Die neuen Regime, die nach vollendetem Umsturz aus der arabischen Revolution hervorgingen, wollen demokratische Regime werden. Doch die neuen Regierungen in Ägypten, in Tunesien und - sich abzeichnend - auch schon in einem künftigen Syrien, sehen ihren Weg in die Demokratie versperrt durch einen ideologisch gefärbten Machtstreit, bei dem es darum geht, ob die erhoffte Demokratie "islamisch" sein soll oder "säkular".
Sogar in der Türkei, deren bisher erfolgreicher Weg zur islamischen Demokratie vielen arabischen Revolutionären als Vorbild galt, zeichnet sich nun die Gefahr ab, dass die dortige Islamische Demokratie Wege einschlägt, die in ähnliche unfruchtbare Dauerkonfrontationen einmünden könnten.
Ablenkung von den wahren Zielen
Dies sind Kämpfe innerhalb der neu befreiten islamischen Staaten, die den Weg in eine fruchtbare Zukunft versperren. Sie lenken ab von den grossen Entwicklungsaufgaben vor denen die neuen Regime stehen. Die Bevölkerung erwartet, dass sie schnell angepackt werden. Wenn die Lebensbedingungen der Menschen sich nicht verbessern oder sogar noch schlechter werden, als sie bisher gewesen sind, wird die Enttäuschung so bitter werden, dass weitere Folgen zu gewärtigen sind.
Doch der Streit darüber, ob die erhoffte Demokratie "islamisch" oder "säkular" werden soll, droht anzudauern. Ein Kompromiss ist schwer zu erreichen, weil es sich nicht nur um einen ideologischen Streit handelt, sondern auch um einen Zwist darüber, welche Equipe die Macht ausüben soll. Es gibt "islamische" und "säkulare" Politiker. Bis zum Sturz der alten Regime waren säkulare Machthaber und deren ebenfalls weitgehend säkulare Vertrauensleute, an der Macht. Nach dem Sturz jedoch erwiesen sich die "islamischen" Netzwerke als die ersten Formationen, die eine bedeutende politische Gefolgschaft mobilisieren konnten und daher die ersten Wahlen gewannen.
Aus dem Untergrund in die Führung
Diese Netzwerke waren schon alt. Sie hatten als Untergrundformationen die Zeit des Nationalismus überdauert. Ursprünglich waren sie als eine islamisch gefärbte Reaktion auf die Präsenz und Einwirkung des kolonialistischen Westens entstanden. Die nationalistisch legitimierten Machthaber militärischer Herkunft, welche die arabische Welt nach der Entkolonialisierung und seit den Niederlagen durch Israel von 1948 und in den späteren Israelkriegen von 1956, 1967, 1973 und 1982 dominierten, hatten diese islamischen Netzwerke bekämpft, niedergehalten aber nie völlig auszurotten vermocht.
Die meisten der heute Wahlen gewinnenden islamischen Gruppierungen gehen von auf die Muslimbrüder zurück, die ihre Aktivitäten sozialer und politischer Natur in Ägypten 1928 begonnen hatten und sich weit über die gesamte islamische Welt ausdehnten.
Die salafistischen Rechtsüberholer
Eine parallele islamische Strömung, die man die „salafistische“ nennt, entwickelte sich neben jener der Brüder und ihrer Verzweigungen. Sie ist noch älter und reicht bis tief in die vorkoloniale Zeit zurück. Im 18. und 19. Jahrhundert hatte sie auf der Arabischen Halbinsel geblüht, wo sie nach dem reformierenden Gottesgelehrten Ibn Abdul-Wahhab als Wahhabismus bekannt wurde. Als Staatsdoktrin in Saudiarabien, und von dort aus gefördert, hat sie sich ebenfalls über die gesamte islamische Welt hin verbreitet. Sie ist nicht, wie die Brüder, streng organisiert, sondern beruht auf dem Einfluss von Predigern, die heute am stärksten als Fernsehprediger wirken.
Ihr Anliegen ist, den Islam so zu verstehen und so zu leben, wie er - ihrer Ansicht nach - vom Propheten gelebt wurde. Man unterscheidet zwischen "wissenschaftlichen" Salafiten, die sich dem Studium der heiligen Schriften widmen. Diese wollen sie "ohne Auslegung" ganz wörtlich verstehen. Auf der andern Seite gibt es die "jihadistischen" Salafiten, die darauf ausgehen, die ihnen als vorbildlich geltende Ordnung der Zeit des Propheten wiedereinzuführen, wenn nötig auch durch Gewaltanwendung.
