Was ist die Farbe des Monsuns? Grün? Vielleicht in Alibagh, wo es überall ins Kraut schiesst, die Landstrassen in Tunnels aus Ästen und Blättern verwandelt, Mauern mit Moos behaart, Strommasten hochklettert und Verkehrsschilder überwächst (was nicht weiter schlimm ist, denn sie werden ohnehin nicht beachtet). In Mumbai dagegen ist die Farbe der indischen Regenzeit ein leuchtendes Königsblau, wie es nur die Chemie hervorzaubern kann. Statt flächendeckend wie in Alibagh flattert es, schaut man vom Malabar Hill auf die Stadt, wie ein Meer von Punkten im grauen Regenschleier. Tausende dieser blauen Plastic-Hüllen verbinden sich zur Monsunhaut der Metropole, sie bedecken die Dächer und Vordächer der Slumhütten, sind an Bambusgerüsten festgezurrt oder verpacken die Häuser, Christo-mässig, gleich zu Paketen. Sie werden über parkierte Dreiradtaxis gezogen und den Gemüsewagen, mit dem die Gemüseverkäuferin durch das Quartier zieht, sie sind die Decke, unter der sich ein Bettler auf dem Gehsteig schlafenlegt.
Blau vom Slum bis zum Hochhaus
Es ist über den Armensiedlungen, wo sich diese kleinen Farbquadrate zu einem zusammenhängenden Flickenteppich verbinden, denn nirgends sind sie so wichtig wie hier, um die Dachprovisorien aus Holz, Plastic, Steinen, Blech gegen das Zusammenspiel von Wind und Wetter zu schützen. Aber es sind nicht nur die Slums, für die das Tarpaulin, dicht wie das Ölzeug von Seeleuten, zu einem Rettungsschirm wird. Auch ich musste mir vor dem grossen Regen einige Dutzend Meter beschaffen, um die dem Meer zugekehrte Hausfassade vor dem horizontal einschiessenden Regen einigermassen abzusichern. Und zu Beginn des Monsuns kursierte im Internet ein Foto, das den Ein-Milliarden-Palast des Industriellen Mukesh Ambani (und seiner fünfköpfigen Familie) zeigte. Vom 26. Stock ‚Antilias‘ flatterte das Königsblau der Armen, ganze Bahnen davon, als ob der reichste Mann des Landes den Mitbürgern zu seinen Füssen zuriefe: Freunde, auch ich stehe im Regen!
Nicht nur das Wetter sorgt für ein bisschen Ausgleich. Auch die Naturgesetzlichkeit einer Grossstadt, so unerbittlich sie für die meisten ihrer Einwohner sein mag, schafft manchmal überraschende Paradoxe. Weil Mumbai weiterhin im wesentlichen nur in zwei Richtungen wachsen kann – im Westen liegt das Meer, im Süden der bisher nicht überbrückte Hafen – tut sie es nach Norden und Osten umso schneller. Der Internationale Flughafen liegt inzwischen im geografischen Zentrum der Stadt, eingeklammert von einem Stadtgebiet mit je 30 Kilometern Ausdehnung in der Nord/Süd-Achse. Wer südlich vom Flughafen lebt, mit dem historischen ‚Fort‘ als Fluchtpunkt, kann sich brüsten, ‚im Zentrum‘ zu leben.
Und das sind nicht nur die Freunde von Mukesh Ambani. Auch einige Millionen Slumbewohner gehören zu diesen ‚lucky few‘, die nicht jeden Tag vier Stunden Bahn- und Busfahrt hinter sich bringen müssen, um im Geschaftszentrum ihr bisschen Geld zu verdienen. Sie wohnen in den alten Armensiedlungen der britischen ‚Black Town‘, oder haben sich in den Brachen eingenistet, die der Staat nicht rasch genug urbanistisch vereinnahmt hat – leere Fabrikareale, Rangiergelände der Eisenbahn, offene Abwasserkanäle, alte Fischerdörfer. Ihr einziges Dach über dem Kopf mag eine blaue Tarpaulin-Plane sein, und der Fussboden acht Quadratmeter gestampfte Erde. Aber einige Gehminuten davon entfernt steht vielleicht ein Gebäude namens ‚World Trade Centre‘, die indische Zentralbank, oder die neue Diamantenbörse.
