Nur wenn es Ministerpräsident Recep Tayyip Edogan gelingen sollte, seine bisherigen Freunde und neuen Gegenspieler endgültig auszuschalten, kann er hoffen, weiterhin die Türkei so zu dominieren, wie er das bisher vermocht hatte.
Seine ehemaligen Verbündeten und neuen Gegenspieler sind die Anhänger Fethullah Gülens, die in der Türkei zu einer Gemeinschaft zusammengeschlossen sind, die sich Hizmet nennt, "Dienst".
Fethullah Gülen ist der Gründer und Animator dieser islamischen Bewegung, die man, mutatis mutandis, mit dem Opus Dei vergleichen kann. Sie versucht, den Islam im Dienst eines modernen Entwicklungsgedankens zu leben. Sie bejaht und pflegt die Ausbildung, technische und geschäftliche Tüchtigkeit. Dies alles stellt sie jedoch in den Dienst einer auf die Gegenwart ausgerichteten und sozial orientierten islamischen Gemeinschaft.
Ein wichtiger Unterschied zum Opus Dei ist allerdings, dass die Gülen-Gemeinschaft aktiv für die Zusammenarbeit der Religionen eintritt und wirbt. Sie sucht in Anlehnung an die grosse mystische Tradition der Türkei (Jellal ad-Din Rumi in erster Linie) das Gespräch mit anderen Religionen, das Judentum nicht ausgenommen.
Den wirtschaftlichen Erfolg gefördert
Gülen selbst lebt heute in den USA und lenkt von dort aus eine weltweit umspannende Gemeinschaft von Millionen von Anhängern. Er hat die Türkei verlassen, nachdem seine Tätigkeit als Imam in Edrine in der Zeit vor der Machtergreifung Erdogans zu Reibungen mit der damaligen Staatssicherheit geführt hatte.
Die Anhänger der Gülen-Bewegung in der Türkei haben bisher stets die Anliegen der AKP-Partei Erdogans gefördert. Sie haben nicht wenig zum politischen und wirtschaftlichen Erfolg seiner Islamischen Demokratie beigetragen. Die "Dienst"-Gemeinschaft war im Erziehungssektor sehr aktiv. Es ist ihr gelungen, viele ihrer Anhänger und Sympathisanten in führende Stellungen in den staatlichen Bürokratien sowie in Industrie und Handel zu platzieren. Sie sollen im Rechtswesen und in der Polizei mächtig sein.
Divergierende Interessen
Gülens Anhänger haben gemeinsam mit den Anhängern Erdogans die grosse Schlacht gegen die politisierenden Offiziere, die sich als Gefolgsleute Atatürks sahen, geschlagen und gewonnen. Die berühmten Ergenekon-Prozesse waren das Kampffeld. Eine erste Serie von Verurteilungen in einem der Grossprozesse wurde im vergangenen August ausgesprochen.
Doch seither scheinen die Interessen der beiden bisherigen Verbündeten zu divergieren. Zuerst ab es Streitereien über verschiedene Belange wie die Frage der Berechtigung der Fahrt der Mavi Marmara Fähre nach Gaza. Gülen hatte diese Fahrt im Gegensatz zu Erdogan nicht unterstützt. Zum ersten Mal öffentlich zum Ausdruck kam der Zwist, als Gülen die Haltung Erdogans gegenüber den Gezi-Demonstranten von Istanbul im vergangenen Frühsommer tadelte. Die "Hizmet"-Gruppe nahm auch Partei für Staatschef Gül. Dieser missbilligt die Pläne Erdogans, künftig selbst Staatschef zu werden und dessen Kompetenzen nach dem Vorbild der amerikanischen Präsidentschaft auszubauen.
„Verleumdungen“
Die Gegensätze scheinen in offenen Streit umgeschlagen zu sein, als Abgeordnete der Partei Erdogans Anstalt machten, durch ein Gesetz die sogenannten Vorbereitungsinstitute zu schliessen. Dies sind private Schulen, die ihre Studenten auf die Eintrittsexamina in die Universitäten vorbereiten. "Hizmet" betreibt viele von ihnen. Es gibt jedoch auch andere Anbieter solcher Vorbereitungskurse. Die Schulen dienten der Organisation als Rekrutierungsbasis. Ihre Gegner sahen in ihnen Kanäle, die angeblich den Anhängern Gülens dazu dienten, ihre Leute in die oberen Ränge der Bürokratie, besonders der polizeilichen und der richterlichen, einzuschleusen. Die "Hizmet"-Anhänger reagierten empört auf solche "Verleumdungen". Ein Abgeordneter von Istanbul, der sich als Bewunderer von "Hizmet" bezeichnet, trat aus der AKP-Partei aus.
Verhaftung von Söhnen von Ministern
Gleichzeitig mit dem Streit um diese Schulen kam es zu einer überraschenden Aktion der Polizei und Gerichtsbehörden. In drei verschiedenen Untersuchungen über angebliche Korruption innerhalb der Regierung wurden am 17. und am 18. Dezember 52 Verdächtige festgenommen. Diese Untersuchungen sollen schon seit einem Jahr geheim geführt worden sein. Dass die Regierung wirklich nichts von ihnen wusste, ist unwahrscheinlich. Doch sie wurde offenbar von den Festnahmen überrascht.
Unter den Angeklagten befinden sich die Söhne von drei Ministern der Erdogan-Regierung. Zwei von ihnen wurden verhaftet und der Dritte nach einem langen Verhör wieder frei gelassen. Ihre Väter sind der Innenminister, der Wirtschaftsminister, der Minister für Umwelt und Urbanisation. Alle drei Minister stehen Erdogan nahe.
