Von Thomas Hermann
Klar, Heidenreichstein ist nicht Klagenfurt und die Karpfenteiche des Niederösterreichischen Provinzstädtchens laden nicht zum Vergleich mit dem Wörthersee ein.
Die Idee
Trotzdem gibt es eine direkte Linie zwischen den beiden Orten: Ingeborg Bachmanns Mutter Olga ist im schmucken Waldviertler Städtchen aufgewachsen, bevor sie mit einem Kärntner Volksschullehrer in Klagenfurt eine Familie gründete. Dort wurde Ingeborg Bachmann nach ihrem Tod zur Namensgeberin des wichtigsten Literaturpreises und Synonym für die grösste Literaturveranstaltung im deutschsprachigen Raum.
Dass Heidenreichstein seit 2006 sein eigenes Literaturfestival durchführt, hat mit Bachmann nichts zu tun. Pate standen vielmehr der Schriftsteller Robert Schindel, der ehemalige Kulturminister Rudolf Scholten und der damalige Bürgermeister von Heidenreichstein, Johann Pichler. Zusammen wollten sie einen literarischen Anlass in der Nebensaison gründen, fernab der kulturellen Epizentren und bei «schiachem Wetter», wie Schindel erzählt.
So seien sie auf die Idee gekommen, jedes Jahr einen Autor oder eine Autorin von Weltrang für zwei Tage nach Heidenreichstein einzuladen und Lesungen und Diskussionen zu seinem beziehungsweise ihrem Werk abzuhalten. Das war die Geburtsstunde von «Literatur im Nebel». Dass die Sonne dem meteorologischen Konzept alljährlich ein Schnippchen schlägt, passt zum Glanz, den die Veranstaltung ausstrahlt. In einer Gemeinde, deren kulturelles Leben von Ereignissen wie dem «Gugelhopfschnapsen im Pfarrhaus» oder einem «Traktorgeschicklichkeitsfahren» dominiert wird, wirken die zum Literaturgipfel geladenen Ehrengäste wie Boten aus einer anderen Welt.
Vertiefung statt Oberflächlichkeit
Salmon Rushdie trat 2006 als erster an. Weiter ging es mit Amos Oz, Jorge Semprún, Margaret Atwood und anderen klangvollen Namen. Am Wochenende des 26./27. September dieses Jahres lockte der britische Autor Ian McEwan 700 Menschen in die ausverkaufte Mehrzweckhalle von Heidenreichstein.
Für ein abwechslungsreiches Programm der Veranstaltung sorgt die aus Zürich stammende Bettina Hering, die seit zwei Jahren Intendantin am Landestheater Niederösterreich tätig ist. Als Dramaturgin von «Literatur im Nebel» wählt sie die Texte aus, arrangiert sie zu losen thematischen Blöcken und verteilt sie zum Vorlesen an eine Auswahl österreichischer Schauspielerinnen und Jungautoren, die mit ihren Stimmen die Werke zum Schwingen bringen.
Die Lesungen spannten einen Bogen über das ganze Romanwerk McEwans, von «Cement Garden» (1978) bis zum eben erst erschienen «The Children Act», aus dem der Autor selber vorlas. (Das Buch wird auf deutsch unter dem Titel «Kindeswohl» ab Januar 2015 erhältlich sein). Glanzlichter in diesem Lesemarathon setzten etwa Tobias Moretti, der aus dem Kinderbuch «Daydreamer» (1994) vorlas, Julia Koschitz und Manuel Rubey, die das Brautpaar in der tragisch endenden Hochzeitsnacht aus «On Chesil Beach» verkörperten oder Erwin Steinhauer, dessen fast einstündige Lesung aus dem satirischen Umweltroman «Solar» (2010) ein einmaliger Hörgenuss war.
Besondere Höhepunkte und eine Abwechslung zu den Lesungen waren ein Referat des Kinderpsychiaters und Autors Paulus Hochgatterer sowie zwei Podiumsgespräche mit McEwan. Hochgatterer sprach aus seiner doppelten beruflichen Optik zu den Kinderfiguren in McEwans Werk. Er verglich das «Liebkosen der Details», das McEwan in Anlehnung an Nabokov in seinen Werken pflegt, mit dem kindlichen Vermögen zur phantasievollen Hingabe zu Menschen und Gegenständen aus ihrem Umfeld. Mit einem Seitenhieb auf die Pädagogik merkte Hochgatterer an, dass den Kindern auf ihrem Weg ins Erwachsenensein diese imaginative Gabe durch diverse Erziehungsinstanzen ausgetrieben werde.
