Bei der Stichwahl wird die Wahlbeteiligung bedeutsam sein. Demoskopen rechnen damit, dass viele Franzosen sich den Weg in die Stimmlokale sparen werden, weil sie glauben, sie müssten sich zwischen „Faschistin und Bankier“ entscheiden, also zwischen Pest und Cholera.
Le Pen und Mélenchon – im Geiste des Boulangismus
Nun ist der Griff in die erstbeste Schublade selten ein guter Ratgeber. Was Marine le Pen betrifft: Sie steuert eine eindeutig rechtsextreme Bewegung und hat einen antisemitischen Vater. Aber ist sie damit eine Faschistin? Die simple „reductio ad hitlerem“ versperre das Verstehen des Front National, meint der französische Historiker Grégoire Kauffmann und unterstreicht die ideengeschichtliche Verwandtschaft des FN mit dem Boulangismus (in einem Beitrag für die FAZ, 10. April).
Der Boulangismus geht auf den General und Minister Ernest Boulanger zurück, der in den 1880er Jahren für Furore sorgte. Er war eine links-nationalistische Bewegung, die das Erbe der französischen Revolution für sich reklamierte und von Teilen der extremen Linken unterstützt wurde. Seine Markenzeichen waren Nationalismus, Egalitarismus und Antikapitalismus, seine Anhänger vor allem solche, die sich vor der liberalen Freisetzung der Wirtschaft fürchteten, also die Globalisierungsgegner der damaligen Zeit
Kauffmanns historische Einordnung des FN könnte erklären, weshalb sich Marine le Pen so demonstrativ an die „kleinen Leute“ wendet und weshalb das Wirtschafts- und Sozialprogramm der Rechtsfrontistin dem der Linksfront unter Jean-Luc Mélenchon zum Verwechseln ähnlich ist. Beide, le Pen und Mélenchon, spielen auf der nationalistischen Klaviatur, beide wollen den Euro durch den Franc ersetzen und klagen die herrschende „Oligarchie“ an, die Interessen des Volkes zu verraten.
Die ruchlosen Kapitalisten an den Pranger zu stellen, ist eine Übung, die im Boulangismus begann und die im modernen Frankreich keineswegs nur von der Linkspropaganda praktiziert wird. De Gaulle konnte über den „Geldadel“ wettern, wie das heute Marine le Pen tut. François Hollande, der ausscheidende Präsident, eröffnete seine Amtszeit mit der Enthüllung, die „Finanzen“ seien sein persönlicher Feind. Was Hollande allerdings nicht daran hinderte, ein paar Jahre später Emmanuel Macron zum Wirtschaftsminister zu machen, der seine berufliche Laufbahn bei der Bank Rothschild gestartet hatte. Gegen Macron wird nun das historisch aufgeladene Abscheu-Klischee des „Bankiers“ in Stellung gebracht.
Jeanne d’Arc als mythisches Vorbild
Dagegen setzen die Anhänger Macrons ein anderes Geschichts-Klischee, die Figur des Retters. Der „sauveur“ ist die aus dem Nichts aufsteigende überlebensgrosse Gestalt, die Frankreich aus dem Würgegriff der hadernden Parteien entreisst und die Nation eint. Vorbild aller Retter ist Jeanne d’Arc, die im 15. Jahrhundert einen faulen, unwilligen Dauphin mores lehrte und den englischen Besatzern mit dem Schwert zu Leibe rückte. Es ist nicht ohne Ironie, dass ausgerechnet Marine le Pen bemüht ist, sich als Spätausgabe der mythischen „Pucelle“ zu präsentieren. Denn kennzeichnend für den Retter ist ja, dass er die Spaltung des Landes heilt, während die FN-Anführerin diese auf die Spitze treibt.
Die politische Spaltung Frankreichs hat, wie so vieles, ihre Wurzeln in der Revolution von 1789. Der Kampf der Revolutionäre gegen das Ancien Régime wurde als Kampf des Lichtes gegen die Finsternis geführt, in dem es per definitionem einen Ausgleich nicht geben kann. Dieser Manichäismus hat die politische Grundaufstellung Frankreichs geprägt. Man ist entweder rechts oder man ist links, und wenn man die Mehrheit hat, wird durchregiert. Die Kompromisskultur, die besipielsweise im Nachkriegsdeutschland entstand und hier durch Verhältniswahlrecht und Föderalismus gefördert wird, ist in Frankreich nicht heimisch. So waren viele Franzosen 2013 vollkommen irritiert, als die deutsche Kanzlerin Angela Merkel nach ihrem überwältigenden Wahlsieg die Macht mit der SPD teilte, die sie gerade an die Wand gedrückt hatte.
Napoleon und de Gaulle – Überwinder der Spaltung
Zum Vertrautsein der Spaltung gehört die Sehnsucht, sie zu überwinden. Der erste, der das schaffte, war Napoleon I. 1799 gelangte der bis dahin kaum bekannte junge General und Aussenseiter, Sohn eines korsischen Landadligen, durch einen unblutigen Putsch an die Macht. Zu diesem Zeitpunkt hatte Frankreich zehnjährige Revolutionswirren hinter sich, dazu einen verheerenden Bürgerkrieg, das Land war heruntergewirtschaftet, und an den Grenzen standen zur Konterrevolution entschlossene Invasionstruppen. Napoleon, der mit einem Programm der Versöhnung und der gesellschaftlichen „Fusion“ antrat (und es auch erfüllte), entsprach so sehr dem Wunschbild des „Mannes der Notwendigkeit“, dass ihm die Macht wie eine reife Frucht zufiel.
