Mit massiven Demonstrationen im ganzen Land und Streiks in zahlreichen Sektoren haben gestern deutlich über eine Million Franzosen gegen die beabsichtigte Erhöhung des Renteneintrittsalters von 62 auf 64 Jahre protestiert. Und das war wohl erst der Anfang.
Für Frankreichs Präsident ist seine angestrebte Rentenreform so etwas wie «die Mutter aller Reformen», das Herzstück seiner zweiten Amtszeit. Darauf hat er sich nun einmal versteift, davon will er nicht lassen, auch wenn er damit weite Teile des Landes gegen sich aufbringt und Wutausbrüche und Chaos über möglicherweise mehrere Wochen in Kauf nehmen muss.
Denn prompt haben Frankreichs Gewerkschaften, noch am Abend, nachdem Premierministerin Borne vor zehn Tagen die Eckdaten der Reform (volle Rente erst mit 64, Erhöhung der Beitragszahlungen auf 43 Jahre) bekanntgegeben hatte, den Widerstand gegen dieses Gesetzesvorhaben zum «Kampf der Kämpfe» erklärt.
Untrügliches Anzeichen dafür, dass die Lage ernst ist für Macron und seine Regierung: Erstmals seit dem Jahr 2010 haben dieser Tage, in der völlig zersplitterten Gewerkschaftslandschaft Frankreichs, acht verschiedene Arbeitnehmerverbände wieder eine echte Gewerkschaftsfront gegen ein Vorhaben der Regierung auf die Beine gestellt.
Damit in Frankreich eine derartige Einheit auf Seiten der untereinander oft zerstrittenen Gewerkschaften zustande kommt, müssen sich eine Regierung oder ein Präsident schon ziemlich ungeschickt, um nicht zu sagen dumm angestellt haben.
Das zweite Problem für die Machthabenden in Paris: Nach wochenlangen Versuchen der Regierung zu erklären, warum diese Reform unerlässlich sei, ist in einem halben Dutzend Umfragen die Zahl der Franzosen, die diese Reform ablehnen, noch weiter gestiegen und hat sich bei 65 bis 70 Prozent eingependelt.
Der Aktionstag – ein voller Erfolg
Entsprechend hoch war dann gestern auch die Beteiligung an den über 200 Demonstrationen im ganzen Land. Laut Gewerkschaften waren allein in Paris 400’000 Menschen auf der Strasse; die Polizei will nur 80’000 gezählt haben. Über 50’000 waren es in Marseille, fast so viele in Toulouse oder in Nantes und, was besonders auffiel, die beachtlichen Zahlen von Demonstranten in vielen mittleren und kleineren Städten, in Regionen auf dem flachen Land, wo die soziale Not oft besonders gross ist. Immer wieder war zu hören, derartige Demonstrationszüge, wie etwa im normannischen Caen oder in Tours an der Loire habe man dort seit Jahrzehnten nicht mehr erlebt.
Und wenn sogar das Innenministerium gezwungen ist, offiziell die Zahl von 1,12 Millionen Demonstranten im ganzen Land zu nennen, dann war dieser Protesttag definitiv ein Erfolg. Die Gewerkschaften sprachen gar von landesweit zwei Millionen Teilnehmern. Wie auch immer: Es war für Frankreich einer der grössten Demonstrationstage der letzten Jahrzehnte.
Was die Streiks angeht, so waren 70 Prozent der Lehrer im Ausstand, 50 Prozent beim Elektrizitätsversorger EDF und bei der Bahn sowie bei den Pariser Verkehrsbetrieben, 30 Prozent im öffentlichen Dienst und fast 100 Prozent – und das lässt für die nächsten Wochen nichts Gutes ahnen – in den Erdölraffinerien.
Und kaum waren der gestrige Protesttag und die Grossdemonstration in der Hauptstadt Paris zu Ende gegangen, gab die versammelte Gewerkschaftsfront bereits das Datum für den nächsten Aktionstag bekannt: Dienstag, 31. Januar.
Jupiter kann es nicht
Emmanuel Macron sitzt nun seit sechs Jahren im Élysée und hatte wahrlich genügend Zeit, diese Rentenreform, wenn sie denn so wichtig ist, ab 2018 gründlich vorzubereiten und den Franzosen verständlich zu machen.
Sein erster Versuch, gegen den 2019 bereits ebenfalls Hunderttausende auf die Strasse gegangen waren, scheiterte letztendlich am Ausbruch der Coronapandemie – plötzlich gab es Wichtigeres zu tun und das Gesetzesvorhaben wurde zurückgezogen.
