Noch vor gar nicht so langer Zeit wäre jemand für verrückt erklärt worden, der auch nur einen kurzen Blickkontakt zwischen CDU/CSU und den in „Die Linke“ umgetauften Nachfolgern der DDR-Diktaturpartei SED als möglich bezeichnet hätte. Mittlerweile ist allenfalls ein halblautes Grummeln zu vernehmen, als der vor anderthalb Jahren überraschend zum Ministerpräsidenten des norddeutschen Bundeslands Schleswig-Holstein gewählte 45-jährige Christdemokrat Daniel Günther jüngst sogar öffentlich mit dem Gedanken an ein irgendwie geartetes Regierungsbündnis mit den bisherigen Schmuddelkindern spielte.
Talkshows statt Parlament
Was ist los in Deutschland? Was vollzieht sich in- und ausserhalb der traditionell im Wesentlichen parteilich organisierten Politik? Erkennen sich die Bürger im gewohnten Geflecht der repräsentativen Demokratie nicht mehr wieder? Jedenfalls nicht ausreichend? Verliert unter Umständen gar der Parlamentarismus die Zustimmung der Öffentlichkeit als die unbestritten autorisierte Plattform für das Austragen politischer, sozialer und wirtschaftlicher Interessen und gesellschaftlicher Gegensätze? Finden immer grössere Gruppen Vergnügen (am Ende sogar Glauben) an den Krawall-Happenings der ungezählten Talkshows oder an den Zerrspiegelbildern der sprachlich wie inhaltlich zumeist un-sozialen Medien?
Es ist nicht zu übersehen, dass sich manche der gewohnten Strukturen in Auflösung befinden – politisch wie gesellschaftlich. Tatsächlich vollziehen sich ja auch seit dem Ende des vergangenen Jahrhunderts in Europa und weltweit Umwälzungen, welche die Aufnahmefähigkeit der Menschen nicht selten überfordern – Ende des Kalten Krieges, deutsche Wiedervereinigung, rasante Entwicklung völlig neuer, die Kommunikation auf dem Erdball revolutionierender Medien und Technologien mit wahrscheinlich dramatischen Auswirkungen auf die Arbeitswelt, eine Völkerwanderung ungeahnten Ausmasses aufgrund von Kriegen, Hunger und Elend.
„Wenn hinten, weit in der Türkei …“
Im „Faust“ kann Goethe seinen Spiessbürger noch genüsslich sagen lassen: „Nichts Bessres weiss ich mir an Sonn- und Feiertagen als ein Gespräch zu Krieg und Kriegsgeschrei, wenn hinten – weit in der Türkei – die Völker aufeinander schlagen.“ Tempi passati. Spätestens der Herbst 2015 mit den Flüchtlingsströmen aus dem Nahen Osten und die unkontrollierte Aufnahme Hunderttausender vor allem in Deutschland haben die Stimmung und die politische Situation grundlegend verändert. Und zwar keineswegs nur die so genannte Berliner Republik, sondern ganz Europa. Denn es zeigte sich rasch, wie brüchig im Ernstfall all die Verträge, Abmachungen und Versprechungen in Wirklichkeit waren, mit denen zuvor der Weg zur europäischen Einigung und Erweiterung gepflastert worden war. Die bis dahin bei jeder Gelegenheit beschworenen Begriffe Solidarität und Schicksalsgemeinschaft erwiesen sich als offensichtlich nicht zu übersetzende Fremdwörter.
Es wäre gewiss ungerecht, die Krise um Flüchtlinge und Asylbewerber zur alleinigen Ursache für die vielfältigen innenpolitischen Wirrnisse und Zerfaserungen zu erklären. Aber sie wirkten, fraglos, als Brandbeschleuniger in einem ohnehin bereits stark aufgeheizten Klima. Dies umso mehr, als sich Politik, Justiz und Sicherheitsbehörden in der Folge (und noch immer) alles andere als kompetent bei der Lösung offenkundiger Probleme erwiesen. Die Konsequenz: Immer mehr Bürger verloren das Zutrauen in die Schutzpflicht des Staates und die Handlungsfähigkeit seiner gewählten Repräsentanten. Dass viele – viel zu viele – dieser Enttäuschten sich freilich ausgerechnet in die Arme von Kräften flüchteten, die man nach Hitler, Krieg und Ausschwitz zumindest in Deutschland lange nicht mehr für möglich hielt, verleiht der aktuellen Entwicklung im Land noch zusätzliche Dramatik.