Ihr Einfluss ist primär deshalb von Bedeutung, weil sie im Versuch, die Brüder zu übertrumpfen, auf deren mehr konservativ eingestellte Gefolgsleute und Gesinnungsgenossen einen Druck ausüben, den die Bruderschaft nicht ignorieren kann, wenn sie nicht Gefahr laufen will, einen Teil ihrer Anhänger an sie zu verlieren.
Die säkularen Gegenspieler
Diesem "islamischen Lager" stehen die zahlreichen säkularen Gruppen gegenüber, die eigentlich nur eine Gemeinsamkeit haben, nämlich dass sie vermeiden möchten, dass die Islamisten die Macht ergreifen und, wie sie fürchten, dann monopolisieren. Diese säkularen Gruppen bestehen im Grossen und Ganzen aus den Kreisen der modern gebildeten Muslime und ihrer persönlichen Anhänger und Mitläufer, die sich unter dem Einfluss der Kolonialmächte und später im Zeichen der Globalisierung entwickelt hatten und die als leitende Oberschichten seither den Staat und die Wirtschaft der muslimischen Länder gelenkt haben.
Sie bildeten die tonangebenden Oberschichten zur Zeit des Nationalismus, einer Ideologie, die sie aus dem Westen übernommen hatten. Der traditionelle Islam kennt ein Heimatgefühl, aber keine Nation. Aus dem Westen stammen auch die anderen Ausrichtungen und Ideologien, welche die säkularen Parteien vertreten, vom Kommunismus über den Sozialismus bis zum Liberalismus und Konservatismus in all ihren Spielarten.
Natürlich ist auch die heute von Seiten der Säkularen wie auch der meisten Islamisten angestrebte Demokratie ursprünglich ebenfalls eine Erfindung des Westens, die es in der traditionellen islamischen Welt nicht gab.
Ideologie im Dienst der Macht
Das Ringen zwischen den beiden in vielen der Staaten beinahe gleichgewichtigen Gruppierungen ist nicht nur ein ideologischer Streit, sondern zugleich ein Machtkampf. Die Belange der Macht nehmen dabei deshalb überhand, weil die beiden Kontrahenten die Machtergreifung des Gegenspielers fürchten. Beide nehmen an, wenn dieser einmal die Macht inne habe und festige, werde er sie nie mehr freiwillig oder auf Grund einer Abstimmung abtreten. Beide trauen dem Gegner zu, dass er die künftige "Demokratie", sobald er Macht über sie gewinne, in solcher Art behandeln und anwenden werde, dass ein Machtwechsel an der Spitze des Staates verunmöglicht werde. Sie argwöhnen, der andere gehe darauf aus, sich selbst an der Macht zu erhalten und seine Gegner permanent zu entmachten; solange bis schliesslich eine neue Revolution zustande kommt und dafür sorgt, dass er entfernt werde.
Lehren der Geschichte
Die Vermutung, dass dies so sein werde, wenn man den Gegenspieler zum Zug kommen lasse, ist begründet in den politischen Erfahrungen, die über die ganze Geschichte hindurch islamische Machthaber immer wieder gemacht haben und denen entsprechend sie sich verhielten. Man erobert die Macht, um sie für sich und seine Nachfahren festzuhalten. Das Osmanische Reich ist ein gutes Beispiel für diese Grundhaltung. Dass dieses Reich der Besitz eines Machthabers - "Sultan" bedeutet Machthaber - und seiner Nachkommen war, bildete eine über Jahrhunderte dermassen unverrückbare Konvention, dass seine Untertanen sich keine legitime staatliche Existenz vorstellen konnten, die nicht unter einem Herrscher aus dem Hause Osman gestanden wäre. Es gab Zeiten, in denen alle Mitglieder der Familie ausgerottet waren, bis auf einen, den seine Untertanen nicht einsetzen wollten, jedoch einsetzen mussten, weil es keinen anderen gab, und weil das Reich ohne seinen Osmanenabkömmling als Sultan an der Spitze undenkbar war.
