Als Intendantin von «Andermatt Music» bestimmt Lena-Lisa Wüstendörfer das Musikgeschehen auf fast 1’500 Metern Höhe. Mit ihrem Swiss Orchestra pflegt sie ein klassisches und modernes Repertoire schweizerischen Ursprungs.
Die Zeit der alten weissen Männer, die feldherrenmässig und im strengen Frack einer Hundertschaft von Musikern von oben herab den Takt angeben, scheint im Wandel gesellschaftlicher Normen definitiv vorüber zu sein. «Der Dirigent» war eine der letzten Bastionen im klassischen Musik-Betrieb, die von jungen, dynamischen und bestens ausgebildeten Frauen gestürmt wurden. «Die Dirigentin» hat sich mittlerweile ganz selbstverständlich durchgesetzt. Es war höchste Zeit.
Eine dieser Frauen ist Lena-Lisa Wüstendörfer. Seit diesem Jahr ist die Dirigentin zusätzlich auch Intendantin. Sie sorgt in der neuen Konzerthalle in Andermatt für den musikalischen Inhalt, von Jazz über Volksmusik bis Klassik. Und das von ihr gegründete Swiss Orchestra wird hier als sogenanntes Residenz-Orchester seinen festen Platz haben. Anfang Februar geht’s los. Mit dem Orchester hingegen arbeitet sie bereits seit dessen Gründung vor drei Jahren regelmässig.
Unterwegs mit dem Swiss Orchestra
Es war einer jener grauen Wintertage. Kalt, dunkel, trist. Ein Tag, den man einfach vertrödeln möchte. Ein Samstag. Kirchgemeindehaus Oerlikon, hatte Lena-Lisa Wüstendörfer gesagt. Dort sollte die Probe mit ihrem Swiss Orchestra stattfinden. Je näher man kommt, desto öfter begegnet man jungen Leuten mit einem Instrument über der Schulter oder im Rucksack. Lachend, aufgeweckt, gut gelaunt. Alle strömen ins Kirchgemeindehaus. Und bald hat man die Kakophonie des Einstimmens im Ohr, die sich pünktlich um 11 Uhr auf einen Fingerzeig hin in schönsten Wohlklang wandelt. Am Dirigentenpult: Lena-Lisa Wüstendörfer, mit Schwung, Begeisterung, Können, Energie, Lust und Freude. Die Musikerinnen und Musiker sind gleichermassen temperamentvoll bei der Sache.
Mozarts Kleine Nachtmusik wird gerade geprobt. Ein Evergreen der Klassik. Lena-Lisa Wüstendörfer, rank, schlank, gross und blond, wirkt eher wie ein Model, und sie ist total in ihrem Element. Nach Mozart kommt ein Werk des Schweizer Komponisten Paul Huber. Das ist schon weniger geläufig, dafür wunderschön und absolut überraschend: mit Hackbrett-Solo zum Streichorchester. Weiter geht’s mit Joachim Raff, nach Huber bereits der zweite Schweizer Komponist dieses Konzerts. Man merkt: Lena-Lisa Wüstendörfer hat ihr Orchester nicht zufällig «Swiss Orchestra» genannt. Wo Swiss draufsteht, ist Schweiz drin. Souverän und klar leitet Wüstendörfer die Probe, alles läuft entspannt und engagiert zugleich.
Inzwischen ist die Probe vorüber und wir sitzen am nüchternen Tisch im kahlen Vorraum des Kirchgemeindehauses. Nichts lenkt ab. War es von vornherein ihr Wunsch, eines Tages vor einem Orchester zu stehen und zu sagen, wo’s lang geht, frage ich sie. Sie lacht: «Es war nicht geplant, aber hat sich so ergeben». Der klassische Weg: von der unvermeidlichen Blockflöte über das Klavier zur Geige. «Der Klang der Geige hat mich total fasziniert. Ich war damals etwa zehn Jahre alt und von diesem Moment an Feuer und Flamme, vor allem, weil ich bald in einem Orchester spielen konnte und diese Orchesterfamilie hat mich begeistert.» Klänge gestalten, die Emotionen auslösen können, und die Erkenntnis, dass es jeden einzelnen Musiker braucht, um gemeinsam ein Kunstwerk zu kreieren. Jeder hat seine Funktion, die aber nur funktioniert, wenn alle Zahnrädchen ineinandergreifen. Lena-Lisa Wüstendörfer wusste: Das ist ihre Welt.
Assistentin von Claudio Abbado
Den Weg in diese Welt beschritt sie auf zwei Gleisen: Einerseits absolvierte sie ein Studium der Musikwissenschaft und promovierte. Andererseits machte sie das Diplom in Dirigieren an der Musikhochschule. Beides in Basel. «Es war ein grosses Pensum», sagt sie rückblickend. Noch während ihres Studiums hatte sie aber beim Lucerne Festival Claudio Abbado kennengelernt, einen der ganz Grossen unter den Dirigenten.
Sie durfte den damaligen Assistenten von Abbado begleiten, gewissermassen eine Assistenz-Schnupperlehre machen, und bald darauf bekam sie das Angebot, beim Orchestra Mozart in Bologna tatsächlich Assistentin von Abbado zu werden. «Da konnte ich nicht nein sagen und beschloss, mein Studium zu unterbrechen und später zu beenden.» Theorie und Praxis zu verbinden, das war von Anfang an wichtig für sie. «Es gibt so oft Gräben zwischen dem praktischen Orchesterspiel und der Musikwissenschaft, und die möchte ich überwinden.»
