In den Augen von Präsident Macron ist seine höchst umstrittene Rentenreform angenommen und abgehakt. Seine Premierministerin hat letzten Mittwoch zwar endlich die Gewerkschaften empfangen, doch das war nicht mehr als ein nutzloses Spektakel. Am Donnerstag demonstrierten dann landesweit bereits zum 11. Mal Hunderttausende erneut gegen diese Reform. Und nun kracht es auch noch zwischen Präsident und Premierministerin.
Es klang so, als hätte Premierministerin Élisabeth Borne es nach zwölf Wochen Rentenreformkrise schlicht nicht mehr ausgehalten, einfach das brave Sprachrohr von Präsident Macron zu sein und dessen absolute Unnachgiebigkeit, dessen Provozieren und Brüskieren der Gewerkschaften und der Gegner seiner Reform weiter mitzumachen und einfach so zu tun, als sei diese schwere Krise bereits überwunden und könne man einfach wieder zur Tagesordnung übergehen.
Das Land braucht Beruhigung
In der Nacht von Donnerstag auf Freitag durfte man aus den Eilmeldungen der Agenturen den Eindruck gewinnen, als sei Élisabeth Borne der Kragen geplatzt. Der Auslöser: «Le Monde» hatte das berühmte «OFF» bei einer Begegnung mit der Premierministerin nicht respektiert und veröffentlicht, was der Regierungschefin ganz offensichtlich am Herzen liegt.
Ganz im Gegensatz zu Präsident Macron, der meint, einfach weitermachen und sich sofort anderen Themen widmen zu können, betonte Élisabeth Borne, es dürfe nicht so weit kommen, dass die Gewerkschaften am Ende dieser Rentenreformkrise sich erniedrigt und gedemütigt fühlten, man müsse jetzt erst mal eine Periode der Regenerierung respektieren. Wörtlich: «Wir müssen extrem aufpassen, dass uns nichts aus dem Ruder läuft. Das Ganze muss sich jetzt erst einmal setzen, das Land braucht unbedingt Beruhigung.» Und schliesslich eine Bemerkung, die sich direkt an Präsident Macron zu richten schien: «Bevor wir weitere Alliierte für eine Mehrheit suchen, um künftige Gesetzestexte im Parlament verabschieden zu können, wäre es wichtig zu sagen, wohin wir überhaupt gehen wollen. Wir müssen unserem Handeln einen Sinn und neuen Atem geben. Und ich bin nicht nur dazu da, das Land einfach zu verwalten.»
Breitseite gegen Macron
Das klingt wie eine Breitseite gegen den Präsidenten. Dieser hatte vor einer guten Woche seiner Premierministerin nach der Schlappe in der Nationalversammlung bei der Abstimmung über die Rentenreform – nur neun Stimmen fehlten und die Regierung wäre gestürzt – den Auftrag erteilt, die nur relative Mehrheit des Macron-Lagers im Parlament «zu erweitern».
Ein Satz des Präsidenten, der vor allem Achselzucken ausgelöst hat, denn jedes Kind weiss, dass dieses Unterfangen, die Macron-Mehrheit im Parlament zu erweitern, vor allem zum jetzigen Zeitpunkt, ein Ding der Unmöglichkeit ist.
Wo bitte soll die mit dieser unsinnigen Strafarbeit beauftragte Premierministerin die nötigen 40 bis 45 Abgeordneten finden, die sich nach dem tristen Rentenspektakel der letzten Wochen auf die Seite des schwer gebeutelten Macron-Lagers schlagen und dem Präsidenten somit eine absolute Mehrheit in der Nationalversammlung verschaffen würden?
Die klassischen Konservativen sind hoffnungslos zerstritten und nur ein kleiner Teil der 61 Abgeordneten könnte sich eine Art Regierungsvertrag mit der Macron-Partei vorstellen. Und auf der anderen Seite des politischen Spektrums? Glaubt Macron wirklich, die Regierung von Élisabeth Borne könnte bei den vier Parteien des Linksbündnisses fündig werden oder, auf der anderen Seite, gar bei der Le Pen-Partei?
