Ein Seminar in Delhi über Gandhara. Gandhara? Selbst für jene, die mit diesem Namen etwas anfangen können – die einzigartige Fusion hellenistischer, buddhistischer und hinduistischer Kunststile um die Zeitenwende – hat der Begriff keine klaren Umrisse.
Es gab vor zweitausend Jahren eine Region dieses Namens, gelegen in der Gabelung der beiden Flüsse Kabul und Indus, bei deren Austritt in die nordindische Tiefebene. Aber sie deckte nur einen kleinen Teil des Gebiets ab, in der dieser Stil praktiziert wurde; es reicht von Mathura bei Delhi bis weit über Bamyan in Afghanistan nach Zentralasien hinaus.
Wichtiger als Bamyan
Dessen grosse Buddhastatuen waren die bestbekannten (wenn auch späten) Repräsentanten dieses Stils, in dem die bis dann körperlose Gestalt Gautama Buddhas plötzlich eine griechisch inspirierte Form erhielt. Auch die zeitliche Einordnung der Gandhara-Kultur ist vage, denn sie ist nicht deckungsgleich mit der Herrschaft einer regionalen Dynastie. Sie begann nach der Alexander-Expedition an den Indus (um 330 vor unserer Zeitrechnung) und war noch 500 Jahre später stilbestimmend.
Weit bedeutender als Bamyan war zu jener Zeit ein Tal fünfzig Kilometer südöstlich von Kabul, das den lokalen Namen Mes Aynak trägt. Dort fanden Archäologen bereits in den siebziger Jahren Überreste einer Anlage, die ein religiöses Zentrum des damaligen Buddhismus vermuten liessen. Doch erst nach der Vertreibung der Taliban – und dem Schock der Sprengung der Bamyan-Buddhas – begannen erste Grabungen. Sie zeigten rasch, dass unter dem Sand und lockeren Schiefer dieser völlig ausgetrockneten Gegend grosse Schätze verborgen sein mussten – zahlreiche und zum Teil überlebensgrosse Buddha-Statuen, Überreste von insgesamt sieben Klöstern, über einhundert Stupas, Glas- und Töpferscherben – und unzählige Münzen.
Millionen Tonnen Kupfererz
Dies waren allesamt Kupfermünzen, und damit trat eine weitere Überraschung zu Tage. Das Tal liegt auf einer grossen Kupfermine. Auch dies war bekannt, weist doch schon der Ortsname Mes Aynak – ‚Kleines Kupferbecken’ – darauf hin. Was aber nicht bekannt war: Bereits vor zweitausend Jahren wurde dort Kupfererz abgebaut und verarbeitet. Man stand vor einem einzigartigen Zusammentreffen religiöser und frühindustrieller Tätigkeiten.
Der afghanische Staat hatte den Abbau dieses Rohstoffs bereits vor der Invasion sowjetischer Truppen im Jahr 1979 geplant. Doch der bald vierzigjährige Krieg, den diese ausgelöst hat, verhinderte dessen Nutzung. Aber die Archäologen, die nach 2001 auf schmalem Feuer mit ersten Grabungen begannen, wussten, dass die mehreren Millionen Tonnen Kupfererz unter den Fundstätten eine Zeitbombe sind.
Chinesische Lizenz
Sie begann zu ticken, als im Jahr 2007 der chinesische staatliche Rohstoffgigant MCC eine dreissigjährige Schürflizenz für Mes Aynak erhielt. Es schien ein Rennen, das die Wissenschaftler nur verlieren konnten. Die Regierung in Kabul stellte sich zwar verbal hinter die Rettung dieses nationalen Kulturschatzes, aber es war ein Rennen mit ungleichen Handicaps. Das Ausgrabungsbudget deckt nicht einmal die Löhne für das Personal ab – ein Rinnsal gegenüber den Millionen an Schmiergeldern, die bei diesem Drei-Milliarden-Dollar-Vertrag zu fliessen begannen. Qadir Timor, der Ausgrabungsleiter konnte sich nicht einmal einen Computer und eine Kamera leisten.
Die Einschaltung von französischen Archäologen (unterstützt von Weltbank und Unesco) schien zunächst Hilfe zu bringen. Aber es zeigte sich bald, dass die Franzosen Rescue Archaeology betrieben, will sagen: möglichst rasch möglichst viel interessantes Material an der Oberfläche retten, wenn nötig mit Raupenfahrzeugen statt mit Spachtel und Staubpinsel.
Umsiedlung von Dörfern
Es kam zum Konflikt mit den afghanischen Teams unter Qadir Timor, die weiterhin auf der vollständigen Freilegung und Rettung der Stätten bestanden; was bedeutete, dass jede Schicht mit Rücksicht auf darunterliegende Bestände sorgfältig abgetragen werden muss, ein Verfahren im Zeitlupentempo.
