Das Buch trägt den üppigen Titel „Dann wird es sich zeigen, ob der Faden und die Farbe gut sind an unserem Fahnentuch“ und ist im Rotpunktverlag erschienen. Er stammt von Gottfried Keller und ist dessen populärer Erzählung „Das Fähnlein der sieben Aufrechten“ entnommen. Die Erzählung, die jeder Schweizer Schulbub, jedes Schweizer Schulmädchen kennen lernen durften oder mussten, möglicherweise zwecks patriotischer Erbauung, steht an erster Stelle im Buch. Wieder gelesen hat sie der letztes Jahr verstorbene Schweizer Autor Urs Widmer und er widmet ihr einen spannenden Essay. Den hat er erstmals 1989 publiziert unter dem Titel „Geschichten aus einem anderen Land“. Noch einen drauf setzt ein anderer Eidgenosse, Guy Krneta, mit einem satirischen Text, den er „Schneidermeister Hedigers Erben“ nennt. Hediger ist eine der sympathischen Hauptfiguren in Kellers Erzählung. Die von Krneta erdachten, weit weniger sympathischen Erben treiben mit der Zeitung, die Hedigers Leibblatt war, die er ehrfürchtig wie eine Reliquie behandelt hat und die sie geerbt haben, Schindluder.
Kellers Geschichte spielt 1849, ein Jahr nach der Gründung der modernen Eidgenossenschaft. Erzählt wird, wie sich sieben alte Freunde, Handwerker und Wirte, nach Aarau ans eidgenössische Schützenfest begeben, wie sie sich und den Sieg der Liberalen über die klerikal-konservativ geprägten Innerschweizer, über den Sonderbund feiern. Fahnen werden geschwenkt, hochgemute Reden gehalten; eine freiheitliche, menschenfreundliche Tendenz hat sich politisch durchgesetzt und ist in der Verfassung festgeschrieben. So soll es sein und bleiben.
Widmer der Verführer
Urs Widmer, als Romancier, Essayist und Dramatiker ein gewiefter Stratege, der es versteht, seine Leser zu verführen, beginnt mit Bekenntnissen: dass natürlich Gottfried Keller Wichtigeres, Bedeutenderes geschaffen habe als grad dieses „Fähnlein“, mit dem man ihn, Widmer, wie viele andere in der Jugend „malträtiert“ habe. Dann aber geht´s ans Sortieren und Interpretieren und es werden die Fäden, die Keller ausgelegt hat, weitergesponnen, von seiner Schweiz in unsere, in die von 1989 – in ein anderes Land eben. Widmer zitiert den alten Keller, der erleben musste, wie sich der von ihm idealisierte Freisinn in einen schrankenlosen Kapitalismus verwandelte und er findet die Stellen in der Erzählung, die eine solche Entwicklung befürchten lassen und sie auch schon benennen. So kommt Widmer zum Schluss, dass das „Fähnlein“, aufmerksam gelesen, seine naiv anmutende patriotische Ausdrucksform verändert und nun „ rittlings zwischen den Zeiten sitzt“ , wie er schreibt, den jungen Bundesstaat feiernd, aber auch seine mögliche Entwicklung hin zum Raubtierkapitalismus beargwöhnend.
Ans Ende seines Essays setzt Widmer eine vehemente Kritik dessen, was aus der einstigen radikal-liberalen, aus der freisinnigen Partei Kellers geworden ist. Eine Standortbestimmung in Kurzform, aufs Jahr 1989 bezogen. Da ist die FDP zur reinen und mächtigen Wirtschaftspartei geworden. Das Freie in ihrem Namen versteht sich in erster Linie als Freiheit des Unternehmertums, dem möglichst keine staatlichen Schranken gesetzt werden sollen. Wie Keller wird auch Widmer (in den letzten Sätzen seines Textes) prophetisch, wenn er den Niedergang des Freisinns kommen sieht.“ Allerdings werden auch die Freisinnigen selber oft Opfer ihrer eigenen Strategie und sind zuweilen selber nicht mehr fähig, wirkungsvoll an den Marionettenfäden zu ziehen, an denen sie eigentlich andere gerne zappeln sähen, uns.“
Zeitungsschacher
Mit Guy Krneta kommen wir in der Jetztzeit an. Er erzählt uns in kaum verschlüsselter Form den Schacher um die „Basler Zeitung“. Schritt für Schritt und aufgehängt an den erfundenen, aber für Kenner der Szene leicht zu eruierenden Namen einiger Protagonisten zeigt der Autor auf, wie Finanzhaie, Spekulanten, Grossunternehmer sich einer einst unabhängigen Tageszeitung bemächtigen, um sie, ausgerüstet mit dem entsprechenden Personal an strategisch wichtigen Schaltstellen, für ihre Zwecke und für ihre Politik zu nutzen. Krneta erzählt staubtrocken und satirisch zugespitzt. Er benutzt und ironisiert all die schönen, die Realität vernebelnden Begriffe, die sich die Medienmogule zurechtgelegt haben, wenn es darum geht, Tendenzen und Interessen schönzureden - oder brutale Sparmassnahmen zu rechtfertigen.
Unter dem Begriff „liberal“, meint eine seiner Figuren, lässt sich inzwischen fast jede politische Richtung subsumieren. Man braucht dem Begriff nur eine Vorsilbe zu verpassen und schon hat man sich als „Linksliberaler“, „Grünliberaler“, „Neoliberaler“, „Sozialliberaler“, „Scheinliberaler“ („Scheissliberaler“, wie die 68er zu sagen pflegten) „positioniert“, hat sich einen passenden Schirm besorgt, unter dem sich eloquent politisieren lässt.
Drei Sondierungen, eine epische, eine essayistische und eine satirische in 165 Jahre Schweizer Geschichte: sie liefern aussagekräftiges Material und erhellende Erkenntnisse über die allmähliche Sinnentleerung althergebrachter Begriffe. Es ist doch ein weiter Weg, der vom Kellerschen euphorisch besungenen Liberalismus zum heutigen Neoliberalismus führt!
„Dann wird es sich zeigen, ob der Faden und die Farbe gut sind an unserem Fahnentuch“ von Gottfried Keller, Urs Widmer und Guy Krneta ist im Rotpunktverlag erschienen.