In der hölzernen Kommunikationssprache des Élyséepalastes hiess es dazu: «Der Präsident hat das Ziel und die Richtung vorgegeben.» Was unausgesprochen bedeutet: Nun ist es an der Premierministerin, dafür zu sorgen, dass dieses Ziel erreicht wird. Doch plötzlich macht Élisabeth Borne Anstalten, ihre eigenen Ziele zu formulieren.
Jupiter empört
Aus 9000 Kilometern Entfernung, wo Macron zu einem holprigen Staatsbesuch in China weilte, kam prompt die eisige Reaktion aus der berühmten «Umgebung des Präsidenten», die nochmals klarstellte: «Der Präsident hat den Kurs und das Ziel vorgegeben.» Basta. Und ganz nebenbei liess der Präsident selbst im fernen China noch einmal einen Satz ab, der an der Realität vorbeigeht: «Wenn die Franzosen die Rente mit 60 gewollt hätten, dann hätten sie eben nicht mich zum Präsidenten der Republik wählen dürfen.» Dabei weiss Macron genau, wie das restliche Frankreich auch, dass er am Ende nur wiedergewählt wurde, damit Madame Le Pen nicht in den Élysée einzieht und absolut nicht für sein Projekt der Rentenreform.
Alle blicken auf den Verfassungsrat
Macrons Vorgehen, seit Tagen so zu tun, als gäbe es die Krise rund um die Rentenreform nicht mehr, ist um so gewagter, ja peinlicher, als halb Frankreich zur Zeit noch auf den Spruch des Verfassungsrates in vier Tagen wartet, welcher das Gesetzespaket teilweise oder auch ganz zurückweisen könnte.
Die Mehrheit der Verfassungsrechtler im Land ist der Meinung, der Rat hätte gute Gründe dafür.
Macron aber gedenkt offensichtlich, sein Spiel weiterzuspielen, so als wäre im Land in den letzten zweieinhalb Monaten nichts, aber auch gar nichts geschehen.
Millionen Menschen, wochenlang erstaunlich friedlich, aber sehr entschieden auf den Strassen, Blockaden hier und dort, spontane Aktionen im ganzen Land, acht Gewerkschaften, vereint wie nur ganz selten in den letzten Jahrzehnten, noch nie gesehene Massendemonstrationen in Frankreichs Kleinstädten und auf dem flachen Land und Meinungsumfragen, die sich in zwölf Wochen keinen Zentimeter bewegt haben: 70% der Bevölkerung lehnt diese Reform nach wie vor ab, von der im Élysée erhofften Resignation der Französinnen und Franzosen keine Spur.
Ungute Stimmung im Land
Wochenlang hat die Regierung über mehrere Details dieser Reform schlicht gelogen, und nun, nachdem das Gesetz formal durchs Parlament gegangen ist, ohne dass letzteres darüber abgestimmt hätte und die Demonstrationen seitdem gewalttätiger geworden sind, lügt ganz besonders der Innenminister, und zwar wie gedruckt, was die Härte der Polizeieinsätze und die Repression der letzten drei Wochen angeht.
Überhaupt: Im Grunde wurde in den letzten Monaten ständig gelogen. Die Kommunikationsstrategie des Élysée und des Hôtel Matignon, Sitz der Premierministerin, verkaufte die Franzosen für dumm, was sie aber leider oder glücklicherweise nicht sind.
Nur ein Beispiel: Gebetsmühlenhaft und auch nach zwölf Wochen wagen die Regierenden zu sagen, dieser Reform seien monatelange Verhandlungen mit den Gewerkschaften vorausgegangen. Ein Hohn.
Man hat Treffen inszeniert, bei denen «konsultiert» wurde, der Präsident mit einem Redeschwall die Sozialpartner überzogen hat, um ihnen zu sagen, wo es langgehen wird, und das war es dann – schwierig, so etwas als Verhandlungen zu bezeichnen.
