Von Martin Ebner
Innovation, Avantgarde, moderne Kultur oder gar „schöpferische Kraft junger Menschen“: die Minister und Sponsoren, die zur Verleihung der Goldenen Nicas im Brucknerhaus aufmarschierten, warfen mit zukunftsorientiertem Vokabular um sich. Viele Künstler scheinen dagegen genug zu haben von Cyberspace, Futurelab und all dem neuen Zeug. Jedenfalls präsentierten sie Anfang September in Linz auch Installationen mit urigen Tonbändern, Dudelsäcke ohne USB-Anschluss, Film-Vorführgeräte mit Fahrrad-Antrieb. Für Retro-Stimmung sorgten auf der diesjährigen Ars Electronica mehrere Veranstaltungen, die Veteranen der Medienkunst ehrten.
Mit 35 ist man ja auch nicht mehr ganz jung: Das „Festival für Kunst, Technologie und Gesellschaft“ gibt es seit 1979. Der „Prix Ars Electronica“ startete 1987 mit 700 Einreichungen in drei Kategorien. Der Wettbewerb, der „Gradmesser und Leistungsschau der digitalen Kunst weltweit“ sein will, mauserte sich seither zur Großveranstaltung. Letztes Jahr wurde es den Juroren mit 4.000 Beiträgen in sieben Kategorien zu viel; die Direktoren Christine Schöpf und Gerfried Stocker sahen die „Kapazitätsgrenze“ erreicht. Jetzt werden vier Kategorien nur noch biennal ausgeschrieben. Preise für „Hybrid Art“ und „Digital Musics“ wird es deshalb erst nächstes Jahr wieder geben. Heuer bewarben sich 2.700 Projekte aus 77 Ländern um fünf jeweils mit 10.000 Euro dotierte Goldene Nicas.
Das Thema der Ars Electronica 2014 war „Change“. Um Veränderung nicht nur von anderen zu fordern, wurden die mehr als 400 Einzelveranstaltungen über die ganze Innenstadt verstreut: Der Mariendom verwandelte sich in ein Kunsthaus, das Akademische Gymnasium wurde von Hubschrauber-Bastlern und Youtube-Filmern besetzt, vor der Sparkasse ratterte ein Musikroboter. In einer Ladenpassage verarbeitete die holländische Recyclinganlage „Perpetual Plastic“ Kunststoffbecher mit Hilfe von 3D-Druckern zu Fingerringen. Animationsfilme liefen im Lentos-Kunstmuseum, im Kino Central und auch sonst überall.
Gut zu Fuß musste sein, wer wissen wollte, was sich hinter dem Motto „Chaos, Fascism or Paradise?“ der taiwanesischen Kunstausstellung „Buddha on the Beach“ verbarg. Die Werke der koreanischen „Featured Artists“ Shin Seung Back und Kim Yong Hun fielen in dem Trubel nicht weiter auf. Und wo war noch mal der „Future Innovators Summit“ mit einem Vortrag des Kodak-Foto-Veterans K.Bradley Paxton? Fünf Tage lang versuchten rund 80.000 Besucher, mit dem Programm Schritt zu halten, während in Linz gleichzeitig das neue Schuljahr startete, sich Nonnen zu einer Konferenz trafen und an der Donau die „Klangwolke“-Musiknacht mit einem Feuerwerk endete.
Im Gedränge ging der Überblick schon mal verloren. „Die Kunstinstallationen, zum Großteil in einem Einkaufszentrum, wirken beliebig. Die Eröffnung misslang“, moserte „Die Presse“ aus Wien. Die Eröffnung war aber gar nicht in der Shopping-Arkade, sondern sehr poetisch im Ars-Electronica-Center, wo die japanische Pianistin Maki Namekawa ein musikalisches Märchen über einen Kranich erzählte. Und die meiste Kunst war im OK-Kulturhaus zu sehen, nämlich die Arbeiten der diesjährigen Preisträger. Außerdem bot das OK die erste Personale von Bill Fontana im deutschsprachigen Raum. Der 67jährige Klangkünstler produzierte für diese Werkschau ein neues Stück und verwandelte das Walzwerk der Voest in ein akustisches und visuelles Instrument. Das neue Linzer Kulturstadt-Image wird von der alten Stahlindustrie gesponsert.
Erstmals wurde heuer eine Goldene Nica für einen „Visionary Pioneer of Media Art“ vergeben. Dafür wurden die rund 200 bisherigen Preisträger der Ars Electronica befragt – sie wählten den Engländer Roy Ascott. Der Künstler und Theoretiker, gerade auf der Durchreise von Brasilien nach Shanghai, bedankte sich für dieses Geschenk zu seinem 80. Geburtstag mit einem Vortrag über Bewusstseinszustände und Out-of-Body-Erfahrungen: Das Selbst splitte sich heute auf, allein schon weil jeder Mensch mehrere Avatare und E-Mail-Adressen haben könne.
