In Ägypten hat innerhalb des bis zum Sonntag regierenden Militärrates eine entscheidende Machtverschiebung stattgefunden. Wie weit Präsident Mursi dabei mitgewirkt hat, wie weit er sie gar bewerkstelligt oder inwieweit er einfach von ihr profitiert hat, wissen wir nicht. Die Vorgänge innerhalb der Offiziersführung werden geheim gehalten.
Erneuerung der militärischen Führungsspitze
Die beiden bisherigen Spitzen des Rates, der Oberkommandierende und Verteidigungsminister Marschall Tantawi und Generalstabschef Sami Anan, "wurden von Präsident Mursi in den Ruhestand versetzt", wie es offiziell hiess. Zugleich wurden sie mit Lob überschüttet und mit hohen Orden ausgezeichnet. Ferner wurden sie zu Beratern des Präsidenten bestimmt.
Ein neuer Verteidigungsminister wurde ernannt, General Abel Fattah as-Sisi. Er übernimmt offenbar auch den Vorsitz des Militärrates. Auch ein neuer stellvertretender Verteidigungsminister wurde bestimmt: Muhammed al-Assas. Beide sind hochrangige Generäle und Mitglieder des Militärrates. As-Sisi soll der jüngste unter allen Mitgliedern des Rates sein. Neuer Generalstabschef wurde Sidqi Subhi, ebenfalls ein General und Mitglied des Rates.
Schon am Tag zuvor hatte Mursi den Geheimdienstchef der Armee abgesetzt und einen neuen ernannt: Abdel Wahid Shebata.
Sinai als Auslöser der Aktion
Anlass zu der Machtverschiebung gaben zweifellos die Vorgänge auf der Sinai-Halbinsel, wo in der Woche zuvor 17 Grenzwächter von unbekannten Tätern, dem Vernehmen nach 35 Personen, vermutlich islamistische Radikale, überfallen und ermordet worden waren. Dies hatte zu öffentlich geäusserter Kritik an der Armeeleitung geführt. Den Militärs wurde vorgeworfen, die Offiziere kümmerten sich einzig um die ägyptische Innenpolitik und vernachlässigen ihre eigentliche Aufgabe, die Verteidigung der ägyptischen Grenzen.
Die von Mursi verfügte Entlassung des Geheimdienstchefs ging direkt auf diese Ereignisse zurück. Schon diese Entlassung war eigentlich - nach den damals noch geltenden Regeln - eine Attacke Mursis auf die Kompetenzen der Streitkräfte. Das gleiche kann man sagen von Mursis befohlener Entlassung des Oberkommandanten der Militärpolizei, die ebenfalls anlässlich der Sinai-Ereignisse schon im Vorfeld der Umbesetzung der Oberhäupter der Junta geschehen ist.
Vorbereitende Schritte Mursis
Der sogenannte "Verfassungszusatz", den die Armeejunta am 17. Juli erlassen hatte, verweigerte dem Präsidenten die Entscheidungsgewalt über alle Armeeangelegenheiten. Dieser Verfassungszusatz bestimmte auch, dass der Präsident keine Befugnis hat, innerhalb der Armee Beförderungen vorzunehmen. Man kann annehmen, dass schon diese ersten Schritte, die Mursi anlässlich der Zustände im Sinai unternahm, eine Probe waren. Wenn die Junta sie hinnahm, ohne zu widersprechen, konnte der Präsident erwarten, dass sie auch weitere Schritte zur Umbesetzung an der Armee-Spitze, die er anordnete, hinnehmen würde.
Der neue stellvertretende Verteidigungsminister al-Asaas hat der Agentur Reuters erklärt, die Neubesetzungen der Militärspitzen habe Mursi „nach Beratungen mit der militärischen Führung und mit dem Marschall" vorgenommen.