Im Podiumsgespräch vom Samstagabend befragte Bettina Hering McEwan zu seinem literarischen Werdegang. Er schilderte, wie er als junger Autor in den 1970er-Jahren versucht habe, aus der britischen Nachkriegsliteratur auszubrechen, die stark auf Sozialdramen fokussiert gewesen sei. Man habe sich nach «Aussen» orientiert, etwa nach Frankreich mit Camus, Österreich mit Peter Handke, dem magischen Realismus aus Lateinamerika und natürlich in die USA, denn die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts könne wohl als Ära des amerikanischen Romans bezeichnet werden.
Empathischer Rationalist
Im zweiten Gespräch unterhielt sich Daniel Kehlmann mit seinem Freund und Kollegen über McEwans rationalistische und atheistische Grundhaltung, die gleichzeitig von Wärme und Empathie geprägt ist. Es gehe nicht darum, die Welt in richtig und falsch einzuteilen, so McEwan. Er erläutert das am Beispiel seines neuesten Romans, wo eine Richterin entscheiden muss, ob einem fast volljährigen Jugendlichen eine Bluttransfusion verordnet werden darf, die er und seine Familie aus religiöser Überzeugung ablehnen. Man könnte, so McEwan, alle Fakten in einen Computer füttern und der würde möglicherweise aus rein rationalen Gründen den Entscheid des Jungen akzeptieren und ihn sterben lassen. Vielmehr gehe es in solchen Fällen um das sorgfältige Abwägen unterschiedlicher Wertesysteme. Auf diese Weise manövriert McEwan seine Figuren immer wieder in ein moralisches Dilemma, aus dem sie sich je nachdem mit mehr oder weniger Erfolg befreien.
Das Gespräch drehte sich auch um McEwans äusserte Umgang mit der literarischen Tradition. Kein Autor könne sich dem Einfluss der für das 20. Jahrhundert prägenden Modernisten wie Joyce, Proust oder Virginia Woolf gänzlich entziehen. Für ihn sei aber die Wiederentdeckung des Plots aus den Romanen des 19. Jahrhunderts eine Befreiung gewesen sei. Es gebe keine Charaktere ohne Handlung und keine Handlung ohne Charaktere. Deswegen erachte er das modernistische Ausleuchten des menschlichen Innenlebens und das handlungsbetonte Narrativ nicht als Widerspruch. Einzig der existentialistischen Prosa, wo etwa eine namenlose Figur auf dem Bett sässe und ewig auf einen Anruf einer anderen namenlosen Figur warte, könne er wenig abgewinnen.
«Literatur im Nebel» macht für das Publikum das möglich, was fast unmöglich scheint. Wo kann man schon zwei Tage lang in Anwesenheit eines gefeierten Autors sich ausschliesslich mit dessen Werk auseinandersetzen? Erstaunlich ist auch, dass sowohl die Ehrengäste wie die Schauspielerinnen ihren Beitrag ohne Gage leisten. Dabeisein ist Freude und Ehrensache. Für die Schriftsteller wird im Naturpark oberhalb von Heidenreichstein ein Bäumchen gepflanzt, das zu ihnen passt: ein Ahorn für Margaret Atwood, eine Birke für Ljudmila Ulitzkaja und nun – dem keltischen Baumkreis entsprechend – ein Feigenbaum für Ian McEwan. So wächst im Waldviertel über die Jahre ein literarisches Wäldchen heran, das seinesgleichen sucht.
Bisherige Ehrengäste bei «Literatur im Nebel»
2006 Salman Rushdie, 2007 Amos Oz, 2008 Jorge Semprún, 2009 Margaret Atwood, 2010 Hans-Magnus Enzensberger, 2011 Nuruddin Farah, 2012 Ljudmila Ulitzkaja, 2013 Louis Begley, 2014 Ian McEwan
Offizielle Webseite der Veranstalter
Auszug aus dem Gespräch zwischen Daniel Kehlmann und Ian McEwan