Unsicherheit, Ungewissheit und Unwägbarkeit prägen die offiziellen und offiziösen Reaktionen Irans auf die Ereignisse in Syrien. Dramatisch klingen die Warnungen in den Organen der Revolutionsgarden: «Wohin marschiert ihr, revolutionäre Brüder und Schwestern?» titelt das Portal «Tasnim», das der Garde gehört.
Die Zeit heilt doch nicht: Je länger wir uns vom 8. Dezember 2024 entfernen, umso sichtbarer und tiefer wird die Wunde, die Assads Flucht in Teheran geschlagen hat. Niemand zweifelt daran: Der Sturz des syrischen Diktators, die Vernichtung des militärischen Potentials des Hisbollah und die Tatenlosigkeit der schiitischen Miliz im Irak markieren den Zusammenbruch der «Widerstandsachse» Irans – nicht mehr und nicht weniger. Das ist die grösste Niederlage der Islamischen Republik seit ihrem Bestehen, innen- wie aussenpolitisch. Selbst über die unmittelbare Zukunft herrscht absolute Ungewissheit.
Viele fragen sich dieser Tage wieder: Wo ist Ismael Ghaani, der Kommandant der sogenannten Quds-Brigaden? Er war Operationschef im Territorium der «Achse». Doch seit Wochen – genauer: seit dem Tod von Hassan Nasrallah – ist er aus der Öffentlichkeit praktisch verschwunden. Vier Tage nach Assads Flucht tagte im iranischen Parlament die Kommission für nationale Sicherheit hinter verschlossenen Türen. Was über die weltbewegenden Ereignissen besprochen wurde, erfuhren wir nicht, aber, wer dabei war: vier Abgeordnete und drei Generäle der Revolutionsgarden. Ghaani, der eigentliche Feldkommandant in Syrien und Libanon, war nicht dabei.
«Wohin marschiert Ihr?»
Die Atmosphäre des Unglaubens, der Unsicherheit und der Verdächtigungen ist regelrecht greifbar, wohin man schaut, wem man auch zuhört. Ihre Dimension ist in der Geschichte der islamischen «Republik» beispiellos. Nichts zeigt dies deutlicher als eine Textüberschrift im Nachrichtenportal «Tasnim», dem offiziösen Organ der Revolutionsgarden: «Revolutionäre Brüder und Schwestern, wohin marschiert ihr?», fragte «Tasnim» vor fünf Tagen.
Doch die eigentliche Frage des Textes lautet nicht «Wohin», sondern «hinter wem» sie herlaufen. Am Ende der Beschreibung der Ereignisse in Gaza, Libanon und Syrien kommt «Tasnim» in dem Text zu einer vielsagenden dramatischen Warnung. Es geht um alles: «Warum ist jeder von uns wie eine geschlagene Armee nach Nirgendwo auf der Flucht? Warum sind wir in dieser Wüste voller hungriger Wölfe wie eine Herde ohne Schäfer und Hüter rat- und sprachlos? Warum gehen wir trotz hunderten Lichtern auf dunklen Irrwegen weiter? Unsere Sprache, Analyse und Kritik mögen nicht genau jene sein wie die von ‚ihm‘, aber sie dürfen und können nicht gegen ‚ihn‘ sein. Sonst müssen wir über unsere Zukunft ernsthaft besorgt sein.»
«Ihm» bzw. «ihn» ist dabei kein Fürwort für eine abwesende dritte Person. Es geht um den omnipräsenten, ersten und mächtigsten Mann des Staates, um den obersten Kommandanten der «Achse des Widerstands», Ali Khamenei
Khamenei gibt sich unbeirrt
Khamenei ist 84 Jahre alt und seine Analysen und Äusserungen über das, was derzeit im Nahen Osten geschieht, sind beängstigend weltfremd, ja existenzgefährdend – für alle Iranerinnen und Iraner, auch für die Mächtigen. Und diese Angst nimmt man überall wahr, verklausuliert ebenso wie offen – so, wie «Tasnim» es aufwühlend formuliert.