Und es wird weiter gelogen. Nach dem Husarenritt des Gesetzes durchs Parlament hiess es dann unschuldig und offiziell, die Türen der Premierministerin stünden den Gewerkschaften jederzeit offen. Ja und?
Um über was zu reden, wenn jede weitere Diskussion über die Rentenreform und das um zwei Jahre erhöhte Renteneintrittsalter von vorneherein ausgeschlossen wird?
Und das kindisch Peinliche bei der ganzen Angelegenheit: Es war Macron, der sagte, die Tür von Regierungschefin Élisabeth Borne stehe offen. Die Gewerkschaften antworteten völlig logisch: Macron, Du hast dem Land das Ganze eingebrockt, Du entscheidest letztendlich jedes Mal, wie es weitergehen und was passieren soll, also wollen wir mit Dir reden. Basta. Wir können nichts dafür, dass das System so tut, als sei die Premierministerin die Schaltstelle.
Als sei die Geschichte mit der Rentenreform schon über den Berg und abgehakt, bläst der Präsident dieser Tage zu den nächsten Reformen, nach dem Motto: Stillstand gibt es nicht, zu reformieren gibt es noch unendlich viel, also: Avanti, let’s go, vorwärts. Bleibt die Frage: Wohin wirklich und wie und mit welcher Mehrheit? Alles riecht, ja stinkt nach Kommunikation: Aktivismus pur, jeden Tag ein Auftritt zu einem anderen Thema, um neue Themen zu setzen und das immer noch brennende Thema zu übertünchen.
Intellektuelle treten die Flucht an
Macron, der mit seiner Art, diese Rentenreform durchzupeitschen, selbst in seiner eigenen Partei für reichlich Unmut gesorgt hatte, hat in den letzten drei Monaten auch endgültig die Unterstützung der letzten Intellektuellen im Land verloren. All derer, die zu Beginn seiner Ära sich durchaus interessiert gezeigt hatten, angesichts des Phänomens Macron, der 2017 angetreten war mit dem Versprechen, eine neue Welt zu schaffen, Politik auf eine andere Art zu machen, ja eine Revolution für das angestaubte Frankreich angekündigt und sein Motto «sowohl links, als auch rechts» vor sich her getragen hatte.
Nach und nach sind sie von ihm abgefallen, weil Macron nur die alte Welt wortreich verpackt und sie neu vorgestellt hat, sich zum Jupiter emporschwang und schon bald erste Anzeichen dafür gab, dass ihm der demokratische Dialog nicht wirklich behagt und er alle vermittelnden Institutionen, wie Gewerkschaften und Verbände, etwa den Verband der französischen Bürgermeister oder auch alle Nichtregierungsorganisationen für reichlich überflüssig hält und mit ihnen möglichst wenig zu tun haben will.
Inzwischen distanziert sich unter vielen anderen auch der Ökonom, Autor, Essayist und seit über 40 Jahren Berater von Politikern aller Couleur, Jacques Attali, sehr deutlich von Macron. Das Universalgenie, das nach 1981 als Sherpa und Mann an der Seite von François Mitterrand bekannt geworden war, hat dieser Tage den Präsidenten öffentlich geohrfeigt mit den Worten: «Seine Reform ist schlecht gemacht und ungerecht.»
Dabei war es Jacques Attali, der 2010 einen eifrigen, brillanten und ehrgeizigen jungen Mann namens Macron entdeckt und ihn wenig später François Hollande, dem künftigen sozialistischen Präsidenten, vorgestellt hatte.
Die Folge ist bekannt: Macron wird 2012 erst Hollandes Wirtschaftsberater und stellvertretender Generalsekretär im Élysée, 2014 sein Wirtschaftsminister, 2016 zum grossen Verräter, der seine eigene Start-up-Bewegung gründete und dafür sorgte, dass Präsident Hollande sich 2017 nicht einmal mehr zur Wiederwahl stellen konnte. Und Macron schaffte es im Mai 2017 bekanntermassen tatsächlich, quasi aus dem Nichts zum allseits – vor allem auch im europäischen Ausland – umjubelten und jüngsten Präsidenten Frankreichs gewählt zu werden.
