Bis in die 1960er Jahre beschränkte sich die Darstellung ehemaliger Sklaven in den Medien auf erfolgreiche Sportler. Erst die Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre leitete eine lange Phase der öffentlichen Anerkennung ein, die mit dem Ende der Präsidentschaft Barack Obamas zu einem vorläufigen Stillstand gekommen scheint.
Seit Januar 2017 lautet die Devise „America First”. In der „Gesetz- und Ordnung”-Politik von Donald Trump sehen sich Afroamerikaner als die stereotyp Verdächtigten und Verfolgten nun abgelöst vom Feindbild der „braunen” Immigranten. Zumindest vordergründig.
Zwei afroamerikanische Filme, beide wurden für den Oscar nominiert, beleuchten die dunklen Unterseiten der weiterhin wirksamen ethnischen Diskriminierung. Sie werden im Folgenden vorgestellt.
Dokumentarfilm „13th”
Ava DuVernays Dokumentarfilm „13th” ist nach dem 13. Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten betitelt, in dem es um die Abschaffung der Sklaverei in den USA geht und der in Europa noch wenig bekannt ist. Der erste Abschnitt lautet: „Weder Sklaverei noch Zwangsdienstbarkeit darf, ausser als Strafe für ein Verbrechen, dessen die betreffende Person in einem ordentlichen Verfahren für schuldig befunden worden ist, in den Vereinigten Staaten oder in irgendeinem Gebiet unter ihrer Gesetzeshoheit bestehen.“
Die Regisseurin geht den verstörenden Fragen nach, weshalb heute die USA 5 Prozent der Weltbevölkerung stellen, aber weltweit 25 Prozent aller Häftlinge. Wieso waren 1972 noch 300’000 Personen in Haft, 2016 jedoch 2,3 Millionen? Wie kommt es, dass 1980 in den USA 41’000 Menschen wegen Drogendelikten hinter Gittern sassen, 2014 schon gegen eine halbe Million? Und wie erklärt man die Tatsache, dass der Prozentsatz der Schwarzen, die wegen Mordes an Weissen hingerichtet wurden, 14 Mal höher ist als jener von Weissen, die Schwarze getötet haben? Weshalb hatten 97 Prozent afroamerikanischer Häftlinge nie einen Prozess? Heute sitzen in den USA rund fünfmal mehr Farbige ein, als damals im südafrikanischen Apartheid-Staat.
Geschichte der Segregation
„Wir können diese Politik nicht verstehen, ohne zur Gründung unserer Nation zurückzugehen“, so Michelle Alexander, Verfasserin des Bestsellers „The New Jim Crow. Mass Incarceration in the Age of Color Blindness“ (2010). Diesem Erkenntnisinteresse folgt Ava DuVernay, wenn sie historisch zum 13. Zusatzartikel zurückkehrt. Er enthält ein Schlupfloch zur Beschaffung von Gratisarbeitern nach 1865 mit der Formulierung: „Zwangsdienstbarkeit … als Strafe für ein Verbrechen, dessen die betreffende Person in einem ordentlichen Verfahren für schuldig befunden worden ist.“
Wie einfach war es doch, in den Jahrzehnten der Rekonstruktion nach 1865 und der diskriminierenden Jim Crow-Gesetze nach 1896 ohne ordentliche Verfahren Zwangsarbeiter zu generieren. Mit ihrem Buch vertritt Michelle Alexander die These, dass nach den Erfolgen der Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre in den USA heute wieder eine systematische Rassendiskriminierung mit verheerenden sozialen Folgen vorherrscht, insbesondere durch den „War on Drugs” (Krieg gegen Drogen unter Nixon und Reagan) und dem „War on Terrorism” (Krieg gegen Terrorismus nach 2001).
Neue Welle von Rassismus
Alexander kritisiert die Masseninhaftierung afroamerikanischer Männer und männlicher Jugendlicher und den Ausschluss auch von Ex-Sträflingen vom politischen und sozialen Leben. Sie vergleicht diese Entwicklung mit den Jim Crow-Gesetzen der Rassentrennung im 19. und 20. Jahrhundert. Michelle Alexander vertritt die Ansicht, das New Jim Crow-System sei in der Zeit der „Colorblindness” von Rassen-Indifferenz geprägt (von ihr als Mangel an Mitgefühl für Gruppen anderer Rasse definiert), ein Zug, den das System mit den Vorgängern Sklaverei und Rassentrennung teile.