Selbst das Ermessen bleibt im Ungefähren. Viel Zeit braucht die Teheraner Macht, um zu realisieren, was an jenem 8. Dezember in Syrien geschah, welche Verluste sie nach dem politischen Erdbeben dieses Tages noch zu tragen haben wird, die sie bislang wahrscheinlich noch nicht einmal im Ansatz sieht. Momentan wartet sie auf die zerstörerischen Wellen der Tektonik und deren geopolitischen Folgen.
Und die Herren in Teheran können nur erahnen, dass sie gross und zerstörerisch sein werden. Es sei denn, ja, es sei denn …
Netanjahu, Trump und die gleiche Sprache
Wenige Stunden nach dem Sturz Assads wandte sich Benjamin Netanjahu in einem fünfzehnminütigen Videopodcast direkt an die iranische Bevölkerung und prophezeite ihre baldige Freiheit, was auch immer sie bedeuten mag. Es war seine zweite Ansprache dieser Art: Das erste Freiheitsversprechen gab Netanjahu den Iranerinnen und Iranern wenige Minuten, nachdem seine Kampfjets Hassan Nassrallah in Beirut getötet hatten.
Vier Tage nach Netanjahus neuem Podcast schrieb die israelische Zeitung «Haaretz», Sonderkommandos der israelischen Luftwaffe bereiteten sich auf einen Angriff auf iranische Atomanlagen vor.
Drei Tage später gab Donald Trump zum ersten Mal nach seinem Wahlsieg eine ausführliche Pressekonferenz. Und sprach dabei fast ausschliesslich über Syrien, die Türkei und Iran: «Niemand weiss, was mit Syrien passieren wird. Ich glaube, die Türkei wird den Schlüssel zu Syrien halten.» Die Türkei stecke dahinter, sie wolle es seit Tausenden von Jahren, und «er» – Erdogan – habe es hinbekommen, belehrte er die Journalisten.
Kurz vor dieser Pressekonferenz hatte Trump mit Netanjahu telefoniert. Auf die Frage, ob er eventuelle Luftschläge Israels gegen iranische Atomanlagen unterstützen würde, blieb er den Journalisten gegenüber vielsagend vage: «Darüber spricht man nicht, bevor etwas passiert – oder auch nicht.»
Ob «ETWAS» passiert oder nicht, das entscheidet schliesslich Netanjahu selbst. Für das, was er auch tun wird, ist er sich der vollen Unterstützung Washingtons sicher. Nicht wenige spekulieren, Netanjahu werde nicht auf den 20. Januar, den Tag von Trumps Einzug ins Weisse Haus, warten.
Druck von allen Seiten
Und einen Tag nach dieser Pressekonferenz debattierte der UN-Sicherheitsrat über das iranische Atomprogramm. Am Ende der Sitzung verlas die deutsche UN-Botschafterin Antje Leendertse eine Erklärung im Namen des EU-Triumvirats aus Deutschland, Frankreich und Grossbritannien: Iran besitze Rekordmengen an angereichertem Uran ohne glaubwürdige zivile Gründe. Dies ermögliche dem Land, schnell ausreichende Mengen an spaltbarem Material für mehrere Nuklearwaffen herzustellen.
Der Druck von allen Seiten nimmt zu, die künftigen Katastrophen kann man sich schwer vorstellen; man kann sie nur erahnen; der momentane politische ebenso wie materielle Schaden ist gross genug.
Die iranische Botschaft in Damaskus war die einzige ausländische Vertretung, die nach Assads Sturz geplündert wurde. Einen Tag später meldeten einige persischsprachige Medien, dass nach Angaben des aus Damaskus geflohenen iranischen Botschafters Hassan Akbari bei dieser Plünderung 43 Millionen US-Dollar aus den Botschaftstresoren verschwunden seien.
Als diese Meldung die Runde machte, grosses Aufsehen erregte und in den sozialen Netzwerken dann die Frage auftauchte, warum so viel Geld in der Botschaft gewesen sei, musste er drei Tage später im Fernsehen alles dementieren: Nicht ein einziger Dollar sei verloren gegangen.
