Auf solche Tage haben die Freunde Europas lange gewartet. Vom 7. bis zum 18.September geben ihnen sechs Nachrichten neuen Mut. Am 7. verkündet die Europäische Zentralbank EZB, sie werde unbeschränkt Staatsanleihen der überschuldeten Euro-Länder kaufen, und die Finanzmärkte schrauben sofort deren Zinsen herunter.
Dann gleich vier Meldungen am 12.: Die Niederländer machen entgegen aller Erwartung zwei europafreundliche Parteien zu den Gewinnern der Parlamentswahlen und fügen dem rabiaten Europafeind Geert Wilders eine beissende Niederlage zu. Das deutsche Verfassungsgericht erlaubt es, dem 500-Milliarden-Garantiefonds zur Stützung von Schuldnerländern („European Stability Mechanism“ ESM) die 190 deutschen Milliarden beizusteuern.
Ein politischer Sprung
Am gleichen Tag hat EU-Kommissionspräsident Barroso die Detailvorschläge für die von den Mitgliedländern beschlossene „Bankenunion“ präsentiert, sie sollen ihre Bankenaufsicht der Europäischen Zentralbank abtreten. Sie sollen sogar, wie Barroso den EU-Parlamentariern feierlich zuruft, die EU zu einem „Bundesstaat von Nationalstaaten“ machen - ein politischer Sprung über die Finanzkrise hinaus.
Zum krönenden Abschluss schlägt am 18. eine „Zukunftsgruppe“ ein Bündel von konkreten Schritten vor, die in diese Richtung gehen. Es sind die Aussenminister aus elf EU-Ländern, und nicht den geringsten: Die sechs Gründerländer Deutschland, Frankreich, Italien, Belgien, Luxemburg und Holland, dazu Polen aus Osteuropa, das neutrale Österreich, das skandinavische Dänemark, aus dem Süden auch Portugal und Spanien. Eine repräsentative Streuung von Mitgliedern aus allen Gegenden und über Spaltlinien hinweg: altgediente und jüngere, nördliche und Mittelmeer-Länder, Euro-Schulden- und Euro-Geberländer.
Die Fussangeln
Zeigt das eine Umkehr der grassierenden Europa-Skepsis an? Vorsicht, fast alle Vorschläge enthalten Fussangeln. Die EZB wird italienische, spanische und griechische Staatsanleihen nur kaufen, wenn diese Länder die von den Geldgebern gestellten harten Austerity-Bedingungen einhalten, welche sie wegen der Wut der Gegendemonstranten vielleicht gar nie erfüllen können.
Die Gewinner der niederländischen Wahlen sind europafreundlich nur, bis es ans Geld der Holländer geht: Geert Wilders’ verrückte Forderung, aus der EU auszutreten, liegt ihnen fern, aber der Liberale Mark Rutte hat die Wahlen auch mit dem Versprechen gewonnen, den Mittelmeerländern kein Geld mehr nachzuwerfen.
Blockademöglichkeiten
Dem Plan Barrosos, sämtliche 6000 Banken in der EU der Aufsicht der EZB zu unterstellen, antwortete sofort deutscher Widerspruch: nur die grossen. England wird diesem Plan sowieso nur zustimmen, wenn er dem Finanzplatz London keinen Abbruch tut, und da die Bankenunion nur mit Einstimmigkeit der ganzen EU Gesetz werden kann, kann die britische Regierung jeden ihr nicht genehmen Plan mit ihrem Veto blockieren.
Die „Föderation von Nationalstaaten“ schliesslich zwickt das Nationalgefühl Englands und vieler Oststaaten dermassen, dass ihre Verwirklichung zur Zeit chancenlos ist. Schritte in dieser Richtung sind möglich, der grosse Sprung nicht.
Der Fall Holland
Der Fall Holland ist wohl typisch für die Stimmung in der EU. Die Niederländer waren jahrzehntelang ein fester Pfeiler der EG. Gross war 2005 der Schock, als sie mit den Franzosen gegen die EU-„Verfassung“ stimmten, die deswegen zum Vertrag von Lissabon degradiert werden musste, und noch grösser beim spektakulären Stimmengewinn des Antieuropäers Geert Wilders 2010.
Und nun diese proeuropäische Stimmung in den Wahlen 2012! Vorsicht: Das heisst ja auch, dass die niederländischen Wähler ihre Meinung innert zwei Jahren ins Gegenteil verkehren können. Wenn sie jetzt für Europa gestimmt haben, ist das keine Garantie, dass sie das bei den nächsten Wahlen oder einer Abstimmung über die Euro-Rettungsschirme wieder tun. In weiten Teilen der EU ist die Volksstimmung nicht nur wankelmütig, sondern negativ, Stichwort „Bürgerferne“.
Demokratisch undemokratisch
Das Elend der EU ist ihre institutionelle Unfertigkeit und Asymmetrie, die Schiefe ihrer heutigen Konstruktion: Wirtschaftlich ist sie immer stärker ausgebaut worden, bis zum wackligen Gipfel der Währungsunion - politisch ist sie zurückgeblieben, wichtigste Beschlüsse werden unkoordiniert auf der Ebene von 27 Nationalstaaten gefasst.