Die Franzosen zogen ab, versorgt mit Proben der Funde und der Dokumentation des gesamten Geländes, und überliessen ihre afghanischen Kollegen dem Schicksal. Inzwischen hatte auch MCC mit Vorarbeiten begonnen – Zäune wurden hochgezogen, Strassen präpariert, Arbeiter-Unterkünfte gebaut. Die Behörden begannen mit der Umsiedlung von Dörfern. Und sie errichteten eine Polizeistation und postierten ein Bataillon von 250 Polizisten vor Ort.
Morddrohungen
Als wäre dies nicht genug, meldeten sich nun die Taliban. Die Provinz Logar ist ein wichtiges Aufmarschgebiet der Gotteskämpfer, in das sie von Pakistan her in Richtung Hauptstadt einsickern. Qadir Timor erhielt über SMS Morddrohungen, und Dorfbewohner, die sich an den Ausgrabungen beteiligten, wurden bedroht, weil sie ‚buddhistische Götzen’ anbeteten. Auf der Strasse kam es zu mehreren Unfällen mit Landminen.
Doch diese Kombination von Bedrohungen produzierte auch paradoxe Lichtblicke. Die Schutzdispositiv für die Chinesen – Zäune, Polizeipatrouillen – schirmte auch die Ausgrabungsorte ab, nicht nur gegen die Taliban, sondern auch gegen Schatzdiebe. Diese hatten zuvor leichtes Spiel gehabt, da es unmöglich war, die vielen Funde in Lagerräumen zu schützen, da es für solche selbstverständlich kein Geld gab. Nur etwa eintausend Gegenstände konnten bisher im Nationalmuseum von Kabul deponiert werden, für mehr gab es dort keinen Platz.
Grösste, reichste Ausgrabungsstätte
Und nun kommt dem verängstigten Grabungstrupp unter Qadir Timor noch die Weltkonjunktur zu Hilfe. Die Nachfrage nach mineralischen Rohstoffen, darunter Kupfererz, ist eingebrochen. Und da China die Hälfte des weltweiten Kupfers konsumiert, hat auch bei MCC in Afghanistan der Druck nachgelassen, möglichst rasch mit der Schürfung zu beginnen. Im Gegenteil, MCC hat die Regierung in Kabul um Neuverhandlungen ersucht, weil der weltweite Preissturz auch die Wirtschaftlichkeit des Projekts in Frage stellt.
Die existentielle Bedrohung der Ausgrabungen von der Triade MCC, Taliban und Kunstdieben bleibt dennoch akut, sagte uns der amerikanische Journalist Brent Huffman am Gandhara-Symposium. Er zeigte seinen ergreifenden Film Saving Mes Aynak, den er 2014 gedreht hat. Dank ihm erfuhren die allermeisten Teilnehmer – mich eingeschlossen – zum ersten Mal von dieser weltweit vielleicht grössten und potentiell reichsten Ausgrabungsstätte – und der verzweifelten Lage, in der sie sich befindet.
Wirtschaftliche Interessen über alles
Wie gross – und aussichtslos – der Konflikt zwischen Kultur- und Wirtschaftsgütern in einem armen Land sein kann, wurde den Teilnehmern auch von der Kunsthistorikerin Kavita Singh vor Augen geführt. „Es ist Zeit, dass wir den Blick auf uns lenken. Hier in Delhi, unter dem Boden, auf dem wir stehen, befinden sich dreitausend Jahre Siedlungsgeschichte. Aber wir stehen auch über mehreren Stollen der U-Bahn. In den zehn Jahren, in denen sie gebaut wurde, gab es keine einzige Stimme, die nach der Möglichkeit archäologischer Funde gefragt hätte“. Weder der staatliche Bauherr noch ein Archäologe meldete sich zu Wort – und erst recht nicht die Baugesellschaft. Wichtig war nur, dass die Metro möglichst rasch gebaut war. Fundstellen hätten die Arbeiten nur gebremst. „Und wenn dies im reichen Delhi geschieht, wie viel grösser ist das Dilemma für ein armes Land wie Afghanistan“.
Huffman stimmte ihr zu: „In einem bitterarmen Land wie Afghanistan werden sich die wirtschaftlichen Interessen schliesslich durchsetzen“. Die Frage war nur, ob es zuvor noch gelingen würde, auch dem akuten Bedarf des Landes nach der Wiederherstellung einer nationalen kulturellen Identität mithilfe historischer Symbole Genüge zu tun.