Will Russland nach dem Überfall der Ukraine auch das kleine Nachbarland Moldau besetzen? Manches deutet darauf hin. Die pro-westliche moldauische Präsidentin Maia Sandu befürchtet das Schlimmste. Ihr Land ist derart unstabil und teils russlandfreundlich, dass die russischen Streitkräfte in der Moldau auf wesentlich weniger Widerstand treffen würden als in der Ukraine.
Die Republik Moldau (im Volksmund meist Moldawien genannt) gehört zu den ärmsten Ländern Europas. Das europäische Armenhaus ist eingeklemmt zwischen der Ukraine im Osten und Rumänien im Westen.
Die heutige Republik Moldau war als «Moldauische Sozialistische Sowjetrepublik» Teil des Sowjetreichs. Nach dem Zusammenbruch der UdSSR wurde die Moldau im August 1991 unabhängig.
Der östliche Teil des Landes, «Transnistrien» genannt, hat sich schon vor gut dreissig Jahren de facto von Moldawien abgespaltet und wird von russischen Soldaten besetzt (Trans-Nistrien = jenseits, östlich des Dnistr-Flusses).
Wenig Spielraum
Die jetzt 32-jährige Geschichte des zweieinhalb Millionen Menschen zählenden Staates ist geprägt von heftigen Turbulenzen, die bis heute andauern.
Staatspräsidentin ist seit gut zwei Jahren die westlich orientierte 50-jährige Ökonomin Maia Sandu, eine an der Harvard University studierte starke, aufrichtige Frau, deren Spielraum allerdings beschränkt ist. Sie will ihr verarmtes Land in die EU führen, was Putin gar nicht gefällt. Er betrachtet die Moldau noch immer als Teil der «russischen Erde».
Angriff auf die Ukraine von Westen her
Gerüchte, wonach die Russen im Zuge ihrer Invasion in der Ukraine auch die Moldau «heimholen» könnten, verdichteten sich in den letzten Wochen. Strategisch würde eine russische Besetzung Moldawiens Sinn machen: Die russischen Streitkräfte könnten dann die Ukraine nicht nur von Osten und Süden, sondern auch von Westen angreifen und so in die Zange nehmen.
Entzünden könnte sich die Invasion in der Moldau an der Transnistrien-Frage. Transnistrien ist ein 200 Kilometer langer, schmaler Gebietsstreifen, der von Norden nach Süden reicht und vor allem von Russen und pro-russischen Kräften bewohnt wird. Das Gebiet hat sich von der Moldau losgelöst, wird aber international nicht anerkannt und einzig von Russland unterstützt. Die Sezession Transnistriens hatte 1992 zu einem kriegerischen Konflikt geführt, bei dem bis zu tausend Menschen starben.
Eigene Regierung, eigene Währung, eigene Pässe
De facto ist Transnistrien heute eine russische Exklave mit einer transnistrischen Währung und eigenen Pässen. Der Landstrich hat eine eigene Regierung und ein eigenes Parlament. Hauptstadt ist Tiraspol. Russisch ist die offizielle Sprache, und es gilt die kyrillische Schrift. (Im moldawischen Stammland wird in lateinischer Schrift geschrieben.)
Seit der Abspaltung von der Moldau sind in Transnistrien etwa 1’500 russische Soldaten und bis zu 15’000 pro-russische Paramilitärs stationiert. Hunderte Soldaten bewachen beim Dorf Cobasna im Norden des transnistrischen Landstreifens nahe der ukrainischen Grenze ein riesiges Waffenlager aus sowjetischen Zeiten – vermutlich das grösste Munitionsdepot in Osteuropa.
Die Regierung in der moldauischen Hauptstadt Chișinău (sprich: Kischinau) betrachtet Transnistrien nach wie vor als Teil ihres Staatsgebiets.
Bereitet man so eine Invasion vor?
Was unterscheidet die ukrainischen «Volksrepubliken» Luhansk und Donezk von Transnistrien? Putin hatte vor gut einem Jahr behauptet, die ukrainische Armee bereite eine Invasion in Luhansk und Donezk vor – deshalb müsse Russland eingreifen, um die russische Bevölkerung in diesen ostukrainischen Gebieten zu schützen.
Nach dem gleichen Muster geht Russland jetzt in Moldawien vor. Der russische Verteidigungsminister behauptete Mitte Februar, die Ukrainer würden eine «bewaffnete Provokation» gegen Transnistrien vorbereiten. Also müssen – so lässt er durchblicken – die in Transnistrien lebenden Russen von der russischen Armee geschützt werden. Der russische Aussenminister Sergei Lawrow warnte, dass jede Gefährdung der Sicherheit russischer Truppen – also auch jene in Transnistrien – als «Angriff auf Russland» interpretiert werde.
Mit solchen Worten bereitet man eine Invasion vor.
Sprungbrett
Nicht genug: Mitte Februar hatte Putin ein elfjähriges Dekret annulliert, in dem Moldawien «Souveränität, territoriale Integrität und Neutralität» zugesichert worden waren.
Eine definitive russische Beschlagnahmung von Transnistrien könnte den Russen als Sprungbrett dienen, die gesamte Republik Moldau zu erobern.
Im Gegensatz zur Ukraine, wo sich die Russen die Zähne ausbeissen, wäre ein Überfall auf Moldawien schneller und mit weniger Verlusten möglich. Aus verschiedenen Gründen.