Es war die Zeit, als fast alle Kommentatoren und Intellektuellen diesen jungen Mann zumindest interessant fanden und viele von ihnen bereit waren, für ihn zu arbeiten, Denkanstösse zu geben, sich einzubringen.
Spätestens seit Macrons Wiederwahl 2022, endgültig aber seit Beginn der Rentenreformkrise Mitte Januar, haben praktisch alle dieser anfangs wohlmeinenden Historiker, Soziologen oder Philosophen das Weite gesucht, abgrundtief enttäuscht, ja empört über Macrons einsames, ja letztlich autoritäres Agieren an der Spitze des Staates.
Unter anderen Pierre Rosanvallon, renommierter Historiker und Soziologe, auf seine alten Tage Professor am legendären Collège de France, durchaus kein linker Wirrkopf, sondern ein Besonnener, dem Modell der Sozialdemokratie verbunden, einst Theoretiker der sogenannten «Deuxième Gauche» von Michel Rocard.
Vor wenigen Tagen nahm er in einem Interview der Tageszeitung «Libération» kein Blatt mehr vor den Mund. «Macron hat nur eine äusserst begrenzte politische und soziale Erfahrung, denn er ist schliesslich aus dem Schatten heraus direkt in den Élyséepalast gestürmt. Wir sehen bei Macron heute eine Arroganz, die sich aus seiner Unkenntnis der Gesellschaft nährt», kritisiert Rosanvallon, um dann fortzufahren: «Kaum jemals ist ein Reformprojekt einer Regierung so schlecht vorbereitet worden und auf derart technokratische und ideologische Art in Angriff genommen worden, wie diese Rentenreform.». Und weiter: «Macron muss aus der Isolation herausfinden, die ihm der Status seiner Funktion beschert und neue, institutionelle Mechanismen zur Lösung derartiger Krisen finden oder entwickeln, und zwar solche, die von unten kommen. Ansonsten wird die enorme Anhäufung von giftigem Groll in der Bevölkerung dem rechtsextremen Populismus Tür und Tor öffnen.» Und schliesslich: «Das Problem von Macron ist, dass er zutiefst davon überzeugt ist, in allen Angelegenheiten als einziger und gegenüber allen anderen recht zu haben.»
Hass auf Macron
Stets recht haben zu wollen gegenüber der Bevölkerung, der Opposition, den Gewerkschaften und den lebendigen Kräften der Gesellschaft, wie etwa den Nichtregierungsorganisationen und ständig nur so zu tun, als würde man ihre Kritiken oder ihre Vorschläge ernst nehmen, sorgt nach sechs Jahren im obersten Amt des Staates für gewaltige Spannungen zwischen dem Präsidenten und der Zivilgesellschaft, zumal Emmanuel Macron kaum eine Gelegenheit auslässt, den so genannten «Nicht-Wissenden» das ganze Ausmass seiner Geringschätzung, ja seiner Verachtung spüren zu lassen. Dieses Verhalten und seine absolut vertikale Ausübung der Macht hat wahrscheinlich dazu geführt, dass Macron inzwischen nicht nur eine Welle der Kritik, sondern des schlichten Hasses entgegenschlägt, wie es bei keinem seiner Vorgänger, auch nicht bei Nicolas Sarkozy, der Fall gewesen war. Auch die Spruchbänder und Plakate bei den Demonstrationen der letzten Wochen spiegeln das wieder, werden zusehends radikaler.
Dementsprechend sieht man beim Präsidenten seit der Gelbwestenbewegung 2018/19 durchaus auch Anzeichen von purer Angst. Macron geht bei Besuchen in der Provinz inzwischen absolut kein Risiko mehr ein, wird zu 100% abgeschottet, begibt sich, wenn überhaupt, nur in die Nähe eines handverlesenen Publikums und hat selbst in Paris die Rue du Faubourg Saint-Honoré vor dem Élyséepalast martialisch verbarrikadieren lassen.