Der Militärexperte der Zeitung al-Ahram nimmt allerdings an, dass der Marschall und der Generalstabschef vor vollendete Tatsachen gestellt worden seien. Sie seien benachrichtigt worden, bevor ihr Rücktritt am staatlichen Fernsehen offiziell angekündigt wurde, glaubt er zu wissen. Dass dies in Abstimmung mit anderen Offizieren des Militärrates geschehen sei, will der Militärspezialist von al-Ahram "nicht ausschliessen".
Korrektur einer Willkürmassnahme
Legal gesehen hat Mursi die "zusätzliche Verfassungserklärung" der Militärführung vom 17. Juni annulliert. Aufgrund dieser Annullierung hat er dann die Neubesetzung der Führungsposten in der Armee angeordnet. Der Verfassungszusatz war ein höchst fragwürdiger Schritt der Offiziersführung gewesen. Er veränderte und "ergänzte" die Verfassungserklärung, welche die Offiziere 2011 nach der Absetzung Mubaraks erlassen hatte. Diese war durch Plebiszit von der Bevölkerung angenommen worden. Der Zusatz vom 17. Juni jedoch nicht.
Der Zusatz hatte, entgegen den Regeln, die vom Volk angenommen worden waren, den zu wählenden Präsidenten am Tag vor der Wahl der meisten seiner Vollmachten beraubt. Im Zusatz hiess es, die Militärführung habe die legislative Gewalt übernommen.
Die Rolle der Richter
Die damalige, nun annullierte Aktion der Offiziere fand in Zusammenarbeit mit den Gerichten statt. Diese hatten sich nicht gegen sie aufgelehnt. Sie hatten Klagen über die Zulässigkeit des fragwürdigen Verfassungszusatzes nicht sofort behandelt, sondern ihr Urteil darüber auf den kommenden 7. September vertagt. Praktisch hatten sie damit die Militärs zunächst unbehelligt gewähren lassen.
Deckung auf der rechtlichen Flanke
In dieser Hinsicht ist die Ernennung von Mahmud Makki zum Vizepräsidenten Ägyptens, die Mursi ebenfalls am Sonntag bekanntgeben liess, von Bedeutung. Makki ist bekannt als ein aufrechter Richter, der es gewagt hatte, Mubarak entgegenzutreten. Er hatte 2004 und 2005 gegen Mubarak demonstriert.
Damals ging es um die Fälschung der Wahlen, welche die Richter beaufsichtigen sollten. Makki gilt als ein frommer Muslim, jedoch nicht als ein Mitglieder der Muslimbrüder. Sein Bruder, Ahmed Makki, war kurz zuvor in die neue Regierung Qandil als Justizminister aufgenommen worden. Dass ein angesehener Richter nun Vizepräsident wird, bedeutet, dass Mursi nun juristisch gedeckt wird. Das Richter-Gremium hat bisher das Militär und die alten Mubarak-Freunde begünstigt. Der Einfluss Makkis kann nun diese Begünstigung korrigieren.
Ungewissheit über Sinai
Die Ereignisse in Sinai sind recht undurchsichtig. Die ägyptische Presse zeigte sich skeptisch über die angeblichen militärischen Erfolge in der behaupteten Grossaktion, die die Armee nach dem blutigen Anschlag ausgelöst haben wollte. Journalisten waren nicht zugelassen, und die indirekten Schilderungen, die sie am Rande der Armeeaktivitäten sammelten, sprachen nicht dafür, dass die Armee wirklich hart zugeschlagen und viele "Terroristen" getötet hat. Sogar die erwähnten Bombardierungen hätten in der leeren Wüste stattgefunden, konnte man lesen. Auch seien bloss sieben der angekündigten vielen hundert unterirdischen Gänge in den Gaza-Streifen wirklich zerstört worden. Die Skepsis der Zeitungen rührt daher, dass man in Kairo wusste, dass ägyptische Offiziere Schmiergelder kassierten und deshalb die vielen unterirdischen Stollen nach Gaza tolerierten.
Sinai gab den Ausschlag
Wie dem auch sei, es ist offensichtlich, dass die Armee in Sinai überrascht worden war, obwohl der jüngste Überfall einer in einer langen Kette von Anschlägen war, die alle ohne wirksame Reaktion der Streitkräfte geblieben waren.