Die Wirtschaft liegt am Boden
Es brodelt in Moldawien, und Moskau tut viel, damit es brodelt. Das Engagement von Maia Sandu und ihrer Regierung zugunsten des Westens hat dazu geführt, dass Moskau die Gaslieferungen an die Moldau gedrosselt hat. Nur nach Transnistrien wird noch genügend Gas geliefert. Gas im moldawischen Stammland kostet 25 Mal mehr als in Transnistrien. Folge: Die Menschen in der Moldau frieren.
Doch nicht nur das Gas fehlt. Die Wirtschaft liegt am Boden. Die Preise für Lebensmittel steigen, die Inflation stieg auf fast 30 Prozent, viele Renten können nicht mehr bezahlt werden. Zudem musste das Land einen Ansturm von 780’000 ukrainischen Flüchtlingen bewältigen. Kein anderer Staat hat gemessen an der Einwohnerzahl so viele ukrainische Flüchtlinge aufgenommen wie Moldawien.
Pro-russische Demonstrationen
An diesem Sonntag demonstrierten in Chișinău erneut Hunderte Menschen gegen den pro-westlichen Kurs der Regierung. Aufgerufen zur Aktion hatte die russlandfreundliche Shor-Partei. Die Polizei teilte mit, sie habe ein Komplott russlandfreundlicher Schauspieler vereitelt. Die Artisten seien dazu ausgebildet worden, während der Demonstration am Sonntag Massenunruhen zu verursachen. Sieben Personen wurden festgenommen.
Es war nicht die erste regierungsfeindliche Demonstration. Bereits im Januar und Februar errichteten Manifestanten vor dem Gerichtsgebäude in Chișinău Zeltlager. Die Menschen waren mit Bussen aus dem ganzen Land in die Hauptstadt gekarrt worden. Es gibt Gerüchte, wonach die Aufmüpfigen von den Russen bezahlt wurden. In höchsten Regierungskreisen heisst es, dass die Russen Geheimagenten engagierten, um die Unruhen zu schüren.
Das Russische ist in der Moldau noch immer sehr präsent. Die pro-russischen Parteien sind nach wie vor stark. Vor allem in den grösseren Städten wird noch häufig Russisch gesprochen. Auch in der Wirtschaft. Fast alle Moldawier und Moldawierinnen sprechen heute zumindest einige Brocken Russisch.
Demonstrationen, Attentate, Regierungswechsel, Gewalt
Immer wieder erlebte die Republik Moldau Regierungskrisen und Machtwechsel. Neun Staatschefs und 22 Regierunschefs regierten bisher die junge Republik. Immer wieder gab es Massendemonstrationen, Gewalt, Attentate, Korruption. Mehrere Jahre lang war die Republik eine Geisel eines inzwischen untergetauchten Grosskriminellen namens Wladimir Plahotniuk, bei dem Erpressungen, Folter, Wahlfälschungen, Entführungen und sogar Vergiftungen an der Tagesordnung waren. Nicht genug: Noch immer gibt es rumänische Kräfte, die für einen Anschluss Moldawiens an Rumänien eintreten.
Der Krieg in der Ukraine hat die wirtschaftliche Misere im Armenhaus Moldawien weiter verschärft. Maia Sandu hat ein schweres Amt. Sie und die Regierung werden für alle Missstände verantwortlich gemacht. Das Regierungsbündnis ist sehr fragil.
Ihr fehlt das Charisma und der Punch
Sandu versucht, eine pro-westliche Politik zu führen, ohne die Russen allzu sehr zu verärgern. Immerhin gelang es ihr jetzt, dass ihr Land – zusammen mit der Ukraine – Beitrittskandidat der EU wird. Was natürlich die Russen weiter anstachelt.
Doch was geschieht, wenn russische Streitkräfte einmarschieren, zuerst in Transnistrien und dann im moldauischen Stammland?
Würden sich die Menschen in Moldawien gegen die russischen Eindringlinge so vehement wehren wie die Ukrainer und Ukrainerinnen? Eines ist sicher: Maia Sandu ist nicht Wolodymyr Selenskyj. Sie ist eine intelligente, besonnene, auch beharrliche Frau. Doch ihr fehlt die breite Unterstützung im Volk und das Charisma und der Punch eines Selenskyj. Es ist schwer vorstellbar, dass sie die Massen zur Verteidigung ihres Landes mitreissen könnte wie dies der ukrainische Präsident tat und tut.
Wie würde der Westen reagieren?
Die Gefahr besteht, sagt ein westlicher Beobachter, dass bei einem russischen Angriff die schwache Regierung schnell stürzt und dass dann russische Kräfte an die Macht gelangen.
Aber vielleicht stürzt die Regierung wegen der sozialen Spannungen schon ohne einen Einmarsch der Russen. Vieles hängt vom westlichen Engagement und der westlichen Entschlossenheit zugunsten Moldawiens ab.
Und wie würde nach einer russischen Invasion der Moldau der Westen reagieren? Würden die USA auch Himars-Raketenwerfer in der Moldau positionieren?
Moldau, Moldava, Moldawien
Der Name Moldau stammt vom Fluss Moldau, allerdings nicht von jener Moldau, die durch Prag fliesst. Der rumänische Fluss Moldawa (deutsch: Moldau) war Namensgeber des «Fürstentums Moldau», ein im 14. Jahrhundert gegründeter Staat, dessen Territorium sich heute auf Teilen Rumäniens, der Republik Moldau und der Ukraine befand. Der rumänische Moldau-Fluss liegt westlich der heutigen Republik Moldau und berührt diese nicht. In der Schweiz heisst das Land offiziell «Republik Moldava». Französisch: «République de Moldavie», Englisch: «Republic of Moldava». Umgangssprachlich wird meist von «Moldawien» gesprochen.