Polizeigewalt
Diese angespannte, mit Gewalt untermischte Stimmung im Land, wird nicht nur durch Protestierende, Demonstranten, Streikende oder Gewaltbereite aller Art angefacht. Auch Frankreichs Ordnungskräfte leisteten in den letzten Wochen ihren spezifischen Anteil dazu. Denn inzwischen steht ausser Frage, dass das derzeitige Konzept der Regierung zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung in den letzten zwei der insgesamt zwölf Wochen dauernden Proteste zu dieser gewaltsamen Stimmung entscheidend mit beigetragen hat.
Es ist ein Konzept, welches bewusst ein hohes Mass an Polizeigewalt in Kauf nimmt. Eine Gewaltanwendung durch die Ordnungskräfte, die in den letzten Wochen von verschiedensten Seiten und selbst von internationalen Instanzen offen kritisiert und als völlig unverhältnismässig bezeichnet wurde.
Denn Frankreichs Gendarmen und die quasi militärisch ausgerüstete Bereitschaftspolizisten – unter anderem mit Granaten, die in allen anderen europäischen Ländern verboten sind – sind bei Demonstrationen nicht etwa gehalten, für Entspannung und Deeskalation zu sorgen, sondern sollen durchaus den körperlichen Kontakt mit den Demonstranten suchen, sie vertreiben, verfolgen und möglichst viele verhaften. So viele, dass man der Polizei inzwischen präventive und mutwillige Festnahmen vorwerfen muss, welche gleichzeitig einschüchternde Wirkung haben sollen.
Zum Beispiel wurden an einem der Demonstrationstage von 292 Festgenommenen in Paris 283 ohne jede Auflage oder gar Anklage wieder auf freien Fuss gesetzt. Allerdings erst nach einem gut 24-stündigen Aufenthalt in den notorischen, versauten Zellen der Pariser Polizeistationen. Unter ihnen – einer von vielen Kollateralschäden – auch zwei 15-jährige Austauschschüler aus Österreich, die nicht wussten, wie ihnen geschah.
Der Innenminister, ein Problem
Der Mann, der diesen repressiven Kurs zu verantworten hat und ihn für völlig normal hält, heisst Gerald Darmanin, ein Sarkozy-Boy, Anfang 40, den Präsident Macron schon vor vier Jahren abgeworben und ihn zum Innenminister gemacht hat, um die Konservativen unter seinen Wählern zufrieden zu stellen.
Darmanin ist Macrons Mann fürs Grobe, der zu jeder Übertreibung oder Lüge in der Lage ist und kein Problem damit hat, permanent im Vokabular und der Gedankenwelt des rechtsextremen Rassemblement National zu wildern.
Trotz dutzender Film- oder Tonaufnahmen von unzulässigen Übergriffen der Polizei im Laufe der letzten drei Monate, erklärt Darmanin schlicht, es habe keinerlei Gewaltakte durch Ordnungskräfte gegeben, Schuld an allem hätten allein die gewaltbereiten Demonstranten.
Dabei kämpft ein Demonstrant immerhin noch ums Überleben, fehlt einer Demonstrantin ein Daumen, eine andere hat ein verschandeltes Gesicht davongetragen, ein Dutzend Demonstranten weist Verletzungen an Füssen und Beinen auf. Die Liste liesse sich fortsetzen.
Gleichzeitig hat der rastlose Innenminister seit rund drei Wochen eine Verbaloffensive gestartet, in welcher er fast tagtäglich in den verschiedensten Medien die linken Parteien in die Nähe des Terrorismus rückt.
Es begann damit, dass Gerald Darmanin demonstrierende Umweltschützer als Öko-Terroristen bezeichnete. Dann nahm er die Linkspartei «La France Insoumise» (LFI) ins Visier und rückte sie in die Nähe des Terrorismus, bevor er einem Teil der Gegner der Rentenreform vorwarf, einen «intellektuellen Terrorismus» zu praktizieren.