Das illustriert gerade das Urteil der deutschen Verfassungsrichter: Jeden weiteren deutschen Beitrag an den Euro-Garantiefonds muss der Bundestag genehmigen. Das tönt demokratisch, ist es aber nicht! Demokratie verlangt, dass alle Betroffenen mitbestimmen. Also alle BürgerInnen und Länder der EU.
Alle Euro-Rettungsmassnahmen sind nun aber von der Zustimmung eines einzigen nationalen Parlaments abhängig, denn ohne den deutschen Beitrag wird niemand anderer dem Garantiefonds noch Geld nachschiessen. 90 Millionen Deutsche entscheiden für 500 Millionen EU-Bürger über die Rettung der Währungsunion, von der auch das Schicksal der ganzen EU abhängt! Ein einziger Staat darf nicht für alle anderen entscheiden, selbst wenn er demokratisch entscheidet.
Aufsplitterung oder Bundesstaat?
Man sieht sofort, es gibt zwei Wege, diese Schieflage ins Gleichgewicht zu bringen: Entweder wird die Wirtschaft auf das Integrationsniveau des Politischen hinabgeschraubt oder umgekehrt. Das erstere wäre ein Aufsplittern des Binnenmarktes in 27 Staaten, die wieder Zölle gegeneinander erheben, das wollen nicht einmal die Millionen von EU-Bürgern, die über Brüssel schimpfen. Also Aufwertung des politischen Unterbaus zu einer echten EU-Demokratie? Barroso hat das gespürt und – hatte er Wind von der Initiative der “Zukunftsgruppe“? - pathetisch nach einem Bundesstaat gerufen.
Barroso ist ein Leichtgewicht, aber wenn elf EU-Länder – hinter den Ministern stehen natürlich ihre Regierungen – mehr Demokratie in der EU fordern, dann zeigt das ihren Willen, den Weg der Aufwertung des Politischen zu gehen. Ihre Vorschläge sind, wie Beat Ammann in der NZZ schreibt, „kantig“: mehr Mehrheitsbeschlüsse anstatt Einstimmigkeit.
Auch das EU-Parlament soll neben der Kommission das Initiativrecht für EU-Gesetzesvorschläge bekommen. Es wählt den Kommissionspräsidenten, und dieser soll seine Kommissare, bisher von den Ländern nach Brüssel entsandt, selber auswählen können. Neben die Abgeordneten des EU-Parlaments soll eine Mitgliedländer-Kammer treten - ein „Ständerat“. Dazu kommen institutionelle, demokratische, fiskalische und monetäre Revisionsvorschläge, um die Euro-Krise besser bewältigen zu können.
Kantige Vorschläge in Watte verpackt
Die Vorsicht, mit der die Minister ihre Initiative formulieren, ist paradoxerweise das Indiz für den echten Willen zur Wende. Sie „vermeiden anstössige Schlagworte“ (NZZ) und die Nennung eines Endziels (Bundesstaat und ähnliches). Die Gruppe ist so leise aufgetreten und ihre Vorschläge sind so sanft formuliert, dass sie keinen Protester hinter dem Ofen hervorlocken.
Aber so seriös, dass sie Politiker anderer Länder anziehen sollen, die über die Anti-EU-Clichés des einfachen Bürgers hinausblicken. Am jahrelangen EU-Griesgram gemessen sind es revolutionäre Schritte. Die elf Aussenminister geben dem Ausbau der EU einen aus tiefer Überzeugung kommenden Impuls, wie man ihn seit vielen Jahren nicht mehr gesehen hat. Und, nochmals, es stehen elf EU-Staaten dahinter, die sich für diese kühne Initiative abgesprochen haben.
Spaltung in der EU?
Heutige Politiker glauben uns unter dem Diktat der Medienkultur eine einmütige Front vorgaukeln zu müssen. Die Elf nicht, sie legen ihre Meinungsverschiedenheiten offen dar. Einige wünschen sich am Ende des Prozesses eine „europäische Armee“, andere wollen davon nichts hören.
Die elf Länder scheinen nicht einmal vor der Idee zurückzuscheuen, dass sich, um die europäische Einigung voranzubringen, in der EU vielleicht ein Kern fortschrittlicher Länder bilden muss, der sich von ihr abspaltet. Ein solcher Gedanke blitzt auf in der Idee, die Parlamentarier der Euro-Länder könnten sich zu einer separaten Kammer zusammenschliessen. Es wäre nicht die erste Abspaltung eines Kerns, die EG selber ist so aus dem Europarat entstanden.
Ein neues Europa?
Damit lässt diese „Zukunftsgruppe“ durch einen Türspalt auf ungeahnte Möglichkeiten einer neuen EU-Zukunft, ja der europäischen Integration überhaupt blicken. Aber zum dritten Mal: Vorsicht, es ist unvorhersehbar, was daraus wird - und ob überhaupt. Wenn ja, dürfte sich die Diskussion um den „neuen Kern“ nicht nur um „Euro oder nicht Euro“ drehen. Wie die Divergenz über die „europäische Armee“ zeigt, gibt es noch andere Spaltlinien, um jede werden sich andere Dafür- und Dawider-Koalitionen bilden.
Aus diesem verhackten Spinnennetz ein weitherum getragenes Gesamtpaket zu machen, das wird eine homerische Debatte werden. Die Europa-Freunde und die Kritiker, die in der EU den Zentralismusteufel sehen, werden sich wieder lustvoll miteinander balgen können.