Schon vor den Ereignissen auf der Sinai-Halbinsel müssen die Offiziere gewusst haben, dass ihre ursprüngliche Beliebtheit durch die politische Rolle, welche die Armeespitzen spielten, stark angeschlagen war. Seit Menschengedenken war es in Ägypten nie vorgekommen, dass die Armee auf den Strassen offen als "lügnerisch" und als "selbstsüchtig" beschimpft worden war. Dies muss besonders jenen Offizieren zu denken gegeben haben, die nicht wie Tantawi und Anan, politische Führungsrollen übernommen hatten, sondern weiterhin militärische Kommandos innehatten. Sie bilden die Mehrheit des Offiziersrates, und sie haben offensichtlich Mursi zugestimmt, als er ihnen nahelegte, die Armee solle sich wieder ihrer eigentlichen Aufgabe zuwenden: dem Schutz der ägyptischen Grenzen. Ihm aber, dem gewählten Präsidenten, solle die Armee die Regierung der zivilen Gesellschaft überlassen.
Das Parlament bleibt zunächst geschlossen
Nach den Aussagen der offiziellen Sprecher bleibt das ägyptische Parlament geschlossen, bis es zu Neuwahlen kommt. Diese sollen zwei Monate nach der Verabschiedung der neuen Verfassung stattfinden. Die Schliessung des Parlamentes beruht juristisch gesehen auf einem Urteil der Verfassungsrichter. Sie unterscheidet sich dadurch von dem nun annullierten "Verfassungszusatz", dass dessen Rechtmässigkeit von keinem Gericht geprüft und anerkannt worden ist.
Zivile Freunde und Gegner
Schon am Sonntag haben Freunde der Muslimbrüder auf dem Tahrir-Platz ihre Freude über Mursis Entlassungen zum Ausdruck gebracht. Die Sprecher der Bruderschaft priesen den Präsidenten und die "zweite Revolution", die er nun durchgeführt habe. Auf den 24. August haben die Anhänger des Mubarak-Regimes zu Demonstrationen für die bisherige Armeeführung aufgerufen. Ihre Sprecher erklärten nach der Absetzung der Armeespitzen, sie würden ihre Demonstrationen nun erst recht durchführen. Die Muslimbrüder haben zu einer Gegendemonstration für den gleichen Tag aufgerufen.
Zwischen diesen beiden Extremen müssen nun die "säkularen" Parteien sich neu orientieren. Bisher hatten sie sich den nun pensionierten Armeespitzen zugeneigt. In ihnen sahen sie ein Gegengewicht zur Macht der Muslimbrüder.
Ihre Mitarbeit wäre vor allem wichtig für die Ausarbeitung der kommenden Verfassung. Wenn sie aus Misstrauen gegenüber den Muslimbrüdern ihre Mitarbeit verweigern, wächst die Gefahr, dass die Verfassung eine "Verfassung der Muslimbrüder" wird. Eigentlich gerade das, was sie vermeiden möchten.
Auswirkungen auf die kommende Verfassung
Wahrscheinlich werden die säkularen Gruppen sich spalten. Manche werden weiterhin unnachgiebig gegen die Brüder auftreten, weil sie glauben, diese würden ohnehin kompromisslos ihre Linie durchsetzen.
Doch andere dürften erkennen, dass nur eine Mitarbeit ihnen Chancen gewährt, eine ausgeglichene Verfassung zu formulieren, die nicht auf einen eng verstandenen "islamischen" Staat abzielt.
Ein Boykott der Verfassungsversammlung war für die säkular ausgerichteten Politiker - und ihrer Verbündeten unter den koptischen Christen - nicht aussichtslos, solange sie auf die Offiziersführung zählen konnten.
Auf die Unterstützung, die sie sich bisher von der Militärführung erhoffen konnten, können sie sich nun nicht mehr, oder nur in viel geringerem Masse, verlassen.