Nun, kaum wiedergewählt, versucht es der Präsident ein zweites Mal und der Widerstand scheint noch stärker als vor knapp drei Jahren.
Nach all dieser Zeit kann man nicht umhin festzustellen, dass dieser einst als jung und dynamisch gefeierte Präsident, der angeblich sowohl rechts als auch links sei, zu einem echten Sozialdialog schlicht unfähig ist oder diesen Dialog im Grunde gar nicht will.
Denn letztlich hat Macron von Anfang an und bis heute Gewerkschaften, Verbände und Organisationen, welche allesamt ein Bindeglied zwischen der Bevölkerung und der politischen Macht darstellen, zu Statisten verdammt und reichlich geringgeschätzt.
Gewiss, er oder seine Minister empfingen in den letzten Jahren regelmässig Gewerkschafter oder Vertreter wichtiger NGOs, welche sich den Mund fusselig redeten, am Ende aber regelmässig feststellen mussten, dass ihre Anliegen so gut wie absolut kein Gehör gefunden hatten.
Ebenso problematisch ist die Geschichte von zwei gross angelegten Diskussionsforen, die Macron in den letzten Jahren selbst angestossen hatte: die so genannte «grosse Debatte», bei der er nach der Gelbwesten-Bewegung durchs Land zog und stundenlang in Hemdsärmeln mit versammelten Franzosen diskutierte, deren Sorgen und Argumente aber hinterher nirgendwo Niederschlag fanden. Zu Recht fühlten sich Abertausende frustriert, getäuscht und hintergangen.
Wenn einer der Gewerkschaftsführer erst gestern gesagt hat, Frankreichs Präsident habe von der Gewerkschaftsbewegung und der Welt, welche sie repräsentiert, schlicht keine Ahnung, kann man ihm nach sechs Jahren Machtausübung à la Macron kaum widersprechen.
Denn Frankreichs Präsident vermittelt seit seinem Amtsantritt fast allen Gesprächspartnern aus den verschiedensten Bereichen der Gesellschaft immer wieder den Eindruck, er alleine genau wisse, was gut oder schlecht, richtig oder falsch sei für das Land und seine Bevölkerung.
Diese Attitude macht so etwas wie einen sozialen Dialog de facto unmöglich und hat Macrons Image des arroganten und abgehobenen Politikers im Lauf der Jahre wahrlich nicht verbessert.
Einer, der gerne provoziert
Ja, Emmanuel Macron hat es sogar fertiggebracht, in den letzten Monaten selbst die reformistische und traditionell aufgeschlossene, den ökonomischen Entwicklungen und Zwängen durchaus nicht verschlossene Gewerkschaft CFDT, die inzwischen zur grössten Gewerkschaft des Landes geworden ist, endgültig gegen sich aufzubringen. Sie fühlt sich vom Präsidenten hinters Licht geführt, hat inzwischen von den Dialogen mit Macron, die im Grunde keine sind, endgültig genug.
Dabei hat wohl der Satz des Präsidenten, wonach er sich nicht vorstellen könne, dass bei dieser Konfrontation um die Rentenreform am Ende «die Verantwortungslosigkeit» gewinnen werde, das Fass endgültig zum Überlaufen gebracht. Die Gewerkschaften allesamt als verantwortungslos über den Kamm zu scheren, darf durchaus als Provokation angesehen werden.
Vor den Kopf gestossen hat Frankreichs Präsident sämtliche Gewerkschaften und unzählige seiner Landsleute auch mit der Aussage, die Reform des Rentensystems und die Erhöhung des Rentenalters seien im vergangenen Jahr ja Teil seines Wahlprogramms gewesen, die Franzosen hätten ihn schliesslich erneut zum Präsidenten gewählt und von daher auch für die Rentenreform gestimmt. Eine Aussage, die nichts anderes als schlichter Unsinn ist. Emmanuel Macron hatte im ersten Wahlgang 25 Prozent der Stimmen erzielt, ungefähr so viele, wie sich heute mit seiner Rentenreform einverstanden erklären. Mehr aber nicht.
Und wenn Macron in der Stichwahl dann auf 58 Prozent der Stimmen gekommen ist – bereits 9 Prozent weniger als bei der Wahl 2017 – dann gewiss nur, weil im zweiten Wahlgang Millionen Franzosen ihm nur aus einem einzigen Grund ihre Stimme gegeben hatten, nämlich um Marine Le Pen als französische Präsidentin zu verhindern. Von wegen, die Rentenreform sei durch die letzten Präsidentschaftswahlen legitimiert.