In der Tat ist im heutigen Justizsystem Strafarbeit erlaubt und Rassismus weiterhin an der Tagesordnung. Einmal festgenommen, stehen die Chancen schlecht für Afroamerikaner, jemals wieder dem Gefängnis zu entkommen. Sie können sich weder eine gesetzliche Vertretung noch eine Kaution leisten und bleiben für Kleindelikte bestraft, die, kumuliert, meist den Anfang einer regelrechten Gefängniskarriere bedeuten. Das Three Strikes Law, „Drei-Verstösse-Gesetz“, seit 1994 unter Bill Clinton in Kalifornien in Kraft, seit 1995 in 28 weiteren Staaten, bezeichnet im US-amerikanischen Sprachgebrauch ein Gesetz, nach dem bei der dritten Verurteilung wegen einer Straftat automatisch eine besonders schwere Strafe folgt, de facto lebenslange Haft.
200 Interviews und Archivmaterial
Das Resultat ist ein Kriminalisierungswahn, eine Masseninhaftierung, die der privaten und profitorientierten Gefängnisindustrie wie CCA (Corrections Corporation America) oder WCC (Wackenhut Corrections Corporation) stets volle Häuser beschert und jugendliche Delinquenten frühzeitig und hoffnungslos ins Abseits schiebt. Während Rechtsprofessoren auf Justizreformen drängen und die Debatten begrüssen, die die Juristin, Bürgerrechtsaktivistin und Dozentin Michelle Alexander mit „The New Jim Crow“ angeregt hat, versuchen Staatsanwälte und Präsidenten ihre Wahl, respektive Wiederwahl oft durch besondere Härte zu sichern.
Es ist ein grosses Verdienst von Ava DuVernay, diesen dringlichen Fragen und oft verdrängten Tatsachen in mehr als zweihundert Interviews und historischem Archivmaterial nachzugehen und sie in einem eindrücklichen Dokumentarfilm sichtbar zu machen. Zu Wort kommen überparteiliche Expertinnen und Experten: Politiker wie Nixon, Reagan, Newt Gingrich, die Clintons oder Trump, Aktivistinnen wie Angela Davis und Michelle Alexander, Historiker und Literatur- und Kulturwissenschafter wie Henry Louis Gates Jr., die Politologin Marie Gottschalk sowie ehemalige Strafgefangene.
Die eindrückliche und höchst sehenswerte Dokumentation „13” von Ava DuVernay, im Auftrag von Netflix entstanden und zur Eröffnung des New York Filmfestival am 30. September 2016 gezeigt, stellt dem Publikum schliesslich die persönliche Frage: „Do I care?” Was kümmert mich das?
Oscar-Gewinner „Moonlight“
Der Oscar-Gewinner basiert auf einem Bildungs-und Entwicklungsroman und gliedert sich in drei Kapitel: Little, Chiron, Black. Sie stehen für die drei Altersstufen Kind, Jugendlicher, junger Mann des Protagonisten Chiron. Tarell Alvin McCraneys Theaterstück „In the Moonlight Black Boys Look Blue“ liegt dem Film zugrunde. Regie führt Barry Jenkins.
„Moonlight“ enthält durchaus autobiographische Züge. Jenkins wie McCraney wuchsen im schäbigen Quartier „Pork & Beans“ in Miami auf, jedoch ohne sich zu kennen. Doch sie kommen, wie auch ihre Figuren Chiron und Kevin, aus dem Dunkeln ins Licht. Vorweg: „Moonlight“ ist ein subtiler Film einer homoerotischen „coming of age“-Beziehung ohne grobe übliche Klischees: Denn „In the Moonlight Black Boys Look Blue“ verweist „blue“ eben nicht auf die übliche afroamerikanische Konnotation „traurig“, „depressiv“, sondern auf die Schönheit dunkler, blau schimmernder Haut im Mondlicht.