Die perfide Rhetorik des Innenministers gipfelte schliesslich in einem Angriff auf die vor 125 Jahren, mitten in der Dreyfuss-Affäre gegründete französische Menschenrechtsliga, die sämtliche Demonstrationstage der letzten zwölf Wochen beobachtet und das eine oder andere kritisiert hatte. Prompt sagt der Innenminister auf einer Pressekonferenz, man müsse sich einmal die staatlichen Subventionen für die Menschenrechtsliga genauer anschauen. Empörung im ganzen Land.
Wohlgemerkt: Für keine dieser Äusserungen in den letzten Wochen ist Gerald Darmanin von Präsident Macron zurückgepfiffen worden. Im Gegenteil. Dem französischen Staatsoberhaupt passt durchaus in den Kram, dass er und sein Innenminister jetzt eindeutig für Ordnung und Autorität stehen
Verfassungsrat
Das umstrittene Rentenreformgesetz liegt zur Zeit beim französischen Verfassungsrat, der an diesem 14. April bekanntgeben wird, ob seiner Ansicht nach der Weg der Verabschiedung des Gesetzes den Regeln entsprach und der Inhalt der Vorlage verfassungskonform ist.
Das ganze Land wird an den Lippen der neun Weisen hängen, in der Hoffnung, dass dieser Verfassungsrat eventuell einen Ausweg aus dieser Krise anbietet, indem er das Gesetz zensiert oder den in der Tat sehr ungewöhnlichen Weg seiner Verabschiedung als unzulässig erklärt. So als müsse, wenn kein politischer Dialog mehr möglich ist, eben das Recht auf den Plan treten.
Da der Präsident sich unfähig gezeigt hat, für Befriedung in einer sehr angespannten Stimmung zu sorgen, hoffen viele jetzt darauf, dass der Verfassungsrat dies leisten könnte, indem er das Gesetz für nicht verfassungskonform erklärt und es wieder an Präsident und Regierung zurückschickt. Ja man hat das Gefühl, dass selbst in Präsident Macrons eigenem Lager viele nicht unglücklich wären, wenn das oberste französische Gericht das gesamte Gesetz kippen würde. Sicher ist: Niemals in den letzten Jahrzehnten war der Druck auf den französischen Verfassungsrat vor einer Entscheidung so gross, wie in diesen Tagen.
Sollten die neun Weisen im Palais Royal das Gesetz tatsächlich an die Absender zurückschicken, würde gezwungenermassen endlich passieren, was die zwei wichtigsten Gewerkschaften vor einer Woche sehr verantwortungsbewusst und regelrecht innbrünstig als Vorschlag zur Güte aller formuliert hatten: Lasst uns – um Druck und Anspannung wegzunehmen und die aufkommende Gewalt zu dämpfen – bei dieser Rentenreform die Pausentaste drücken, nehmen wir uns sechs oder zwölf Monate Zeit und verhandeln wird endlich wirklich. Führen wir einen echten sozialen Dialog, der diesen Namen auch verdient und nicht nur eine blutleere Floskel der Damen und Herren Kommunikatoren des Staatspräsidenten ist.
Wäre Präsident Macron aber auf diesen Vorschlag der Gewerkschaften, der selbst von seiner Partnerpartei MODEM befürwortet worden war, eingegangen, wären ihm ja sämtliche Zacken aus der Krone gebrochen. Und das ist für einen, der nun mal alles andere als eine geringe und bescheidene Meinung von sich selbst hat, schlicht unvorstellbar.
Macron hat es geschafft, eine selten schwere soziale Krise heraufzubeschwören und aus dieser auch noch eine politische, ja sogar eine Krise der französischen Demokratie zu machen. Die Art und Weise, wie das Rentenreformgesetz – mit einer Reihe von legalen Tricks – durch das Parlament gehievt wurde, wird von der Bevölkerung einfach nicht mehr als wirklich demokratisch akzeptiert. Doch dies ist etwas, das Präsident Macron auch nach zwölf Wochen schwerer Krise einfach nicht sehen will.
Wie weiter ?
Alles scheint plötzlich zu wanken in diesem Land und das politische System der 5. Republik mit der riesigen Machtfülle für den Präsidenten ausgelaugt und am Ende zu sein.
