Der 14-jährige Beat Gyger verschwindet nach dem Besuch auf dem Rummelplatz und wird tags darauf im Lindenbachgraben bei Mamishaus tot aufgefunden. Noch heute nach über 40 Jahren ist der Mordfall Gyger nicht aufgeklärt. Die Journalistin Franziska Streun ging auf Spurensuche: „Ich war damals 11 Jahre alt und auch immer wieder auf dem Budenplatz. Mir ist es ein Anliegen, dass das Tötungsdelikt nicht vergessen geht. Zu viele Unklarheiten und Rätsel bleiben noch immer.“ Es war eher ein emotionaler Entscheid, und auch das Ergebnis ihrer Spurensuche, eine These, was und wie es passiert sein könnte, ist mehr eine intuitive Annahme, denn ein Tatsachenbeweis.
Beat: Ein liebes Schlitzohr
Beat entstammt einer durchschnittlichen Familie der 70er-Jahr: Vater Rangierarbeiter, Mutter Hausfrau, Einfamilienhaus am Stadtrand, zwei Kinder - Bruder Bernhard zwei Jahre jünger. Beat selber ist ein aufgeweckter Junge, immer auf Draht, „ein richtiger Zappelphilipp, dem man heute wahrscheinlich Ritalin verabreichen würde“, beschreibt ihn sein Bruder. Man kann ihm seine „Sünden“ auf dem Weg zum Erwachsenwerden kaum übel nehmen, auch wenn sie sich in Grenzbereichen bewegen: störrischer Ungehorsam, mehrfacher Motorfahrradklau, wiederholtes Schulschwänzen und für kommende Woche nach Pfingsten eine Vorladung vor den Jugendrichter.
Auch der Besuch auf dem Rummelplatz beim Lachenstadion hatten die Eltern nicht erlaubt. Dort wurde Beat ein letztes Mal gesehen. Nach einer Fahrt mit einer Schulkollegin auf der Scooterbahn passt ihm ein Unbekannter ab und ohrfeigte ihn – weshalb bleibt unklar. Am andern Morgen entdecken zwei Reiterinnen die Leiche des Knaben in der Nähe von Schwarzenburg, über 25 km von seinem Wohnort entfernt. Beats Körper zeigte deutliche Spuren von Gewaltanwendung, sein Brustkorb ist eingedrückt.
Nur Vermutungen…
Was war der Grund? War es bloss eine Abrechung wegen seiner Mofa-Diebstähle? Ein Racheakt für Vorkommnisse, die sonst niemand kennt? Hatte er als Drogenkurier gewirkt oder als Strichjunge bei pädophilen Homos etwas Sackgeld verdient? Und hatten jetzt gewisse Kreise Angst, er würde sie vor dem Jugendrichter verpfeifen? Fragen über Fragen, die weder die jahrelangen Untersuchungen der Polizei - die rund 1000 Hinweisen nachging -, noch die Fernsehsendung „Akten XY ungelöst“ ein Jahr danach noch Franziska Streun mit ihren journalistischen Recherchen und der Befragung von 250 Personen ausfindig machen konnte.
Auch die Aussetzung einer Belohnung von 10'000 Franken für dienliche Hinweise brachte kaum neue Erkenntnisse.
…und neue Fragezeichen
Die Spurensuche der Journalistin Streun wird im Buch akribisch, fast protokollmässig Schritt für Schritt festgehalten, wobei die Autorin genau zwischen erhärteten Fakten, zitierten Aussagen und Vermutungen – zum Teil mit wechselnden Druckschriften - unterscheidet. Zahlreiche Befragungen werden wortwörtlich festgehalten und Dokumente – soweit zugänglich – wiedergegeben. Im Mittelteil dokumentieren mehrere s/w-Fotos Personen und Orte des Geschehens, was dem Lesenden auch emotional rasch eine Nähe zur damaligen Aktualität ermöglicht. Dabei wird einem auch rasch klar, wie rasch sich unsere Zeit seit 1973 verändert hat: Im Familienleben, im Schulalltag, im Freizeitverhalten, in der Kriminalistik und generell im gesellschaftlichen Wertewandel. Allein diese Reise in den Alltag vor 40 Jahren lohnt die Lektüre.