Drang nach Höhe ist in den Slums angekommen
Nicht dass ihnen die Adresse beim Job-Interview helfen würde. Eine Grosszahl der Slumbewohner sind immer noch Analphabeten, leben von Gelegenheitsarbeit, bei der sie ihre Körperenergie verdingen. Sie stellen eine extreme Form der Kategorie ‚asset-rich and cash-poor‘ dar. Ohne Grundstückpapiere, die sie als rechtmässige Besitzer ihres Taschentuch-Besitzes ausweisen würden, können sie dieses schlummernde Kapital nicht als Sicherheit einsetzen. Aber es ist eines unserer Mittelklasse-Vorurteile, Arme als dumm zu verkaufen (‚Wären sie sonst arm?‘). Sie mögen auf engstem Raum nebeneinander leben, aber laut ‚Times of India‘ sind Viele nun auf die Idee gekommen, in die Höhe bauen - ein wackliges zweites Stockwerk vielleicht, aber genug, um es zu vermieten.
Und bei diesen Erstklass-Adressen müssen sie sich nicht um Interessenten sorgen. Meist sind es Leute aus der unteren Mittelklasse, die in einer kleinen Wohnung in den Vororten leben, und oft ein Drittel des Tages mit dem Weg zur Arbeit verbringen. Sie haben genug, die tägliche Erniedrigung von je zwei Stunden Viehtransport in überfüllten Vorortszügen hinzunehmen. Viele von ihnen sind in den Slums von Zentral-Bombay aufgewachsen und kauften mit dem ersten Ersparten eine Wohnung, draussen im vielgepriesenen Grün. Zwanzig Jahre gleicht dieses oft einer Betonwüste billig gebauter Behausungen. So mieten denn immer öfter Pendler die Woche über in einem Slum im Stadtzentrum ein ‚Zimmer‘ – vier Mauern und eine Tarpaulin-Decke darüber gespannt. Billige Essgelegenheiten gibt es genug und der Barbier kostet einen Bruchteil des Zugbilletts. Lokalpolitiker haben dafür gesorgt – der Tauschwert von Wahlstimmen in einem dichtbesiedelten Slum ist hoch! –, dass die Stadtverwaltung öffentliche Toiletten und Duschen einrichtete.
Nicht Fünf-Stern-Wohnen, aber praktisch
Natürlich ist dies kein ‚Five-Star Living‘, wie sie für Panvel und Vasai, fünfzig Kilometer weit weg, angepriesen werden. Aber es hilft den Slumbewohnern, ihre Lufthoheit über den acht Quadratmetern Hütte in Bares zu verwandeln. Und die Pendler können auf ihren täglichen Trek verzichten. Dass es gerade im Monsun oft buchstäblich ein Trek ist, zeigen die Bilder, die alle Jahre wieder zur Monsunzeit in den Medien auftauchen: Tausende von Leuten, die über halbüberflutete Eisenbahn-Trassen laufen oder ganze Fahrbahnen der grossen Einfallsstrassen in Beschlag nehmen, zu Fuss unterwegs, weil der öffentliche Verkehr wieder einmal zusammengebrochen ist.
Es ist ein Alltagsheroismus, der gerade deshalb etwas Heroisches hat, weil er nicht als solcher daherkommt, sondern einfach als Alltag. Als ich letzte Woche bei Freunden in eine Fernsehrunde platzte, hörte ich sie ausrufen: „Schau, wie schlimm!“, „Mein Gott, was für eine Katastrophe!“. Der Bildschirm zeigte überschwmmte Strassen, einstürzende Brücken, Menschen in Not. Aber es war kein Lokalsender, sondern CNN mit Bildern vom Hurrikan ‚Irene‘. Draussen stürmte es, ich war durchnässt, und rief in die Runde: „Hört mal, hier ist es genau so schlimm – wenn nicht schlimmer!“. Die Zeitungen hatten von zahlreichen eingestürzten Häusern gesprochen; allein in Maharashtra lag die Zahl der Opfer eines Wochenends bei 25. Mein Freunde sahen mich erstaunt an. Es wäre ihnen nicht in den Sinn gekommen, ihre tägliche Katastrophe als fernsehwürdig zu taxieren.
Ich nehme an, das ist das Geheimnis, wie man mit Katastrophen fertig wird. Insofern ist das Königsblau der Tarpaulin-Blachen – leuchtend, hoffnungsfroh – genau die richtige Monsunfarbe.