Vor kurzem wurde in Bombay das erste Starbucks Café Indiens eröffnet. Ich spazierte zufällig am Tag nach der Eröffnung daran vorbei. Eine grosse Menschentraube stand vor dem Eingang, und ich konnte gar nicht anders als mich nähern. Im Gedränge unter den Arkaden des historischen «Horniman Circle» fiel mir eine Tafel auf, die den Besucher auf Marathi, Hindi, Tamil, Gujerati, Telugu, Französisch und Englisch willkommen hiess. Einige Tage später, im Flug von Bombay nach Delhi, machte die Ansagerin nicht nur die üblichen Sicherheitshinweise; sie wies auch darauf hin, dass Crew-Mitglieder in diesem Flug neben Hindi und Englisch auch Tamil, Konkani, Malayalam und Manipuri sprächen.
Sprachenvielfalt nur noch in Kindheit und Provinz
Wird Indiens Sprachenvielfalt plötzlich Mode im Land, fragte ich mich, ähnlich wie in der Schweiz die Dialekte? Ist man allmählich wieder stolz auf diese ausserordentliche linguistische Diversität? Lange hatte es so ausgesehen, dass die Kombination von Globalisierung und Nationalstolz bald nur noch Englisch und Hindi zulassen würde. Die anderen Sprachen überleben, aber immer mehr im Reduit von Küche und Kindheit, Bäuerlichkeit und Provinz. Beiläufig erwähnte ich meine beiden Beobachtungen im Gespräch mit einem alten Kollegen aus meiner Korrespondentenzeit. «Forget it,» sagte er kategorisch. «Schau und hör dich um – Englisch ist auf dem Weg, Indiens Nationalsprache zu werden.»
Er hatte recht. Plötzlich sah ich in den Bazars von Delhi und Bombay, im Gewirr von Firmenschildern, Plakaten, Hinweistafeln immer wieder Wegweiser zu einem «English Language Institute», «English Tuitions» oder «Foreign Language Centre». Mehr als diese sachlichen Untertitel waren es die süssen Firmennamen, die den emotionalen Marktwert dieser Angebote durchgaben: «God’s Gift», lautete einer im Delhi-Vorort Noida, «Vwin» stand im Byculla-Quartier in Bombay, «Ispeak» beim Victoria Terminus. In Alibagh, meiner unmittelbaren Nachbarschaft, erfuhr ich, was diese Sprachschulen vermitteln: Nicht Satzaufbau und korrekte Phonetik, sondern simple Konversation. Die meisten Schüler im improvisierten Klassenzimmer sind Erwachsene und Teenager. Sie wollen eine Verkehrssprache erwerben; dies vielleicht auch. Vor allem aber wollen sie der Welt zeigen, dass sie der Provinz entflohen sind.
Englischkenntnisse als Schlüssel für alles
Inzwischen verlangt auch in Alibagh fast jeder Job ein bisschen Englisch; aber meist ist es nur, um der Firmenkundschaft zu zeigen, dass man Teil ist des neuen, modernen Indien. Wer heute eine Stelle als Türsteher oder als Toilettenreinigerin in einer Shopping Mall will, wer als Chauffeur unterkommen möchte oder als Laufbursche, hat bessere Chancen, wenn er im Bewerbungsformular Englischkenntnisse vorweisen kann. Wie gut sie sind, ist schliesslich nicht so wichtig. «What wine you like?» fragte uns einmal der Sommelier im Radisson von Alibagh. «Black or yellow?»
Englisch ist die Überholspur geworden, die nicht einmal in erster Linie ökonomischen, sondern sozialen Gewinn verspricht. Bei einem Abendessen, das der Schweizer Botschafter in Delhi kürzlich für Bundesrat Alain Berset gab, erzählte Raju Kanoria – seines Zeichens Präsident des Arbeitgeberverbands FICCI – folgende Geschichte: Der Sohn seines Kochs sei für einen Job zu ihm gekommen; er habe ihm dabei ein Bachelor-Zertifikat für Englisch ausgehändigt. Als Kanoria darauf in Englisch weiterfuhr, stockte der Junge: Er sprach kein einziges Wort. Er habe das Zertifikat gekauft, antwortete der Junge auf Kanorias perplexes Nachfragen. Er solle doch eine Lehre in einer seiner Fabriken absolvieren, schlug er ihm vor; ein Handwerksberuf bringe bedeutend mehr Lohn als der Job eines «Tea Boy» in einem Büro. Der junge Mann war entsetzt. «Nur das nicht,» soll er Kanoria angefleht haben; eine Handwerksstelle würde Schande über seine Familie bringen. Zudem habe diese viel Geld für sein Zertifikat ausgegeben (und den glänzenden Schulabschluss wohl auch weit und breit hinausposaunt).