Im Laufe der Recherchen schleicht sich aber immer dichter ein Verdacht ein, dass sich hinter dem erschütternden Mordfall und seiner erfolglosen Investigation weitere Geheimnisse verbergen könnten. Ungereimtheiten fallen auf und es stellt sich die Frage, ob es – selbst bei der Polizei - Kreise gibt, die ein Interesse hatten (oder noch haben?), gewisse Tatsachen zu vertuschen. So sagt beispielsweise der verstorbene Fahnder F.N. „Ich hätte viel zu erzählen, will aber nicht über Kollegen auspacken.“
Auch schwer verständliche Behinderungen bei der Akteneinsicht, selbst für Familienangehörige, machen irgendwie misstrauisch. Auch ein rätselhafter Unfall im selben Quartier an jenem Abend, bei dem ein Mofa-Fahrer von einem Auto offenbar absichtlich gerammt wurde, ist nirgends aktenkundig, jedoch von Augenzeugen bestätig. Auch der Fund der lange gesuchten Töffli-Sacochen nach einem Einbruch in die Baubaracke einer Kiesgrube gibt Rätsel auf. Und warum wurde später die „Aktenzeichen“-TV-Sendung „aufgrund mehrerer Meldungen Dritter über Urheberrechtsverletzungen“ vom Netz genommen?
War Thun ein Mekka von Homo-Pädophilen?
Dieses wachsende Misstrauen ist auch bei der Autorin selbst spürbar. Sie entwirft gegen Schluss des Buchs die These, Beat hätte sich allenfalls beim naheliegenden Campingplatz Gwatt am Seeufer in der Homopädo-Szene – ohne selber schwul zu sein – etwas Sackgeld zuverdient. Thun sei in jener Zeit ein „Mekka dieser Szene“ gewesen, und diesen Kreisen hätten allenfalls prominente Besucher angehört – so dass ein Bekanntwerden nicht nur einen Riesenskandal provoziert sondern für gewisse Betreffende damals das gesellschaftliche Aus bedeutet hätte.
Um ein solches Bekanntwerden zu verhindern, könnte gewissen Personen wohl jedes Mittel recht gewesen sein, Beat zum Schweigen zu bringen. Hatten sich unter diesen Kreisen allenfalls gar Leute aus Polizei oder Behörden befunden? Von Polizeiseite wird allerdings bestritten, dass jemand Untersuchungsergebnisse intern verfälschen könnte…
„Ich möchte das Warum wissen und nicht das Wer“
Lehnt sich da Franziska Streun nicht ein bisschen sehr zum Fenster hinaus? „Natürlich kann ich nichts beweisen – auch hier verlasse ich mich stark auf mein Gefühl. Ich habe nach dem Erscheinen des Buchs zahlreiche Reaktionen gekriegt, weitere Details und Namen erfahren aber nichts vernommen, was meinem Text widersprechen würde. Ich kann hundertprozentig hinter dem stehen, was ich geschrieben habe.“
Auch Beats Bruder Bernhard hat seit dem Erscheinen des Buchs mehrere hundert Reaktionen und E-Mails erhalten und seit längerem seine Vermutungen: „Ich glaube sogar den Namen eines möglichen Täters zu wissen, aber mir geht es jetzt, da eh alles verjährt ist, auch nicht unbedingt um den Täter. Ich möchte nicht das Wer, sondern das Warum kennen. Dieses Wissen würde es mir und unserer Familie enorm erleichtern, mit dieser Tat von damals besser leben zu können.“
Die Familie Gyger wurde durch das Ereignis heftig durchgeschüttelt. Die Eltern haben sich später getrennt und Bernhard bilanziert heute „Das war ein enormer Schock. Ich wurde aus einer unbeschwerten Jugend gerissen und bin innert weniger Tage erwachsen geworden.“ Selbst Vater Gyger, der zuerst skeptisch war, begrüsst heute das Buch: „Endlich konnten wir uns nach 40 Jahren erstmals zum Ganzen äussern und alle haben jetzt dasselbe Wissen.“
In diesem Sinne ist die Spurensuche im „Mordfall Gyger“ für die Familie auch ein Stück Vergangenheitsbewältigung.
Franziska Streun, „Mordfall Gyger – eine Spurensuche“, Zytglogge-Verlag 2013