Der italienische Ministerpräsident kämpft in diesen Tagen um sein politisches Überleben. In fünf Wochen, am 4. Dezember, stimmen die Italienerinnen und Italiener in einer Volksabstimmung über die von Renzi vorgelegte Verfassungsreform ab. Sie soll die legendäre italienische Palaverdemokratie in Schranken weisen.
Sollte die Reform abgelehnt werden, so hatte Renzi einst erklärt, würde er zurücktreten.
Laut der jüngsten am Freitag veröffentlichten Umfrage des Instituts „Ixé“ für die Fernsehsendung „Agorà“ (Rai3) würden jetzt 40 % der Italienerinnen und Italiener „Nein“ zu Renzis Verfassungsreform sagen. 37 % würden mit „Ja“ stimmen. Beunruhigend für Renzi ist, dass sich trotz seines Grosseinsatzes, das „Nein“ verfestigt. Auch andere Meinungsforschungsinstitute, so „ScenariPolitici/Winpoll“ oder „Index Research“, sagen eine Niederlage des Regierungschefs voraus.
Hin- und hergeschoben
Die beiden Kammern des italienischen Parlaments haben die gleichen Rechte. Ein Gesetz muss sowohl von der Abgeordnetenkammer (camera dei deputati) als auch vom Senat gutgeheissen werden.
Hat eine der beiden Kammern ein Gesetz beraten, geht es in die zweite Kammer. Ändert diese zweite Kammer auch nur ein Detail, geht der Entwurf in die erste Kammer zurück. So werden Gesetzesentwürfe oft jahrelang hin- und hergeschoben. Die Parlamentarier lieben es, immer wieder neue Änderungen einzubringen. Oft werden bei einer Vorlage über hundert Änderungsvorschläge eingebracht. Eine Einigungskonferenz wie in der Schweiz gibt es nicht.
Folge ist ein politischer Stillstand. Die Parlamentarier, die bestbezahlten Europas, verheddern sich in monate- oft jahrelangen Detaildiskussionen. Dies ist einer der Gründe für die Schwerfälligkeit und die Misere im Land.
Ende des Zweikammersystems
Renzi, der „Macher“, der „Verschrotter des alten Italiens“, ging das Problem mit Vehemenz an. Seine Verfassungsreform sieht vor, die Kompetenzen der zweiten Kammer, des Senats, stark einzuschränken. Gesetze müssten nur noch von der ersten Kammer, der Abgeordnetenkammer, gutgeheissen werden. Der Senat würde zwar nicht abgeschafft, doch er würde von 310 auf 100 Mitglieder schrumpfen. Gewählt würden die Senatoren nicht mehr vom Volk, sondern von Regionalräten. Die Vorlage würde faktisch ein Ende des italienischen Zweikammersystems („Bicameralismo perfetto”) bedeuten.
Die Rechte unter Silvio Berlusconi war begeistert von diesem Vorschlag. Im sogenannten „Patto del Nazareno“ (Pakt des Nazareners) kamen Berlusconi und Renzi im Januar 2014 überein, mit einer Verfassungsänderung eine solche Reform durchzuführen. Der Pakt leitet seinen Namen vom „Largo Nazareno“ ab, einer Römer Strasse, in der sich der Sitz von Renzis sozialdemokratischem „Partito Democratico“ (PD) befindet. Dort wurde das Abkommen geschlossen.
Berlusconi an die Leine genommen
Es war die Zeit, kurz bevor Renzi sein Amt als Ministerpräsident antrat. Berlusconi hatte den linken Shootingstar immer wieder gelobt, er sei „ein Macher“ wie er selbst. Doch Renzi, der nicht durch Wahlen, sondern durch einen internen Putsch an die Macht gekommen war, galt als eher unerfahren. Mit dem „Pakt des Nazareners“ glaubte Berlusconi, den jungen Aufsteiger an die Leine nehmen zu können.
Das Gegenteil geschah. Renzi, frech und aufmüpfig, nahm Berlusconi an die Leine. Der Stern des damals 78-Jährigen sank, jener von Renzi leuchtete immer heller. Berlusconi kapierte schnell. Er kippte den „Patto del Nazareno“. Von jetzt an kämpfte er gegen die Verfassungsreform, die er einst befürwortete.
Absolute Verteufelung des Gegners
So geht es bei der bevorstehenden Abstimmung gar nicht so sehr um die Verfassungsreform. Es geht um einen politischen Machtkampf. Es geht darum, ob Renzi vom Sockel gestossen werden soll.
Die Italiener – Volk und Parlament – lieben es, den Ministerpräsidenten zu stürzen. Seit dem Zweiten Weltkrieg gab es 69 Regierungen. Italien ist nicht das Land, in dem politische Kompromisse zum Wohl des Landes oder des Volkes geschmiedet werden. Inhalte spielen oft eine untergeordnete Rolle. Vorschläge, die der Gegner einbringt, prüft man oft gar nicht, sie werden reflexartig abgelehnt. So funktioniert die Rechte, so funktioniert die Linke. Die fehlende Kompromissbereitschaft und die absolute Verteufelung des Gegners führt zur politischen Lethargie.
Renzi, zu wenig links
Renzi kämpft jetzt nicht nur gegen die Rechte, die fremdenfeindliche Lega Nord und die populistische „5 Sterne-Bewegung“ von Beppe Grillo: Grosse Sorgen bereitet dem Ministerpräsidenten die Gegnerschaft in seiner eigenen sozialdemokratischen Partei. Der linke Flügel des Partito Democratico findet Renzi nicht links genug und hat ihm den Krieg erklärt.