Helle Verzweiflung bei der SPD
Und dramatisch ist die Lage ganz gewiss. Das zeigt sich am deutlichsten bei der ältesten, geschichtsträchtigsten und an Verdiensten reichen deutschen Partei – der SPD. Mit einem noch verbliebenen Wähleranteil von etwa 18 Prozent kann sie eigentlich nicht mehr den Anspruch erheben, Volkspartei zu sein. Besonders im Osten der Republik ist sie längst hinter die mehrfach umgetauften SED-Erben und – seit Neuestem – auch noch hinter die rechtspopulistische „Alternative für Deutschland“ (AfD) gerutscht. Auch in Bayern liegt sie (ebenfalls hinter AfD) auf Platz drei. Und nichts deutet darauf hin, dass sich daran auf absehbare Zeit etwas ändert. Jedenfalls herrscht in der Berliner Parteizentrale helle Verzweiflung.
Und nun kommen auch noch Sarah Wagenknecht und ihr Ehemann, der später zu den „Linken“ abgewanderte einstige sozialdemokratische Parteivorsitzende und Bundesfinanzminister, Oskar Lafontaine, mit dem Aufruf an sämtliche „fortschrittlichen“, aber auch „ungebundenen“ linken Kräfte zwischen Flensburg und Konstanz sowie Aachen und Cottbus, sich doch in ihrer neuen Sammlungsbewegung „Aufstehen“ zu vereinigen. Anfang September will Wagenknecht das Projekt offiziell vorstellen. Es wäre, tatsächlich, kein Wunder, wenn nicht wenige enttäuschte Sozialdemokraten dorthin abwandern würden. Das gilt, freilich, genauso für die Partei „Die Linke“, weshalb deren Führungsmannschaft gegenwärtig ja auch aus allen Rohren gegen das Duo aus dem Saarland schiesst. Dass Sarah Wagenknecht zugleich eine der beiden Fraktionsvorsitzenden der Linken im Bundestag ist, entbehrt dabei nicht einer gewissen Pikanterie.
Spaltpilze bei der CDU
Dass es innerhalb der Union – und dabei keineswegs bloss bei der bayerischen CSU – schon seit langem gärt, ist nun wirklich kein Geheimnis. Und dass immer wieder besonders die Parteichefin und Bundeskanzlerin, Angela Merkel, im Zentrum der (zumeist freilich nur hinter vorgehaltener Hand geäusserten) Kritik steht, ist es ebenso wenig. Noch sind die Wunden ja keineswegs verheilt, die der bittere Streit vor allem mit dem früheren Münchener Ministerpräsidenten und jetzigen Bundesinnenminister Horst Seehofer wegen dessen Rückweisungsplänen von bestimmten Flüchtlingen im Frühsommer geschlagen hat. Die Risse und Brüche innerhalb der christdemokratischen Anhängerschaft reichen freilich viel weiter zurück. Nicht wenige, einstmals besonders treue, Mitglieder hatten es lange Zeit nur mühsam ertragen, dass die – wie sie sagen – „Kanzlerin aus dem Osten unsere Partei immer mehr nach links geführt hat“.