Geldtransaktionen
Festgenommen wurde auch der Chef der Halk Bank, einer staatlichen Bank mit privaten Beteiligungen. Er wird beschuldigt, Schmiergelder für iranisches Gas bezahlt zu haben. Diese Gas-Geschäfte sind wegen des amerikanischen Boykotts Irans illegal. Sie wurden über Dubai abgewickelt, indem türkische Pfund in Gold umgetauscht und nach Iran "geschmuggelt" wurden, offenbar um Dollarzahlungen zu vermeiden.
Andere Geldtransaktionen sollen über Russland und China gelaufen sein. Der Hauptmittelsmann, auch verhaftet, heisst Reza Zerrab und soll ein Azeri Türke iranischer Nationalität sein. Den Ministersöhnen wird unter anderem vorgeworfen, sie hätten gegen Schmiergelder dafür gesorgt, dass er die türkische Nationalität erhalten habe und dass seine Aktivitäten, die seit Jahren bekannt waren, nicht untersucht würden. Er soll Gelder in der Höhe von 87 Milliarden Euro "geschmugglet" haben. Hausdurchsuchungen sollen grössere Dollarbeträge in Schuhschachteln bei dem Chef der Halk Bank zu Tage gefördert haben.
Verschwörung gegen den Staat?
Die beiden anderen Affären, die gleichzeitig zu Festnahmen führten, drehen sich um Bauunternehmen. Eines ist im Istanbuler Quartier Fatih tätig. Auch der dortige Bürgermeister, der zur AKP-Partei gehört, Mustafa Demir, wurde festgenommen. Er soll drei grossen Baufirmen zu illegalen Vorhaben verholfen haben - gegen angebliche Bestechungen. Die zweite Affäre betrifft den Umwelt- und Städtebauminister und dessen Sohn. Der Fall soll sich auf das türkische Staatsunternehmen für Sozialbauten TOKI beziehen.
Dass die Verhaftungen in allen drei Fällen gleichzeitig durchgeführt wurden, erklären die Freunde der AKP-Partei damit, dass es sich offenbar um eine Verschwörung gegen den Staat handle. Doch ihre Feinde entgegnen, die Gleichzeitigkeit sei notwendig gewesen, um zu verhindern, dass die Regierung die Untersuchungen der beiden anderen Fälle blockiere, nachdem die erste aufgeflogen war.
„Dreckige Aktion“
Die Regierung war offenbar überrascht durch diese Vorgänge. Dies lässt sich aus den Reaktionen der Pro-Regierungzeitungen und Erdogans selbst schliessen. Die Zeitungen sprachen von einer politischen Verschwörung durch "dunkle Kräfte", wobei jedermann weiss, dass sie auf "Hizmet" anspielen. Sie wagen es jedoch nicht, die Organisation beim Namen zu nennen. „Hizmet“ pflegt energisch zu reagieren, auch vor den Gerichten, wenn sie sich die Organisation verleumdet fühlt. Über Beweismaterial, um die angebliche Verschwörung zu belegen, verfügten die Pro-Regierungsblätter offenbar nicht. Erdogan selbst sprach im gleichen Ton auch eher vague von einer "dreckigen Aktion" und einer "Verschwörung gegen das ganze türkische Volk". Die wichtigste Oppositionspartei, die Halk Partei, welche die Linie Atatürks hochhält, hat sich sofort hinter die Gülen-Anhänger gestellt.
Polizeichef entlassen
Der Staat holte zum Gegenschlag aus. In den zwei Tagen nach den Festnahmen und Hausdurchsuchungen, am 18. und am 19. Dezember, entliess und versetzte er 46 Polizeikommissare und hohe Polizeibeamte. Dies sind teils Strafversetzungen und Entlassungen, teils solche "aus Dienstgründen". Der prominenteste der Entlassenen, ist der langjährige Polizeichef von Istanbul. Ihm wirft man offenbar vor, dass er die Vorhaben vor der Polizei und der Regierung verborgen gehalten hat. Damit werden auch verschiedene andere Entlassungen und Strafversetzungen begründet. Der massive Eingriff der Regierung scheint allerdings die Argumentation jener Polizisten und Staatsanwälte zu rechtfertigen, laut denen die Regierung die Untersuchungen abgewürgt hätte, wenn sie ihr in allen Einzelheiten bekannt geworden wären.
Viele der Bestraften gelten als Mitglieder oder Sympathisanten der Organisation Gülens. Die Mitglieder sollen zwischen fünf und zwanzig Prozent ihres Einkommens an „Hizmet“ abführen. Viele der nun Strafversetzten oder Entlassenen dürften ironischerweise Personen sein, die bei den Aktionen gegen die Offiziere entscheidend mitgewirkt hatten.
Wahlen im nächsten Jahr
Wie der Schlagabtausch weitergehen und enden wird, weiss man noch nicht. Wahrscheinlich wird Erdogan zunächst in der Lage sein, sich mit Hilfe der ihm ergebenen Teile der Polizei und der Armee sowie mit Rückendeckung seiner Parlamentsmehrheit durchzusetzen. Doch auf mittlere Frist muss er politische Rückschläge befürchten.
Diese dürften schmerzvoller sein als der Schaden, den er im vergangenen Sommer bei der intellektuellen Jugend wegen seines Vorgehens gegen die Demonstranten im Gezi-Park erlitten hat.
Im März des kommenden Jahres stehen Lokalwahlen an. Sie werden wohl einen ersten Einblick zulassen, ob der Bruch mit den Gülen-Anhängern Erdogans Wahlchancen nur leicht oder schwer beeinträchtigt. Im Sommer werden dann die entscheidenden Parlamentswahlen folgen.