte übrigens nur spärlich vertreten). Mehrheitlich zufrieden äusserten sich nach Messeschluss auch die Aussteller, konnten sie doch wachsende Umsatzzahlen bekannt geben. Von Krise in der Buchbranche war somit an der Veranstaltung wenig zu spüren, auch wenn einzelne Verlage und Grossbuchhandlungen (beispielweise die französische und auch in der Schweiz vertretene Fnac) auf eine Messebeteiligung verzichtet hatten.
Die Freude am Buch
„Es gibt hunderte von Buchmessen“ schrieb der französische Schriftsteller François Weyergans, Mitglied der Académie Française in einem Leitartikel zur Genfer Buchmesse in der Tageszeitung Le Temps. Und er fügte bei: „Sie alle langweilen mich, es gibt aber nicht schöneres als Lesen“. Das Beste an den Messen seien „die Verlags-Kataloge, man sollte sie kiloweise heimtragen. Sie erlauben zu träumen“.
Die zahlreichen Besucher der Genfer Messe verliessen Palexpo kaum enttäuscht. Und sie trugen in der Tat auch kiloweise Kataloge nachhause. Aber auch viele Bücher. Die Freude am Buch, die Freude am Lesen ist noch lebendig.