Diese Gruppe hatte sich schon vor etwa zehn Jahren im so genannten „Berliner Kreis“ zusammen gefunden, dem lange auch der jetzige AfD-Chef, Alexander Gauland, angehörte. Was die Schar besonders verbitterte, war die Tatsache, dass ihre Bitte nach einem Treffen mit Merkel im Kanzleramt nie ernst genommen worden war. Die Vorwürfe u. a.: Faktische Abschaffung der (in der Union bis dahin als unantastbar geltenden) Wehrpflicht 2011, sofortige Kehrtwende in der erst kurz zuvor beschlossenen Energiepolitik nach der AKW-Katastrophe im japanischen Fukushima ohne vorangehende parteiinterne Diskussion, Anhebung des Mindestlohnes als „Geschenk“ an den sozialdemokratischen Koalitionspartner usw. Seit kurzem bezeichnet sich dieser Kreis bezeichnenderweise als „Werte-Union“ und steht damit sozusagen in Konkurrenz zu einem anderen, sich als liberal-konservativ bezeichnenden, Zirkel. Fugenlose Geschlossenheit sieht, ohne Zweifel, anders aus. Wer will, kann durchaus Spaltpilze auf dem Boden der Union sehen.
Wahlen in Bayern und Hessen
Jetzt, da die grossen Sommerferien langsam zu Ende gehen, beginnt sich das allgemeine Interesse auf die beiden, in diesem Herbst anstehenden, Landtagswahlen zu richten: Am 14. Oktober in Bayern und am 28. Oktober in Hessen. Sowohl für München als auch für Wiesbaden sagen die bisherigen Umfragen bei CSU und CDU, aber auch bei den Sozialdemokraten massive Stimmenverluste voraus. In Bayern würde (stand jetzt) die ohnehin traditionell kränkelnde SPD vermutlich deutlich von der AfD überholt. Allerdings ist die sieggewohnte CSU (mit etwa 37 Prozent) ebenfalls weit von ihrer jetzigen und eigentlich auch wieder erträumten absoluten Mehrheit entfernt. Ob es in Hessen für eine Fortsetzung der ersten schwarz-grünen Koalition reichen wird, ist – ungeachtet der erstaunlich reibungslosen und deshalb auch erfolgreichen – Landespolitik der vergangenen vier Jahre ebenfalls ganz offen.
Mit anderen Worten – es sieht so aus, als werde die politisch-inhaltlich dürftige, dafür aber personell wie in manchen Aussagen hart an die Grenzen des übersteigernden Nationalismus stossende AfD mit hohen Stimmanteilen in die beiden Landtage einziehen. Welche Regierungs-Konstellationen danach möglich sind, steht daher heute in den Sternen. Nur eine Vorhersage braucht keine prophetische Gabe: Es wird nichts mehr so sein wie bisher. Und ob sich bis zur nächsten Bundestagswahl das Blatt wieder wenden kann, ist genauso ungewiss. Das hat nicht nur Auswirkungen auf die interne deutsche Szene, sondern weit darüber hinaus. Denn die Frage drängt sich automatisch auf, wie es denn in Europa weitergehen werde, wenn ausgerechnet Deutschland als wirtschaftlich wie politisch stärkster Partner und dazu noch im Zentrum des Alten Kontinents gelegen als Stabilitätsfaktor ausfallen sollte.
Nationalismus und „starke Männer“
„Europa“, die Einigung des Kontinents, Abschaffung der Grenzen und bis dahin ungekannte Reise- und Handelsfreiheiten – dieser Traum ganzer Generationen schien sich lange auf geradezu wundersame Weise zu erfüllen. Ohne Anwendung von Gewalt, nur aufgrund gemeinsamer Überzeugungen. Und jetzt? Vorbei? Inzwischen haben sich, ohne Zweifel, viele eigentlich berechtigte Hoffnungen in Utopien verwandelt. „Europa“ erscheint kaum noch als Verheissung, Friede und Wohlstand werden als normal und selbstverständlich gewertet, „Brüssel“ als Goldesel zwar weiterhin gern angezapft, aber ansonsten eher gemieden und gescholten. Solidarität und gegenseitige Beistandspflichten? Überflüssig! Stattdessen – siehe Polen, Ungarn, Tschechische Republik – neue Hochzeiten von Nationalismus und Rufen nach „starken Männern“. Es herrscht, so scheint es, geradezu eine Lust nach Zersplitterung.