Estland ist der Musterstaat unter den östlichen Übergangsländern. Die Wahlergebnisse spiegeln aber den Umstand, dass fast ein Drittel der Bürger schon zum Voraus von der Regierungsbeteiligung ausgeschlossen wurde. Und statt auf Ausgleich zu Hause setzt der estnische Präsident auf eine massive Präsenz der Nato an der russischen Grenze.
Estland glänzt heute unter den europäischen Staaten durch fehlende staatliche Verschuldung und als jene ehemalige Sowjetrepublik, die den Übergang zu Demokratie und Marktwirtschaft am schnellsten bewältigte. Man kann daher als Miesmacher gelten, wenn man bei dieser flotten „Rückkehr in den Westen“ auch Probleme aufzeigt.
„Rückkehr“ ohne Revolution
Für alle drei baltischen Staaten (Estland, Lettland und Litauen) gilt, dass ihre Führung beim Zerfall der Sowjetunion unter Gorbatschow rechtzeitig den Absprung vorbereitete und den Übergang von der Sowjetrepublik in die westliche Marktwirtschaft ohne eine Erschütterung der Führungsstruktur vollzog. Eine wichtige Rolle spielte dabei auch Boris Jelzin als Übergangsfigur in Moskau. Und die wirtschaftliche „Rückkehr in den Westen“ wurde beschleunigt durch eine teilweise Kolonisierung durch Finnland und die skandinavischen Staaten, die ihre Verteilsysteme hierher verpflanzten und deren Firmen von den tieferen Arbeitskosten profitierten.
Estland hatte seine Unabhängigkeit 1918 bis 1920 gegen den noch wackligen Staat von Lenin erkämpft. Am 24. Februar dieses Jahres feierte das Land seinen 97. Geburtstag mit einer Militärparade. Diese wurde nicht in der Hauptstadt Tallinn abgehalten, sondern die 1500 estnischen Soldaten mit einigen Vertretern der Nato marschierten durch die Stadt Narva an der russischen Grenze. Dies löste prompt eine Antwort aus in Form von Manövern bei den jenseits der Grenz stationierten russischen Garnisonen. Auffallend war neben der Wahl eines Ortes, wo die Bevölkerung praktisch nur russisch spricht, auch der Inhalt der Reden. Der Armeechef erinnerte daran, dass beim Kampf für die estnische Unabhängigkeit Soldaten der russischen und der estnischen Sprache mitkämpften. Präsident Toomas Hendrik Ilves verwies dagegen auf Putins Übergriffe auf der Krim und in der Ukraine und forderte dringlich die Stationierung von Nato-Truppen an der russischen Grenze.
Sprache als nationales Kennzeichen
Der Gegensatz der Reden ist bedeutsam. Ilves ist in Stockholm geboren und in den USA aufgewachsen. Ab 1973 war er Redaktor bei „Radio Free Europe“, einer amerikanischen Organisation, die während dem Kalten Krieg die Europäer vor dem Kommunismus retten sollte. Den Ton der Propagandaorganisation hat Ilves auch als Präsident beibehalten. Er will Russland erziehen und polemisiert offen gegen Finnland, dessen Zurückhaltung gegenüber dem östlichen Nachbarn er als Undankbarkeit gegenüber dem amerikanischen Befreier in Europa einstuft. Für die Zweiteilung Estlands ist allerdings nicht Ilves verantwortlich, sondern der als erster Präsident des neuen Estland berühmt gewordene Lennart Meri.
Dieser war ein bekannter Publizist und erhob Estnisch zum nationalen Symbol. Die mehr als ein Viertel der Bevölkerung ausmachenden Russischsprachigen verloren ihre Staatsbürgerschaft und konnten nur über eine Sprachprüfung wieder Bürger werden. Ältere Personen konnten oder wollten das nicht. Viele von ihnen hatten schon vor der Ausrufung der sowjetischen Republik russisch gesprochen. Und während der Zeit zwischen den Weltkriegen hatte das „westliche“ Estland Bürgern steuerliche Erleichterung gewährt, wenn sie ihren russischen Namen in einen estnischen veränderten. Heute werden russischsprachige Gymnasien gezwungen, ihren Unterricht nach knappem Zeitplan auf estnisch umzustellen.
Es gibt auch Esten, die sich fragen, ob sprachliche Toleranz nicht dringender sei als die Stationierung von Nato-Soldaten an der russischen Grenze. Ich stellte die Frage auch einem Deutsch-Balten, der damals ökonomischer Berater des estnischen Regierungschefs war. Er lachte und fragte mich: „Womit sollen wir uns denn als Nation identifizieren?“ Er erinnerte daran, dass Estland vor und auch während der ersten Unabhängigkeit zwischen den Weltkriegen ein Vielvölkerstaat war. Meistens sprachen nur die Bauern estnisch, während die übrigen Funktionen vorwiegend von Russen, Deutschen, Schweden und auch Finnen ausgeübt wurden.
Handicap der Demokratie
Die Diskriminierung der russischen Sprache ist ein Thema für den zwischen estnischen und russischen Medien geführten Propagandakrieg. Sie beschränkt aber auch die Demokratie. Bei den Wahlen im Februar erhielt die liberale Reformpartei 27,7 % der Stimmen und damit 30 von 101 Sitzen im Parlament. An zweiter Stelle folgte die Zentrumspartei des auch von Russen gewählten Edgar Savisaar mit 24,8 % und 27 Sitzen. An dritter Stelle stehen die Sozialdemokraten mit 15,2 % und 15 Sitzen und an vierter Stelle die Vaterlandspartei mit 13,7 % und 14 Sitzen. Die 5 % Hürde überschritten auch die Freie Partei und die Christliche Volkspartei mit je 8,7 % der Stimmen und 8 Sitzen. Savisaar ist nicht nur seit Jahren Bürgermeister der Hauptstadt Tallinn, sondern erhielt in den Wahlen auch persönlich mit 25 072 Stimmen das beste Resultat, während der bisherige und sicher auch künftige Regierungschef von der Reformpartei es nur auf 15 862 Stimmen brachte.
Der bisherige und künftige Ministerpräsident kann also ohne grosse Probleme eine Koalition bilden. Estland funktioniert gut. Aber der prinzipielle Ausschluss für ein Viertel der Bevölkerung aus sprachlichen Gründen ist ein Handicap für die Beziehungen zu Russland und beeinträchtigt auf Dauer auch das Funktionieren der Demokratie.