Die Goldene Nica für „Computer Animation“ ging an den englischen Film „Walking City“, der ein Monster durch die Architekturgeschichte stapfen lässt. In der Kategorie „Digital Communities“ wurde das japanische Projekt „Fumbaro“ ausgezeichnet, das Opfer von Katastrophen mit Helfern vernetzt. Zur besten „Next Idea“ wurde ein Navigationssystem für Blinde gewählt. Den Nachwuchspreis „u19“, um den sich nur Jugendliche in Österreich bewerben können, bekam eine Schülerin, die Chanel-Werbung und alte Filmausschnitte zu einer neuen Geschichte kombinierte – was vermutlich knifflige Urheberrechtsfragen aufwirft.
Juristisch interessant ist auch das Projekt „Loophole for all“, für das der Italiener Paolo Cirio eine Goldene Nica für „Interactive Art“ bekam. Damit nicht nur Großkonzerne Steuern hinterziehen können, hatte sich Cirio in das Firmenregister der Cayman Islands gehackt und dann die Namen der dortigen Briefkasten-Firmen über ein eigens dafür gegründetes Unternehmen mit Sitz in London und Datenverarbeitung in den USA billig verkauft. Die Zahlungsabwicklung lief via Luxemburg – jedenfalls so lange, bis PayPal das Ganze zu heiß wurde und ausstieg.
Mehr Freude bereitete der Finanzwelt vermutlich die Schau zum zehnjährigen Jubiläum des Linzer Studiengangs „Interface Cultures“: Der Spanier Martin Nadal stellte dort ein Aktien-Handelssystem vor, das mit einem Tablett zum Drogenkonsum verbunden ist – die Länge der Kokain-Linie bestimmt den Preis. Gastuniversität der Campus-Ausstellung war diesmal die Kunstakademie Mons. Die Belgier nutzten die Gelegenheit, um für ihr kommendes Digitalkunst-Festival zu werben. Nächstes Jahr soll das „Café Europa“ Mons mit 20 ehemaligen EU-Kulturhauptstädten vernetzen, zum Beispiel Linz und Lüttich.
Die Konzertnacht der Ars Electronica endete früher aus als geplant: Altmeister Michael Nyman musste die Uraufführung seiner „Symphony of sexual songs“ auf 2015 verschieben. Das Bruckner-Orchester unter Dennis Russell Davies spielte „Les Chimères“ von Marco Lemke, außerdem Stücke von Philip Glass und von österreichischen Komponisten, mit Visualisierungen der Künstlergruppe AROTIN&SERGHEI. Dazwischen wurden Archivaufnahmen aus den 1960er Jahren eingespielt. Die Besucher beeindruckte vor allem die Premiere „Trommeln ist ein dehnbarer Begriff“ des Schlagwerkers Josef Klammer: statt Trommelfellen flexible Gummihäute, die Atem-Geräusche machen.
Die Ars Electronica werde „immer austauschbarer und beliebiger“, kritisierte die Kunstwissenschaftlerin Katharina Gsöllpointner, die von 1991 bis 1995 Leiterin des Festivals war: „Brot und Spiele“ für das Volk. Kein Problem haben damit die Tüftler der japanischen Tsukuba-Universität, die ebenso ungeniert wie erfolgreich ihre „Device Art“ via Amazon verkaufen: quäkende Musikwürmer, blinzelnde Roboter-Augen, wedelnde Schwänze für Autos und Menschen. Wer derartige Gadgets nicht lustig findet, sollte sich den „Happiness Hat“ von Lauren Mccarthy zulegen: eine Mütze, die mit Sensoren die Mimik des Trägers erfasst und mit einem Stachel hinter dem Ohr zustechen kann. Lächle über die Computerwelt – oder du wirst bestraft!
Martin Ebner: : http://martin-ebner.net/topics/culture/
Die Ars Electronica GmbH ist ein Tochterunternehmen der österreichischen Stadt Linz. Sie veranstaltet nicht nur das jährliche Festival mit Preisverleihung, sondern betreibt auch ein Ausstellungs-, Forschungs- und Bildungszentrum: www.aec.at
Die akustischen Visionen von Bill Fontana sind in Linz noch bis 19. Oktober 2014 zu hören; die Ausstellung „Device Art“ läuft bis 30. Juni 2015. Blu-Rays mit den besten Animationsfilmen der Ars Electronica sind weltweit kostenfrei bei den österreichischen Botschaften erhältlich.
Das wallonische Digitalkunst-Festival soll vom 27. September bis 19. Oktober 2014 stattfinden, unter anderem in Lüttich: www.laquinzainenumerique.be