Von Farea al-Muslimi
Der Regen bestimmt das Leben, die Befindlichkeit und die Stimmung der Menschen in meinem Dorf. Er verspricht den Bauern Arbeit und Einkommen, den Menschen Nahrung für die kommenden Monate. Das ist heute so, und das war schon so, als ich vor mehr als 20 Jahren als eines von zwölf Kindern in der Familie in Wusab das Licht der Welt erblickte. Hier hatte mein Grossvater seine Felder bewirtschaftet und Wurzeln geschlagen, und auch heute noch werde ich von allen Einwohnern des Dorfes bei meinen Besuchen daheim herzlich empfangen, wenn sie meinen Namen hören.
Wusab ist ein grosser Bezirk in den westlichen Bergen der Provinz Dhamar, der nur wenig südlich der Hauptstadt Sana’a liegt. Aber um hinzukommen, braucht es neun Autostunden, so dass Wusab fernab von der Welt und ihren Geschehnissen ist. Das bedeutet auch, dass die Segnungen der Zivilisation wie Elektrizität und medizinische Versorgung Wusab bisher nicht erreicht haben. So hörte ich bei meinem diesjährigen Besuch zuhause immer noch dieselben Klagen über die Entbehrungen, unter denen auch ich hier aufgewachsen bin. Der Staat und die Regierung kümmern sich nicht um die Bürger in diesen abgelegenen Gebieten.
Die Dürre ist in diesem Jahr besonders schlimm. Selbst die Brunnen, von denen die Frauen und Mädchen das Wasser in Behältern auf ihren Köpfen in die Häuser tragen, sind am Austrocknen. Der Regen aber bedeutet den Menschen hier alles – sobald es regnet, gehen die Leute mit einem Lächeln an die Arbeit, säen die Saat aus, helfen sich gegenseitig und vergessen die lange Trockenheit. Zur Erntezeit werden sie mit Innbrunst ihre Lieder singen, Lieder, die nicht nur eine jährlich wiederkehrende Tradition bedeuten, sondern eine Lobpreisung des Lebens selber sind.
Wegen der dramatischen Trockenheit versammelten sich die Einwohner auf den Berggipfeln, um Gott um den erlösenden Regen zu bitten. Einige weinten dabei, andere brachten voller Gottvertrauen den Regenschirm mit, zweifelten sie doch keinen Moment an der Gnade des Himmels. Meist dienen die Schirme dann nur zum Schutz vor der sengenden Sonne, doch es ist auch schon vorgekommen, dass sie tatsächlich für einen kurzen Regenguss geöffnet werden mussten.
Im April fielen in Wusab statt des ersehnten Regens zwei Raketen vom Himmel, die von amerikanischen Drohnen abgeschossen worden waren. Ihre Einschlagstelle liegt auf dem Weg vom Hauptort von Wusab zu meinem Dorf, das auf der gegenüberliegenden Seite des Tals liegt. Meine Brüder und Freunde benutzen den Weg fast täglich. Wegen des Drohnenangriffs war bei meinem Besuch zuhause alles ein bisschen anders als sonst. Denn etwa zwei Wochen zuvor war ich in Amerika gewesen, um vor dem juristischen Ausschuss des Senats zum Drohnenkrieg im Jemen auszusagen. Ich kannte die Amerikaner und die Amerikaner kannten mich: Mit amerikanischer Unterstützung hatte ich Jemen Englisch gelernt, später lebte ich als Austauschstudent ein Jahr in Kalifornien bei einer Gastfamilie und schliesslich studierte ich mit einem Stipendium der amerikanischen Regierung an der Amerikanischen Universität in Beirut politische Wissenschaften. Die Einladung nach Washington hatte ich erhalten, bevor der Angriff auf mein Dorf stattfand.
Es war etwa acht Uhr abends, als die meisten sich bereits in ihren Häusern zum Schlafen gelegt hatten. Hier gehen die Leute bei Sonnenuntergang zu Bett und stehen bei Sonnenaufgang auf. Ohne Strom gibt es keine Möglichkeit, lange Abende zu verbringen, und einen Generator, um das Haus zu erhellen oder Fernsehen zu schauen, können sich nur wenige leisten.
Es gab einen lauten Knall, die die Berge und die Sterne zum Beben brachten. Aus dem Schlaf geschreckt, suchten die Menschen Schutz in den Erdgeschossen ihrer Häuser, wo das Vieh untergebracht ist. Andere rannten ins Freie, um nachzusehen, was los war. Manche hofften, der Knall sei Donner, der den ersehnten Regen ankündigt. Einige glaubten, es handle sich um Sprengungen auf einer nahegelegenen Baustelle. Nach drei Jahrzehnten unerfüllter Versprechungen hatte die Regierung nämlich vor einigen Monaten mit dem Bau einer Asphaltstrasse begonnen, und so stürmten einige Bewohner aus dem Haus und schimpften auf die Baufirma, die ausgerechnet nachts die Felsen sprengte. Sie ahnten nicht, dass über ihren Köpfen drei Drohnen schwebten: Eine hatte auf das Ziel geschossen, eine zweite flog zur Aufklärung mit und eine dritte navigierte, um den nächsten Angriff aus einem anderen Winkel zu führen. Niemandem entging der ohrenbetäubende Lärm und viele sahen den Lichtschweif der zweiten Rakete, bevor sie in ihr Ziel einschlug. Einer der ersten, die am Einschlagort eintrafen, hörte das Wimmern und Stöhnen eines Menschen. Doch an Rettung war nicht zu denken, noch brannte Feuer und noch schwebten die bedrohlichen Flugzeuge über den Köpfen. Im Gegensatz zu einem gewöhnlichen Mörder fliehen die Drohnen nicht vom Tatort, sondern wollen sich des Erfolgs ihrer Tat vergewissern.