1958 war Charles de Gaulle der „Mann der Notwendigkeit“. Die IV. Republik siechte unter der Dauerkrankheit einer von der Verfassung vorgeprägten schwindsüchtigen Exekutive und dem Kommen und Gehen immer neuer, blasser Regierungschefs dahin. Viele Gesichter, keine Köpfe – in guten Jahren übersteht ein Staat so etwas, nicht in Krisenzeiten. Die finale Krise war da, als der Aufstand der Algerien-Franzosen auf das Mutterland überzuschwappen drohte.
Als Retter kam nur der Mann infrage, der im Krieg für Frankreichs Ehre eingestanden war. De Gaulle wurde aus dem selbstgewählten Exil in Colombey-les-deux-Églises nach Paris gerufen. Er erhielt die verlangten Sondervollmachten, und die Nationalversammlung verabschiedete, mehr nolens als volens, die erste Verfassung mit starker ausübender Gewalt seit 1789. Die V. Republik war geboren.
Überdruss an den alten Tenören
Die Situation, in der sich Frankreich heute befindet, ist mit der von 1799 und 1958 nur schwer zu vergleichen. Trotzdem geht die Krise tief. Desaströse Arbeitslosigkeit, hohe Verschuldung, geringe wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit und eine angespannte Sicherheitslage bilden nur eine Seite der Krisen-Medaille. Die andere ist der radikale Vertrauensschwund in Machtelite und Institutionen. Nur noch 15 Prozent der Franzosen vertrauen dem politischen System, ein absoluter Tiefstand. Vor diesem Hintergrund war das herausragende Resultat des ersten Teils der Präsidentschaftswahlen, der Grosse Exorzismus an den Tenören und Stammorchestern der V. Republik, keine Überraschung.
Der Erosion des Alten verdankt Macron den Spitzenplatz beim ersten Wahlgang. Um den zweiten zu gewinnen, muss der 39-Jährige glaubhaft machen, dass er als homo novus das Land aus der Krise führen kann. Sein Versprechen, die Gräben zwischen dem linken und dem rechten Frankreich zu überwinden und die „république nouvelle“ zu schaffen, sind klare Anleihen am Bild des Retters. Ober er das Format des Retters hat, ist das grosse Fragezeichen. Die Wirklichkeit setzt hohe Hürden. Wer immer in den Élysée einzieht, muss sich bei den folgenden Wahlen zur Nationalversammlung eine Mehrheit schaffen, die stabil genug ist, um notfalls gegen den Druck der Strasse ein Reformprogramm durchzuziehen, das den Namen verdient.
Was den „sauveur“ ausmacht, hat der Historiker Patrice Gueniffey in einem Buch, das – sicher kein Zufall – gerade jetzt erschienen ist („Napoleon et de Gaulle. Deux héros français“, Perrin), so definiert: Der sauveur sei der, „der gegen Anschein und Zwänge das Antlitz der Geschichte verändert, der instand setzt, was man verloren glaubte und vollbringt, was man für unmöglich hielt“.
Rätselhafte Kompromisskultur
Angela Merkel wird von vielen Franzosen hoch geschätzt. Bei aller Sympathie ist sie ihnen, wie die Deutschen im Allgemeinen, ein wenig rätselhaft. Das hat mit dem einen oder anderen Überraschungscoup der Kanzlerin zu tun, etwa dem abrupten Atomausstieg 2011 oder dem migrationspolitischen Alleingang 2015. Letzterer wurde in Paris als Akt humanistischer Kanonenbootpolitik angesehen und ist bis heute noch nicht verarbeitet. Der Gipfel des Unverständnisses war 2013 erreicht, als Merkel nach ihrem überwältigenden Sieg bei der Bundestagswahl eine Koalition mit der SPD einging, der Partei, die sie gerade an die Wand gedrückt hatte.
Machtteilung und Kompromiss sind auch in der Bundesrepublik Deutschland nicht unbedingt beliebt, aber alltägliche Handlungsweisen, die durch Föderalismus und Verhältniswahlrecht erzwungen werden. In Frankreich wird der Machtausgleich nur in extremen Ausnahmesituationen praktiziert, so 1914, als die union sacrée gebildet wurde. Dagegen wird die politische Grundaufstellung von Konfrontation geprägt. Man ist entweder links oder man ist rechts, und wenn man gewonnen hat, wird durchregiert.
Die politische Spaltung Frankreichs, die die politische Mitte traditionell zu einem Aschenputteldasein verdammt, wird von Mehrheitswahlrecht und Zentralismus gefördert. Ideengeschichtlich und faktisch hat sie ihren Ursprung in der Revolution von 1789. Der Kampf der Revolution gegen das Ancien Régime wurde als Kampf Licht gegen Finsternis geführt, in dem es einen Ausgleich nicht geben konnte. Dieser Manichäismus hat bis heute tiefe Spuren im politischen Leben hinterlassen, auch in der Arbeitswelt. Die partnerschaftliche Einstellung deutscher Gewerkschaften, der es nicht gleichgültig ist, ob ein Betrieb infolge des Arbeitskampfes vor die Hunde geht, gilt auf französischer Seite als falsches Bewusstsein.
Günter Müchler ist Journalist und lebt in Köln. Er studierte Geschichte und Politikwissenschaft und war bis 2011 Programmdirektor des Deutschlandfunks. Er hat mehrere Bücher über die napoleonische Epoche geschrieben. Sein letztes Buch ist 2017 erschienen: Napoleons Sohn. Biographie eines ungelebten Lebens, Theiss Verlag.