Und zumindest indirekt hat Macron die Kritiker seines Reformvorhabens für das Rentensystem auch am gestrigen Grosskampftag noch einmal provoziert.
So als würden sich die Proteste im eigenen Land nicht gegen ihn richten und als ginge ihn all dies reichlich wenig an, flog der Präsident gleich mit einem Dutzend Ministern im Gepäck nach Barcelona, um dort ausgerechnet an diesem Tag einen Kooperations- und Freundschaftsvertrag mit Spanien zu unterzeichnen.
Gegen alle Gepflogenheiten, sich im Ausland nicht zu innenpolitischen Themen zu äussern, gab Frankreichs Präsident aus sicherer Entfernung seinen Kommentar zu den Massendemonstrationen im eigenen Land ab und liess keinen Zweifel daran, dass er an seiner Reform festhalten will. Diese Reform sei «gerecht und verantwortungsvoll» und, so wörtlich: «Wir werden diese Reform machen, mit Respekt und im Geist des Dialogs, aber mit Entschlossenheit und Verantwortungsbewusstsein.»
Notwendigkeit der Reform
Seit über zwanzig Jahren gibt es in diesem Land den so genannten «Orientierungsrat für das Rentenwesen», der alljährlich einen Bericht über den Zustand des Systems der Altersvorsorge, veröffentlicht. Nach einer Reihe kleinerer Reformen des Rentensystems im Verlauf der letzten zwölf Jahre war bis vor zwei Jahren in diesen Berichten nichts zu lesen von einer akuten Gefahr für die Finanzierung des französischen Rentensystems, erst im vergangenen Jahr läutete die Institution die Alarmglocken.
Frankreichs Bürger aber sind skeptisch und vermuten, der letzte Bericht dieser Institution könnte im Auftrag der Regierung geschrieben worden sein, denn schliesslich kündigten sich Finanzierungslücken im Rentensystem nicht erst von einem Jahr auf das andere an.
Nun heisst es offiziell: 2030 werde das Defizit des französischen Rentensystems, wenn nichts geschieht, 14 Milliarden Euro betragen. Das Problem bei dieser Zahl ist heute: Nach den ausgeschütteten Milliardenbeträgen zur Unterstützung der Unternehmen und gewissen Teilen der Bevölkerung während der Coronakrise – entsprechend Macrons Motto «Was immer es auch kostet» – zucken viele Franzosen bei einer Zahl wie 14 Milliarden Euro heute nur noch mit den Achseln.
Dass die Staatsverschuldung seit Macrons Amtsantritt 2017 hauptsächlich auf Grund der Coronakrise von 98 Prozent des Bruttoinlandsprodukts auf jetzt 114 Prozent geklettert ist, stört den französischen Normalbürger nicht sonderlich und war in den letzten Monaten auch generell kein Thema, welches in der öffentlichen Diskussion in Frankreich im Vordergrund gestanden hätte.
Und das Argument, wonach sämtliche andere Länder in Europa bereits seit Jahren ein weit höheres Renteneintrittsalter als 62 Jahre praktizieren, gleitet an den Franzosen einfach ab. Nur deswegen müsse man im eigenen Land keine sozialen Rückschritte akzeptieren; schliesslich seien heute schon nur 36 Prozent der über 60-Jährigen noch in Arbeit.
Festzuhalten bleibt, dass die Regierung es nicht geschafft hat, in all der Zeit den Franzosen diese Rentenreform wirklich zu erklären. Manche sagen, weil sie schlicht unerklärbar sei.
Diese Reform «ausgeglichen und gerecht» zu nennen – so die Sprachregelung bei Regierung und Präsident – lässt den Gegnern die Haare zu Berge stehen, schliesslich liege die Hauptlast wieder einmal bei den kleinen Leuten, was angesichts des unverschämten Reichtums der Superreichen und des sich erweiternden Grabens zwischen Arm und Reich ein Skandal sei. Da kommt eine jüngste Studie des französischen Ablegers von Oxfam gerade recht, welche folgende Rechnung aufmacht: Wenn man das Vermögen der französischen Milliardäre auch nur mit zwei Prozent besteuern würde, gäbe es bei der Rente kein Finanzierungsproblem mehr.