Der Bruch zwischen Politikern, Volksvertretern und der Bevölkerung ist während Macrons bald 6-jähriger Amtszeit immer grösser geworden und Alternativen, um dem abzuhelfen, sind nicht in Sicht.
Für eine neue Verfassung dürfte sich derzeit keine Mehrheit finden. Ein Referendum wäre denkbar, doch das kann nur der Präsident veranlassen und Macron wird sich das kaum auflasten, zumal bei französischen Volksabstimmungen stets weniger auf die gestellte Frage geantwortet wird, sondern das Referendum dazu benutzt wird, denjenigen an der Macht einen Denkzettel zu verpassen.
In der Luft läge eine Verfassung, die dem Parlament mehr Gewicht geben und dafür sorgen würde, dass der Präsident während seiner 5-jährigen Amtszeit sich zumindest vor einer Instanz zu verantworten hätte oder dass es mit dieser sinnlosen, zweiköpfigen Spitze aus Premierminister(in) und Präsident ein Ende hat, mit dieser Konstellation, in der der Chef einer Regierung nur eine Art Attrappe von Präsidentens Gnaden ist und jederzeit geschasst werden kann.
Düstere Perspektiven
Emmanuel Macron ist es seit 2017 gelungen, die Altparteien (Sozialisten und Neogaullisten) in die Bedeutungslosigkeit zu verdammen und sie weitgehend von der politischen Bühne zu verjagen. Dafür hat er in Kauf genommen, dass seit letztem Jahr plötzlich die extreme Rechte von Le Pen und die Linkspartei von Mélenchon die zweit- und drittgrössten Kraft in der französischen Nationalversammlung bilden. Gleichzeitig hat seine eigene Partei aber praktisch keine Chance, in dieser aufgesplitterten Nationalversammlung mit anderen Kräften eine Mehrheit zu finden.
Es kommt nach diesen turbulenten Wochen das Gefühl auf, als habe der einst, im Jahr 2017, mit so vielen Vorschusslorbeeren gestartete Emmanuel Macron spätestens seit seiner Wiederwahl letztes Jahr den Karren Frankreich derartig in den Dreck gefahren, dass er die allergrösste Mühe hat, ihn von dort wieder herauszuziehen.
Eric Fottorino, der ehemalige Direktor von Le Monde, alles andere als ein radikaler Querkopf, schrieb dieser Tage im Leitartikel seiner Wochenzeitung «Le 1»: «Wenige Wochen vor dem ersten Jahrestag seiner Wiederwahl steht Macron einsamer da, als jemals zuvor gegenüber einem Land, das sich am Rande einer Explosion befindet. Es ist jetzt am Präsidenten, die Worte und Gesten zu finden, die die Lage entschärfen und beruhigen könnten. Die Frage ist jetzt: Wird Macron in der Lage sein, Vernunft anzunehmen?»
Wohl nur schwerlich, ist man geneigt zu antworten und kann sich vor allem Macrons Worte und Gesten nicht vorstellen, welche die Lage beruhigen könnten.
Endzeitstimmung ganz am Anfang
Dafür müssten die Franzosen auch erst einmal bereit sein, ihrem Präsidenten überhaupt noch zuzuhören. Denn selbst das ist momentan nur noch sehr beschränkt der Fall. Macron hat in den letzten Monaten fast seinen gesamten Kredit verspielt und wird, laut letzter Meinungsumfrage, nur noch von 22% der Franzosen unterstützt, was noch weniger ist, als sein Wählerstamm in den letzten sechs Jahren.
Angesichts dieser Situation fragen sich viele in Frankreich, wie Emmanuel Macron die verbliebenen vier Jahre seiner zweiten Amtszeit überhaupt über die Bühne bringen will bzw. kann – und was er in dieser Konstellation und ohne absolute Mehrheit im Parlament noch in der Lage ist zu bewegen. Fast könnte man sagen, es herrscht bereits so etwas wie Endzeitstimmung im Élyséepalast..