Seriös und von verschiedenen Quellen bestätigt ist von bis zu 30 Milliarden Dollar iranischer Investitionen in Syrien die Rede, die für die islamische Republik nun völlig verloren sind. Die menschlichen Verluste der «Republik», die in die Tausende gehen, zählt dabei niemand.
Khameneis abscheuliches Dreieck
Diese verlorenen Menschenleben – iranische, irakische, afghanische, pakistanische – scheinen Ali Khamenei ebenso wenig wichtig zu sein wie die Geldsummen, die auch künftig verlustig gehen werden. Er denkt in anderen Kategorien: Ihn beschäftigen die «mutigen Jungs, die Syrien bald von den Terroristen befreien werden. Sie haben nichts zu verlieren, ihre Schulen, Universitäten, Häuser und ihre Strassen sind unsicher. Sie werden der Welt die Ehre erweisen und ihr Land alsbald von den Terroristen befreien.»
Zweimal hat er sich bis jetzt seit dem Sturz Assads geäussert. Und jedes Mal sprach er von einem «abscheulichen Dreieck», das hinter den Machenschaften in Syrien stünde. Zwei Seiten dieses Dreiecks kennen wir längst, sie stehen bei ihm seit fast vierzig Jahren für alles Übel dieser Welt: die Zionisten und die Amerikaner, die er fast bei jeder Ansprache erwähnt, mal stehen die einen an der ersten Stelle, mal die anderen. Den dritten «Übeltäter», dessen Hände im «schmutzigen Spiel in Syrien» gewesen seien, nennt er nicht beim Namen. Nur so weit: Ein Nachbarland habe dabei mitgemischt.
Und mit diesem «Nachbarland» entwickelt sich bereits ein handfester, sehr gefährlicher Konflikt.
Eine kurze Videoaufnahme, die seit ein paar Wochen in sozialen Netzwerken viral geht, offenbart dessen Tiefe und Dimensionen: Wir befinden uns beim Gipfeltreffen der BRICS-Staaten in der russischen Stadt Kasan. Gastgeber Wladimir Putin steht inmitten einer Reihe der Staats- und Regierungschefs aus Südafrika, Ägypten, Indien und Brasilien. Auch Irans Präsident Pezeshkian ist dabei. Recep Tayyip Erdoğan kommt herein, eine Dame weist ihn höflich mit ausgestreckter Hand zu seinem Platz in der Reihe. Erdoğan gibt lächelnd jedem Gast die Hand, wechselt ein paar Worte. Bei Pezeshkian wendet er sich demonstrativ ab. Und der iranische Präsident schaut fassungslos mit einem bitteren Lächeln in die Ferne.
Da, wo Kain Abel tötete
Der türkische Aussenminister Hakan Fidan versucht, der Islamischen Republik diplomatisch beizubringen, wo sie steht. Es ist Abend, zwei Tage vor Weihnachten, Fidan ist mit Mohammad Dschaulani, dem Symbol des syrischen Neuanfangs, auf dem Qassioun-Berg bei Damaskus, auf dem der Legende nach Kain seinen Bruder Abel erschlagen haben soll. Fidan und Dschaulani, der jetzt Al Scharaa genannt werden möchte, trinken Tee und geniessen die Damaszener Abenddämmerung, Fidan plaudert mit Journalisten über die Zukunft Syriens. Und er sagt: «Iran hat seine Lektion in Syrien gelernt.»
Tatsächlich? Die Medien, die dem harten Kern der Teheraner Macht gehören, zeigen sich unbeirrt, sie sprechen eine andere Sprache. Erdogan sei ein Taschenspieler, der ein gefährliches Spiel eröffnet habe, schreibt tags darauf Hossein Schariatmadari, Chefredakteur der Tageszeitung «Keyhan». Khamenei selbst bestimmt den Chefredakteur dieses Blattes: «Keyhan» gilt als sein wahres Sprachrohr.♦
(Mit freundlicher Genehmigung von Iran-Journal)
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