Der Weg durchs Parlament
«Die Franzosen sind genervt, die Gewerkschaften werden geringgeschätzt, ja verachtet, die Regierung hat allen Grund, beunruhigt zu sein» – so lautete die Überschrift des Leitartikels der linken Tageszeitung «Libération» vom Mittwoch. Nach der gestrigen Machtdemonstration auf Frankreichs Strassen geht es für Präsident Macron nun tatsächlich ans Eingemachte.
Sein äusserst gewagtes Kalkül lautete bisher: Die Franzosen seien eher entnervt, erschöpft und resigniert als wütend, die Proteste würden sich totlaufen und seine Regierung es schaffen, innerhalb von nur 50 Tagen, also bis zum 26. März, diese Rentenreform durchs Parlament zu bringen.
Durch ein Parlament, in dem Macrons Partei und das verbündete Zentrum bekanntlich nur eine relative Mehrheit haben, im Fall dieser Rentenreform jedoch auf den Grossteil der Stimmen der nur noch 60 Abgeordneten der traditionellen konservativen Partei «Les Républicains» zählen dürfen, auch wenn sich selbst in dieser Partei einige finden, die lautstark mehr sozialverträgliche Komponenten in diesem Rentenreformprojekt sehen möchten.
Und schliesslich gibt es selbst in Macrons eigenem Lager Kontra für ihn. Der altgediente Chef der Zentrumspartei Modem, François Bayrou, hat dem jungen Präsidenten gleich mehrmals zu verstehen gegeben, man könne auf die Dauer nicht gegen sein Volk regieren und in der gegenwärtigen Situation zum Beispiel daran denken, die Arbeitgeberbeiträge zur Rentenversicherung zu erhöhen.
Macron aber stellt sich taub, wie so häufig in den letzten Jahren, so taub, dass sein angeblicher «sozialer Dialog» mit den Gewerkschaften immer wieder als «dialogue des sourds» bezeichnet wird.
Da der Präsident sich 2027 nicht ein drittes Mal um das höchste Amt im Staat bewerben kann, verhält er sich wie einer, dem im Grunde nichts mehr passieren kann und der auf niemanden wirklich Rücksicht nehmen muss.
Bislang jedenfalls lässt Macron – wie er gestern im fernen Barcelona noch einmal unterstrichen hat – keinen Zweifel daran, dass er an seinem Vorhaben festhalten will.
Er denkt dabei vielleicht auch daran, dass ein gewisser Nicolas Sarkozy im Jahr 2010 eine Erhöhung des Renteneintrittsalters von 60 auf 62 Jahre durchgesetzt hat und dies trotz – auch damals schon – wochenlanger und massivster Proteste. Der Unterschied: 2010 war kein Zeitpunkt, da die französische Bevölkerung gerade eine Coronapandemie hinter sich hatte, mit dem Krieg vor den Türen der EU und einer Inflationsrate konfrontiert war, wie man sie seit Jahrzehnten nicht gekannt hat.
Paradoxerweise glauben die Franzosen, die laut Umfragen zu zwei Dritteln gegen Macrons Reformprojekt sind, gleichzeitig und ebenfalls zu zwei Dritteln, dass der Präsident seine Reform letztlich auf jeden Fall durchziehen und durchbringen wird.
Le Pen im Hinterhalt
Sollte dem Ende März wirklich so sein, selbst wenn die Proteste bis dahin in ähnlicher Stärke weitergehen, dann dürfte das – so sehen es in den letzten Wochen viele Experten – mittelfristig eher beängstigende politische Folgen haben. Der Frust, nicht gehört worden zu sein und der latente Zorn, der in Frankreichs Mittel- und Unterschicht gegen «die da oben» umgeht – siehe die Gelbwestenbewegung 2018/19 – könnten sich bei künftigen Wahlen massiv zu Gunsten von Marine le Pen und ihrem Rassemblement National auswirken.
Doch auch so sieht es mit Blick auf die nächsten Präsidentschaftswahlen schon düster genug aus. Macron darf, wie gesagt, kein drittes Mal antreten und zur Stunde kann man sich nur schwer vorstellen, wer der Rechtsauslegerin 2027 Paroli bieten könnte. Die Linksparteien und die Grünen werden sich auf keinen gemeinsamen Kandidaten einigen können, der es in die Stichwahl schaffen könnte, die klassischen Konservativen der ehemaligen Sarkozy-Partei «Les Républicains» sind ausgeblutet, und dass das Macron-Lager in den nächsten Jahren einen glaubwürdigen Kandidaten aufbauen könnte, scheint zumindest zur Zeit eher unwahrscheinlich.