Bollywood als Vorbild
Wie so oft ist es die Filmindustrie, die diese gesellschaftlichen Tendenzen vorlebt. Der Drehbuchautor Abhinav Kashyap erzählte kürzlich dem Magazin «Eye», heute seien Filmskripte zwar auf Hindi abgefasst – aber alle in lateinischer Schrift. Und wie jeder Bollywood-Konsument weiss, sind Filmdialoge gespickt mit englischen Redewendungen, so sehr, dass Kommentatoren heute nicht mehr von «Bombaya Hindi» sondern von «Hinglish» reden. Neuerdings fliesst dieses Pidgin sogar in die Filmtitel und die Namen von Stars ein. «Jab we met» (Als wir uns trafen) lautete ein kürzlicher Hit, und ein anderer Streifen versprach «Dangerous Ishq» (Gefährliche Liebe). Ein bekannter Filmstar aus dem Süden hat den Titel seines Erfolgsfilms gleich in seinen Namen – «Quick Gun Murugan» – eingraviert.
Mittlerweile wird die Faszination des Englischen auch zum Thema von Filmstreifen. «English Vinglish» lautete der Titel des Überraschungserfolgs dieses Jahres. (Dieses sprachliche Ricochet ist eine beliebte rhetorische Wendung des Englischen, die ich als die leicht ironische Bezeichnung von etwas Gängigem, Modischem interpretiere). Falls diese Deutung stimmt, trifft der Titel den Sachverhalt ziemlich genau. Es ist die Geschichte einer jungen, attraktiven Frau und Mutter, die gut kocht, schöne Saris trägt, ihren Kindern bei den Hausaufgaben hilft.
Dank Englischkurs ein vollwertiger Mensch
Ausser den Englisch-Aufgaben. Denn dort versagt sie vollkommen, da sie nur Hindi spricht. Ihr Mann bemitleidet sie, ihre Tochter schämt sich, wenn sie im Verkehr mit dem Schuldirektor oder bei Elternabenden verstummt, da ihr kein englisches Wort über die Lippen kommt. Als sie durch Zufall in die USA kommt – eine Hochzeit von Verwandten in New Jersey steht an – beschliesst sie, insgeheim einen Englischkurs zu nehmen. Es ist wie eine Menschwerdung. Zum ersten Mal trifft sie auf Menschen, die wie sie Teil dieser grossen Moderne sein wollen. Es macht die Klasse zu einer verschworenen Bande, und gibt der Frau ihre Selbstsicherheit zurück. Sie schliesst auch das Bekenntnis ein, dass Freundschaft und Liebe schliesslich über sprachliche Bindung und Trennung hinaus gehen.
Menschwerdung. Im Dorf Banka in Uttar Pradesh, so las ich kürzlich im Indian Express, wollte der Dalit-Dorfpolitiker Chandra Bhan Prasad einen Tempel errichten mit der Statue der «Göttin Englisch». Sie war der amerikanischen Freiheitsstatue nachempfunden, doch statt der Fackel lag ein Buch in der hochgestreckten Hand, ein Schreibstift in der andern. Die vielen landlosen Analphabeten im Dorf, so argumentierte er, bräuchten eine Inspiration. Da den Kastenlosen der Zutritt zum lokalen Hindu-Tempel versperrt ist, was ihren Rang als gesellschaftlich Ausgestossene zementiert, würde ihnen ein Tempel für «Goddess English» – Fremdsprachenkenntnisse – die Würde als vollberechtigte Bürger geben.
Ob die Dalits ihn verstanden, bleibt unklar. Die Kasten-Hindus im Dorf hingegen verstanden die Gefahr sogleich und zwangen Prasad, den Bau einzustellen. Das hielt ihn nicht ab, nun eine Dorfschule einzurichten. Ihr Name: «Ocean of Education English Speaking Classes».
Corrigendum: In der letzten Kolumne schrieb ich, dass in Indien seit 1974 kein Todesurteil mehr vollstreckt worden ist. Diese Aussage ist falsch. Die letzte Todesstrafe vor jener an Kasab wurde im Jahr 1995 ausgeführt. Laut Regierungsangaben sind seit der Unabhängigkeit Indiens 52 Menschen gehängt worden. Ich danke meinem Freund T.W. für seine genaue Lektüre.