Und wie war es, beim Maestro in Bologna? «Sehr spannend! Einblick in verschiedene Orchester zu bekommen, die Abbado dirigierte, Partituren mit ihm zu besprechen und seine Sicht darauf vermittelt zu bekommen, war unglaublich. Besonders, da ich ja frisch aus dem Studium kam, wo man sozusagen in einer behüteten Werkstatt lernt. Raus in die Welt zu können, wo man die besten Musiker trifft und mitarbeiten zu dürfen, da habe ich sehr viel gelernt, ab er es war auch ein Sprung ins kalte Wasser.»
Und wie hat sie Abbado selbst erlebt? «Nun, er war kein Mann der grossen Worte, aber durch Beobachten konnte man viel lernen. Er war ein Klangmagier, das hat mich am meisten beeindruckt. Er konnte zum Beispiel in einer Mahler-Sinfonie ein Piano kreieren, so dass sich niemand im Saal getraute, noch Luft zu holen, weil es sooo leise wurde. Andererseits dann ein Forte, bei dem es fast die Decke im Saal zu sprengen schien. Er sagte mir einmal, für viele Dirigenten bedeute piano einfach leise und forte laut. Dabei gebe es doch so viele Arten von forte, ein schneidendes Forte, ein weiches Forte, es seien nicht nur die Dezibel, die es ausmachen, sondern auch der Klangcharakter, in dem man so vieles in der Artikulation ändern oder modifizieren kann. Das ist etwas, das auch für mich sehr wichtig geworden ist.»
Entdeckungsreise zur Schweizer Musik
Das richtige Gespür hat sie aber schon während ihres Studiums in Bezug auf Komponisten bewiesen. «Ich habe mich immer wieder gefragt, warum in der Musikwissenschaft Schweizer Komponisten der Klassik und Romantik kein Thema waren. Es gibt ein hilfreiches Büchlein von Angelo Garovi, in dem wichtige Namen aufgezählt sind. Aber es gibt wenig, das in die Tiefe geht und Zusammenhänge aufzeigt.
Als ich aber zu Beginn meiner Laufbahn als Gastdirigentin ins Ausland eingeladen wurde, fragte man mich oft, ob ich auch Werke aus der Schweiz mitbringen könne. Das war schwierig, Klar, Arthur Honegger ist mir in den Sinn gekommen oder Hans Huber, aber sonst kennt man eher die zeitgenössischen Komponisten, die von der Pro Helvetia gefördert werden. Aber haben wir auch so etwas wie einen Schweizer Brahms? Einen Schweizer Beethoven? Gibt es da nichts Lohnenswertes? Das war mein Antrieb.»
Einen Sommer lang machte sich Lena-Lisa Wüstendörfer geradezu detektivisch auf die Suche. «Schweizer Klassiker oder Romantiker muss man erforschen und in den Archiven aufstöbern. Das kommt mir manchmal vor wie in einem Krimi! Aber ich profitiere sehr davon, dass ich im Studium Archiv-Forschung gelernt habe und Quellen schnell einordnen kann. Inzwischen bin ich am Anfang einer Entdeckungsreise und habe das Gefühl, erst an der Oberfläche zu kratzen.»
Um die Schweizer Komponisten der Klassik und Romantik einem breiteren Publikum bekannt zu machen, braucht man ein Orchester. «Also Musiker, die am neuen Repertoire interessiert und technisch versiert sind», so Wüstendörfer, «denn es gibt kaum Ungünstigeres, als unbekannte Komponisten schlecht aufzuführen. Wir brauchen Musiker, die es spannend finden, alte Komponisten neu zu entdecken. Und mir ist ein kammermusikalischer Drive im Orchester wichtig, wie ich es bei Claudio Abbado und seinem Orchester erlebt habe.»
Dass ihr das gelungen ist, sieht man schon auf der Probe des Swiss Orchestra. Das Durchschnittsalter liegt zwischen 25 und 45 Jahren und alle spielen sonst in etablierten Sinfonieorchestern oder sind als Kammermusiker unterwegs. «Es macht Freude, mit ihnen zu arbeiten», sagt Lena-Lisa Wüstendörfer und strahlt. «Ich habe auch den Eindruck, dass wir einen guten Team-Geist haben.»
Stützpunkt Andermatt
Ganz besonders freut sich Wüstendörfer nun auf das erste Ausland-Gastspiel. Ende Januar und Anfang Februar reist das Swiss Orchestra nach Madrid und San Sebastian. In den Konzerten stellt Wüstendörfer dann Mozart und Beethoven die zeitgenössische Schaffhauser Komponistin Helena Winkelman oder den Luzerner Klassiker Franz Xaver Schnyder von Wartensee gegenüber. Der Vergleich dürfte interessant sein. Für das Publikum in Spanien ebenso wie in Andermatt.
Zwanzig Konzerte pro Jahr sind künftig in Andermatt geplant. Wüstendörfer sieht drei Schwerpunkte vor: erstens das Swiss Orchestra mit Swissness im Programm, zweitens Weltstars und drittens «Perlen aus der Innerschweiz», wie sie es nennt. «Es gibt da hervorragende Formationen – auch aus Jazz und Volksmusik», schwärmt sie. Und gleich am Eröffnungswochenende vom 4.–6. Februar kann sie die ganze Bandbreite aufrollen: mit dem Swiss Orchestra, mit der Pianistin Hélène Grimaud und mit der Urner Formation «Gläuffig» bei einer «Stubete» im Konzertsaal.