Drei Lebensphasen
Im ersten Kapitel lebt der neunjährige Chiron, von allen herablassend „Little“ gerufen, in einer gewaltgeprägten Umgebung mit der Crack-süchtigen absenten Mutter Paula. Zum väterlichen Freund wird ausgerechnet Juan, ein kubanischer Drogendealer, der auch die Mutter mit Stoff versorgt, was der Knabe noch nicht weiss. Juan kocht für ihn, lehrt ihn schwimmen, sich dem Wasser anzuvertrauen, zu kämpfen und selbstbewusster werden. Seine Lektion fürs Leben: „An einem gewissen Punkt muss man für sich selbst entscheiden, wer man sein will: und lasse diese Entscheidung von niemand anderem treffen.“ Auch Juans Partnerin Teresa wird „Little“ zur Ersatzmutter. In der Schule ist ihm Kevin zugetan; er zeigt ihm, wie er sich gegen Angreifer zur Wehr setzen kann.
Das zweite Kapitel, „Chiron“ betitelt, spielt sieben Jahre später und zeigt Chiron als Highschool-Absolventen im Kampf gegen die Drogensucht seiner Mutter. Es kommt zur ersten homoerotischen Annäherung an Kevin, der dieselbe Schule besucht. Beobachtet werden sie vom Klassen-Alphatier Terrel. Um Chiron zu demütigen, fordert er Kevin zum Kampf gegen Chiron auf. Am Ende gewinnt Chiron gegen beide Widersacher. Er ist enorm erstarkt und setzt sich durch.
Im dritten Kapitel „Black“, rund zehn Jahre später, wird aus „Little“ und „Chiron“ der muskulöse junge Mann „Black“, der in Atlanta bereits seine Zeit im Jugendgefängnis abgesessen hat. Aus dem schmächtigen Knaben ist ein Schlägertyp, ein Drug-dealer wie Juan geworden. Er besucht seine Mutter, die ihn vergeblich um Verzeihung bittet. Eines Tages nimmt Kevin mit ihm Kontakt auf. Er hat ihn immer „Black“ genannt. Der geschiedene Vater eines Knaben ist nun Gastwirt. Zunächst erkennt er Chiron/Black nicht und ist von seiner Erscheinung beeindruckt. Kevin kocht für Black und sie gehen, nach einem Strandbesuch, in die Wohnung Kevins.
Die Zukunft bleibt offen, das Tryptichon mit der Leidensfigur Chiron im Zentrum ist komplett, die Selbstwerdung soweit abgeschlossen, alles offen.
Mythische Tiefe und frische Leichtigkeit
Die Namen in „Moonlight“ sind mit christlicher und vor allem griechischer Mythologie unterlegt und verweisen auf Funktion und Wesen der Figuren: Cheyron/Chiron ist ein unsterblicher Zentaur, ein Aussenseiter zweier Welten. Sein Aussehen ist für die Mutter Philyra/Paula Grund, ihn zu verlassen. Cheyron wird von Apollo und Artemis gefördert, Chiron von den Ersatzeltern Juan und Teresa. Der mythologische Cheyron kann, ausser sich selbst, alle heilen. Der junge Cheyron/Chiron liebt den Kampf, mit zunehmenden Jahren wird er mild und weise und zum Mentor von Achilles. Er gilt als der gerechteste Zentaur. Kevin ist der Hübsche, Juan eine Johannes-der-Täufer-Figur und seine Frau Teresa eine Art Mutter Teresa.
Etliche Auslassungen fordern das Publikum in entscheidenden Phasen zum Mitdenken in dieser ernsten und doch so leicht, frisch und echt wirkenden Charakterstudie. Welch emotionale Wucht, sinnliche Intensität und Wahrheit zeigt sich in diesen farblich stimmigen Bildern, welche Zärtlichkeit!
Ava DuVernays Dokumentarfilm „13th“ ist exklusiv auf Netflix erhältlich.
Barry Jenkins’ „Moonlight“, basierend auf dem Theaterstück „In the Moonlight Black Boys Look Blue“ von Tarell Alvin McCraney; Regie Barry Jenkins. Der dreifache Oscar-Gewinner (bester Film, bestes adaptiertes Drehbuch, bester Nebendarsteller) läuft ab 9. März in den Kinos.