Erwartungen, die sich selbst erfüllen
Der Argwohn auf beiden Seiten trägt entscheidend dazu bei, dass sich die Erwartungen des Machtmissbrauches der Gegenspieler erfüllen. Wenn die "islamische" Seite annimmt, die "säkulare" beabsichtige, sie selbst auf Dauer zu entfernen und dann ihre eigene Herrschaft zu errichten und auf Dauer zu bewahren, sobald sie einmal errungen sei, sieht sie sich auch gezwungen, einer solchen Entwicklung vorzubeugen, indem sie selbst mit allen Mitteln an ihrer gegenwärtigen Macht festhält und diese weiter zu sichern und auszubauen versucht.
Das gleiche gilt umgekehrt. Die Angst von der Gegenseite entmachtet und permanent marginalisiert zu werden, ist so stark auch bei jenen, die sich gerade an der Macht finden, dass die Regierung zunächst nicht regiert, sondern all ihr Sinnen darauf richtet, ihre Macht abzusichern, um künftig, wenn dies einmal - weitgehend - gelungen sein werde, mit dem Regieren zu beginnen.
Der Staatsapparat als Machtbasis
Sich abzusichern bedeutet in erster Linie, den Staatsapparat in die Hände der eigenen Anhänger und Vertrauensleute zu bringen. Nach dem Machtantritt eines neuen Machthabers ist dieser Apparat, der unter dem früheren Machthaber gewachsen war, von ihm ausgebaut wurde und ihm diente, kein zuverlässiges Instrument in Händen der neuen Macht. Der neue Machthaber sieht sich veranlasst, möglichst rasch und entschieden neue Oberhäupter "seiner" Administration zu ernennen und den Regierungsapparat ihrer Kontrolle anzuvertrauen.
Die Anhänger des Machthabers halten ihrerseits während der Machteroberung zu ihrem Oberherren, weil sie erwarten, nach dessen Sieg als seine Vertrauensleute eingesetzt zu werden und wirken zu können. Auch sie rechnen damit und zähen darauf, dass die Macht nun bei ihrer Formation bleibe und nicht etwa turnusgemäss an eine rivalisierende Gruppierung abgetreten werde.
Kompromiss und Zusammenarbeit
Es ist letzten Endes die Vorstellung, Macht zu teilen, die fehlt oder genauer: unglaubwürdig erscheint. Sie ist es auch im Licht der historischen Erfahrung der islamischen Völker. Doch Machtkompromisse sind notwendig, wenn es zu einer funktionierenden Demokratie kommen soll. Die Gegenformation oder Gegenformationen müssen von Beginn an ein Mitspracherecht erhalten und ausüben können, wenn es als glaubwürdig gelten soll, dass sie einmal später möglicherweise auf Grund einer Wahl ihrerseits zur Macht gelangen könnten.
Ein unantastbares Rechtssystem muss nach Möglichkeit sicher stellen, dass die "Rechte der Minoritäten" nicht nur verbal proklamiert, sondern auch eingehalten werden und dass die Möglichkeit eines Machtwechsels offen gehalten bleibt. Es ist kein Zufall, dass in dem gegenwärtigen Ringen um den Übergang zur Demokratie, die Richterliche Gewalt und die Frage ihrer Glaubwürdigkeit immer wieder eine entscheidende Rolle spielen. Auch diese Gewalt war nicht voll unabhängig in der Periode der Militärdiktaturen, und sie besitzt aus diesem Grunde heute nicht jene Glaubwürdigkeit, die ihre Entscheide zu unbestrittenen und unbestreitbaren Weisungen machte.
"Meine" oder "deine" Verfassung?**
Der Hauptkampfplatz ist heute jener der Verfassungen. In Ägypten haben die Muslimbrüder mit ihren salafistischen Verbündeten auf Grund der parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse (die bestanden, bevor das Parlament aufgelöst wurde) ihre Verfassungsvorstellungen durchgepeitscht und ein Verfassungsplebiszit gewonnen, nur um sich im Nachhinein vor Forderungen von der säkularen Seite gestellt zu sehen, diese Verfassung sofort zu revidieren, wenn sie erreichen wolle, das die Demonstrationen auf den Strassen aufhören.
Tunesien hat den umgekehrten Weg beschritten. Dort wurden den säkularen Kräften genügend Einspracherechte gewährt, um eine Sperrposition einnehmen zu können, die das Zustandekommen der notwendigen Zweidrittelmehrheiten in der Verfassungsversammlung verhindern konnte. Die Folge war jedoch eine Blockierung der Versammlung, die in den umstrittensten Fragen zu keinen Beschlüssen gelangen konnte.