Der Angriff galt, wie sich herausstellte, einem Mann, den die meisten in Wusab kannten: Hamid ar-Radmi. Ausser ihm fielen drei weitere Personen dem Angriff zum Opfer – keiner von ihnen hatte offenbar eine Ahnung davon, was ihnen drohte. Einer der Begleiter von Radmi war ein Abiturient, der davon träumte, bald an der Militärakademie zu studieren. Er wollte eines Tages den Terrorismus und die al-Kaida bekämpfen. Radmi, verkündete die jemenitische Nachrichtenagentur nach seinem Tod, sei ein Mitglied von al-Kaida gewesen. Ein weiteres Opfer war ein Mann ohne Arbeit, der sich Radmi in der Hoffnung angeschlossen hatte, mit kleinen Handreichungen und Dienstleistungen eine tägliche Mahlzeit zu verdienen. Der dritte war Familienvater und schmiedete Pläne, nach Saudi-Arabien auszuwandern, um dort den Lebensunterhalt für seine Familie aufzubringen. Auf einen Schlag war seine Frau, die ihr zweites Kind erwartete, zur Witwe geworden. Ihr Traum von einem normalen Familienleben war dahin, und ihre Sorge um eine anstehende schwere Geburt an einem Ort ohne medizinische Versorgung wich dem Bangen um ihre Zukunft ohne Ehemann und Ernährer.
Ich kannte Radmi nur dem Namen nach, doch in Wusab war er weitherum bekannt und geachtet. Die Leute erzählten mir, dass er im Ausland gelebt hatte und eine Weile im Provinzgefängnis gesessen hatte, aber trotzdem von allen respektiert wurde. Als ich vor Radmis Haus stand und mit Angehörigen der Opfer des Drohnenanschlags sprach, senkte sich eine grosse Last auf meine Schultern. Ich war in Amerika gewesen, hatte Senatoren und andere mächtige Politiker getroffen. Jetzt wollten die Menschen wissen, ob ich denn in den Vereinigten Staaten erfahren habe, wieso unschuldige Menschen in Wusab sterben mussten? Der Vater des Studenten drehte verzweifelt das Abschlusszeugnis seines Sohnes in den Händen und fragte mich, ob es nun eine finanzielle Entschädigung geben würde. Sein Sohn wollte sein Studium fortsetzen und hätte so zum Lebensunterhalt der Familie einen wichtigen Beitrag leisten können.
Die Fragen, die ich nach meiner Rückkehr aus Washington beantworten musste, lasten schwer auf mir. Ich erkläre den Leuten das politische System der Vereinigten Staaten, um ihnen begreiflich zu machen, warum der Senatsausschuss mich anhörte. Ich verspreche ihnen, dass ich weiterhin das Publikum und die Entscheidungsträger im Westen über die Lage in Jemen informieren will. Aber weder weiss ich, was dabei am Ende herausschauen wird noch ob irgendwelche Entschädigungen vorgesehen sind. Der Vater, der Wiedergutmachung für den Tod seines Sohns verlangte, war enttäuscht von meinen Antworten. Sie stempelten mich in seinen Augen wohl für immer zum Dummkopf.
Als ich nach dem Besuch bei den Familien der Opfer nach Hause zurückkehrte, tischte mir meine Mutter mit verstecktem Stolz mein Lieblingsessen auf, das aus den bescheidenen Erträgen unseres Landes bestand. Doch ich achtete kaum darauf. Meine Gedanken kreisten um das Chaos, das jemand hier angefacht hat, als er mehrere tausend Kilometer entfernt auf seinem Computer wie auf Playstation den Angriff auslöste. Abends wälzte ich mich in meinem Bett und fragte mich, was meine Reise nach Amerika und zurück in mein Dorf nun bewirken könne. Mein Auftritt vor dem Kongress und der ganze Medienwirbel, der darauf folgte, würden die Opfer des amerikanischen Angriffs nicht wieder lebendig machen. Amerika hat mir die Möglichkeit geboten, zu studieren und hat mich damit ins 21. Jahrhundert katapultiert. Es führte mich aus der Enge meines Dorfes hinaus und lehrte mich die Liebe zu dieser Welt. Nun vergreift es sich an meinem Land und schleudert mich zurück ins 7. Jahrhundert. Da stehe ich nun und habe kein Schwert. Selbst die Vertrautheit meines Zimmers, die ich bei jeder Heimkehr empfunden hatte war heute nicht zu spüren, der Raum, in dem ich aufgewachsen war, war mir heute fremd. Die Morgendämmerung setzte langsam ein, doch es war immer noch zu dunkel, um etwas zu erkennen. Ich hörte die Schritte meiner Mutter, die mir, ihrem Sorgenkind und Gast, die frische Morgenmilch brachte von der Kuh, mit der wir unser Haus teilen.
Aktueller Nachtrag zu obenstehendem Bericht:
Eben wurde die Polizeistation im besagten Dorf in Jemen von einer Gruppe Bewaffneter überfallen und zwei Soldaten dabei verletzt. Die Angreifer sind ungehindert entkommen, obwohl sie auf der Flucht noch ein Rad wechseln mussten… Der Regierungsvertreter in dem Gebiet ist seit dem Drohnenangriff nicht mehr in seinem Büro aufgetaucht, aus Angst vor Vergeltung.