Tatsächlich ist der linke Renzi, der einst den Christdemokraten angehörte, längst kein Linker mehr. Schon lange geniesst er die Unterstützung der Wirtschaft. Namhafte Wirtschaftskapitäne haben sich für seine Reformen ausgesprochen und befürworten die Verfassungsänderung.
Renzi hat in den zweieinhalb Jahren seiner Regierungszeit mehr erreicht als Berlusconi in zwanzig Jahren. Zwar gefällt sein resoluter Stil nicht allen, doch er hat sich eine starke Position erarbeitet. Die anderen Parteien dürfen nur noch zuschauen.
„Matteo Mussolini“
Die Gegner der Verfassungsänderung wehren sich gegen „den angestrebten Abbau der Demokratie“. Rabiate Renzi-Hasser bezeichnen den Ministerpräsidenten als „Benito Renzi“ oder „Matteo Mussolini“. Der Verzicht auf das Zweikammersystem sei der Anfang der Diktatur.
Dem halten die Befürworter der Verfassungsänderung entgegen, dass der demokratische Prozess auch mit nur einer Parlamentskammer gesichert sei. Die „camera dei deputati“ zählt 600 Abgeordnete, die auf fünf Jahre gewählt werden. Und: Ist es demokratisch, wenn jahrelang Gesetze hin- und hergeschoben und damit verhindert werden? Vor allem werden so auch Gesetze, die die mafiösen Strukturen im Land beseitigen wollen, auf die lange Bank geschoben. Die Sorge um die Demokratie ist bei einigen nur ein Vorwand, um Renzi ins Wanken zu bringen.
Traurige Vorstellung der Römer Bürgermeisterin
Vor allem Beppe Grillo hofft nach einem Sturz Renzis auf Neuwahlen. Er rechnet damit, dass er dann eine Mehrheit und damit Regierungsverantwortung erhalten könnte. In Meinungsumfragen liegen die „5 Sterne“ mit 29,3 % nur noch 3,8 Prozent hinter den regierenden Sozialdemokraten (Ixé-Umfrage vom Freitag).
Allerdings haben die „5 Sterne“ konkret bisher wenig geleistet. Von der traurigen Vorstellung, die die neue Römer Bürgermeisterin, die „5 Sterne“-Frau Virginia Raggi abgibt, hat Renzi bisher wenig profitiert. Dies, obwohl Beppe Grillo zwar eine grosse Lippe führt, aber unfähig ist, konkrete Massnahmen durchzuführen.
Amerikanische Begeisterung für Renzi
Auch Renzis neuerdings kritische Haltung gegenüber Merkel und der EU haben ihm bisher wenig eingetragen. Selbst das klare Votum von Barack Obama für Italiens Ministerpräsidenten hat ihm in den Umfragen nur wenig genützt. Die Amerikaner scheinen Renzi zu lieben. Eine Gesellschaftsjournalistin der „Washington Post“ bezeichnete ihn kürzlich als „rising star“. Das einflussreiche Musikmagazin „Rolling Stone“ hob den Ministerpräsidenten am Freitag auf die Frontseite.
Doch die amerikanische Begeisterung hat sich in Italien selbst noch nicht niedergeschlagen. Vor allem auch deshalb nicht, weil Renzis Wirtschaftsreformen zwar zögerlich zu wirken beginnen – aber erst sehr zögerlich.
Gefährdeter Nimbus
Jetzt läuft Renzi die Zeit davon. Noch wissen 19 Prozent der Italienerinnen und Italiener nicht, wie sie stimmen werden. 38 % erklärten, sie würden sich der Abstimmung enthalten. An einer Grosskundgebung auf dem Piazza del Popolo in Rom versuchte der Ministerpräsident am Samstag das Blatt doch noch zu wenden.
Immer mehr Prominenz schaltet sich in den Abstimmungskampf ein. So wirbt der Schauspieler Roberto Benigni („La vita è bella“, „To Rome With Love“) unermüdlich für ein „Ja“. Auch die Wirtschaft hat sich in den Wahlkampf eingeschaltet.
Auch wenn Renzi nach einer Abstimmungsniederlage nicht zurücktreten sollte, so würden seine Tage als Ministerpräsident wohl gezählt sein. Der „Nimbus Renzi“ jedenfalls wäre im Eimer.
Kein Nachfolger in Sicht
Natürlich geht das Leben auch ohne Renzi weiter. Doch was kommt nach ihm? Dann geht wohl der in Italien traditionelle Zerfleischungsprozess wieder los. Bis sich dann eine neue Formation gefestigt hat, um endlich die dringenden Probleme anzugehen, könnte es wieder Jahre dauern.
Und wer würde nach Renzi kommen? Bei der Linken hat sich bisher kein „Macher“ wie Renzi profiliert. Die Berlusconi-Partei, die nicht einmal mehr 10 % der Wähler mobilisieren kann, ist dabei, den völlig uncharismatischen Mailänder Manager Stefano Parisi aufzubauen. Er hatte die Bürgermeisterwahl in Mailand verloren und ist auch in der Forza Italia-Partei umstritten.
Und wenn die populistischen „Fünf Sterne“ an die Macht gelangten? Dann, so droht Beppe Grillo, tritt Italien aus dem Euro und vielleicht auch aus der EU aus. Das würde die Gemeinschaft wohl nur schwer verkraften.
Vielleicht sagen sich im letzten Moment doch einige Italiener: Dann doch lieber Renzi, dann haben wir wenigstens Ruhe. Ob es nun zwei oder nur eine Parlamentskammer gibt, ist uns egal.