Erdogans Streben nach Dauermacht
In der Türkei zeichnet sich heute eine vergleichbare Lage ab. Ministerpräsident Erdogan droht, "seinen" Verfassungsentwurf direkt dem Volk vorzulegen, weil die Verfassungsversammlung angesichts des Streites zwischen den "islamischen" Anhängern Erdogans und deren "säkularer" Opposition nicht vorankommen kann. Die Verfassungsvorstellungen Erdogans beinhalten auch, dass der Staatspräsident mehr Macht als bisher erhielte und beliebig oft wiedergewählt werden könnte, was klar auf eine künftige permanente Machtposition für Erdogan selbst abgestimmt wäre.
Auch in Libyen kommt der Entwurf einer neuen Verfassung nicht voran. Dort sind es nicht so sehr die säkularen und die islamischen Gruppen, die einander blockieren, als vielmehr die verschiedenen bewaffneten Milizen unterschiedlicher lokaler Herkunft und Loyalitäten mit ihren lokalen Parteigängern, die Kompromisse und damit den Fortschritt des Verfassungsvorschlags verhindern.
Machtkampf mit ideologischen Flaggen
Ein Blick auf diese Verfassungskämpfe macht klar, dass es überall mindestens ebenso sehr das Machtstreben von verschiedenen Gruppen und ihren Führungsfiguren ist, welches das Zustandekommen von glaubhaften Kompromissen verhindert, wie die ideologischen Fragen.
Je genauer man hinsieht, desto deutlicher wird, dass die ideologischen Fragen als Vorwand dienen, hinter denen die rivalisierenden Gruppen ihre Anhänger aufreihen. Den Anführern dienen sie dazu, "in diesem Zeichen zu siegen". Sieg jedoch bedeutet in ihrer Sicht nach wie vor, Machterwerb und Machterhaltung mit allen Mitteln, die sich als dazu notwendig erweisen. Als Selbstrechtfertigung dient dabei immer die Annahme, dass die Gegenseite, wenn sie Gelegenheit dazu erhielte, das gleiche tun würde.
Die Volksaufstände jedoch, mit denen die arabischen Revolutionen begannen, sind ein Zeichen dafür, dass grosse Teile der heutigen Bevölkerungen, darunter die Jungen in erster Linie, mit dem traditionellen System der Machtausübung nicht mehr zufrieden sind.
Dies war zu Beginn der nationalistischen Diktaturen militärischer Wurzel noch nicht der Fall. Damals unter Nasser, Asad Vater, Abdul Karim Qassem, Ben Bella, Bourguiba usw. waren die Bevölkerungen weitgehend bereit, dem jeweiligen "nationalen" Führer zu folgen. Heute gibt es weite Schichten, sowohl auf Seiten der Islamisten wie der Säkularisten, die ein Mitspracherecht fordern. Vielen dürfte die Verbindung klar geworden sein, die zwischen Mitspracherecht und sozialem und wirtschaftlichem Fortschritt der Einzelnen und der Gemeinschaft besteht. Sie ist impliziert in der Forderung nach "Würde" (Karame), denn wer menschenwürdig behandelt wird, erhält auch die Möglichkeit bei der Gestaltung seiner eigenen Zukunft und des eigenen Geschicks mitzureden und mitzuwirken. "Würdelos" ist jener, über den andere voll bestimmen.
Die Politiker müssten umdenken
Im politischen Bereich sind solche Forderungen nur erfüllbar, wenn die Machthaber dazu gezwungen werden, ihr Machtstreben zu beschränken und untereinander Kompromisse zu finden um zusammenzuarbeiten. Machthaber zu finden oder aus der eigenen Gesellschaft hervorzubringen, die sich gezwungen sehen und auch zu akzeptieren, derartige Beschränkungen hinzunehmen und daran zu glauben, dass auch ihre Rivalen und Konkurrenten die geltenden Regeln einhalten werden, ist die schwierige Aufgabe, welche die arabischen und die islamischen Gesellschaften lösen müssen, wenn sie vermeiden wollen, in das bisherige Machtgefüge mit dem einen lebenslänglichen Herrscher und der Existenz "ohne Würde" der Einzelnen zurückzugleiten.
Politische Parteien mit transparenten Strukturen und weitgehend selbstlosen Kadern an Stelle der heutigen Klientelgruppen von Anhängern, die auf Profit- und Machtbeteiligung ausgehen, wären ein wichtiges Mittel, um derartigen Zielen näher zu kommen. Sie existieren vorläufig nicht in genügendem Masse und eher noch auf lokalem Niveau als auf nationaler Ebene.