Claudio Magris ist ein wahrer "Homme de Lettres". Zeit seines Lebens ist er so mit den Wirkungen des Vielvölkerstaats der Habsburger verbunden, die heute noch in Triest so sicht- und spürbar sind, dass momentan in Barcelona eine Ausstellung zu ‚Magris und sein Triest’ läuft. Auch in Basel zeigte er seine Vielseitigkeit.
Am Morgen beanspruchte er in der Rolle des italienischen Gelehrten die intellektuelle Flexibilität und das literarische Wissen seiner leider sehr spärlichen Zuhörer mit Ausführungen zum ‚Recht in der Literatur’ von der Antike bis heute und zitierte dabei Rechtsgelehrte, Philosophen wie Kant und Hobbes, sowie Dichter, Literaten und Literaturwissenschaftler.
Legalität und wahres Recht
Seine These: Die Dichtung hat eine Abneigung gegen das Recht, denn Recht scheint gebunden an die Grausamkeit des Konfliktes. Die Dichtung aber träumt oft vom "goldenen Zeitalter", in dem das Lamm und der Wolf friedlich aus derselben Quelle trinken. Magris: "Oft nähert sich die Literatur der mystischen Dimension der Religion, mehr der Gnade als dem Gesetz an, vor allem aber jener mystischen Inspiration, die das Gesetz und auch die Moral ignoriert oder überschreitet."
Dabei kommt es immer wieder zur Diskussion: Was ist Recht ? Was ist Wahrheit ? In der Auseinandersetzung mit dem Gesetz sind literarische Meisterwerke entstanden, wie zum Beispiel Kleists "Michael Kohlhaas", das den Konflikt zwischen der verfälschten "legalen" Gerechtigkeit und der wahren Gerechtigkeit zeigt. Oft klagt die Literatur die Gewalt und Ungerechtigkeit des Gesetzes an. Der Justizirrtum ist ein beliebtes Romanthema.
Magris verwies auf einen weiteren Zusammenhang von Recht und Literatur: Die Antike wusste, dass in der Gesetzgebung durchaus Dichtung enthalten sein kann. Nicht zufällig heisst es in vielen Mythen, dass die Dichter auch die ersten Gesetzgeber waren. Laut der Philologin Marie Therese Fögen bezeichnet Nomos, das Gesetz, andrerseits auch den Gründungsgesang einer Kultur. Die ersten Gesetze hatten die Form eines Liedes, weil man so Dinge ausdrücken konnte, die auf der Agora des Tyrannen nicht aussprechbar waren.
Kultur und Gesetz wurden auch später gemeinsam transportiert: Die Gebrüder Grimm, grosse Philologen und Literaten, waren Juristen. Mit ihrer berühmten Märchensammlung wollten sie den grossen Schatz des "guten alten Rechts" bewahren, das heisst die Gewohnheiten, Traditionen und lokalen Gebräuche des deutschen Volkes in seiner Gesamtheit. So gesehen wurde uns das Gesetz schon schon als Kinder beim abendlichen Vorlesen eingetrichtert.
Ein endloser innerer Monolog
Weniger pädagogisch ging es abends im überfüllten Literaturhaus zu, wo sich gestandene Mitglieder gegenseitig von den besten Stühlen drängten mit dem Hinweis auf die Langjährigkeit ihrer Zugehörigkeit. Claudio Magris war hier zweifellos der Star, der auch bei langfädigsten Ausführungen zu seinem Buch nicht unterbrochen werden durfte. Das Buch ‚Blindlings’ scheint wie ein endloser innerer Monolog einer polyvalenten Persönlichkeit, die in verschiedenen Manifestationen und Jahrhunderten zwischen Australien, Island, Italien und Dachau lebt, uns die bekannten Schrecken der Geschichte wieder vor Augen führt, und überlebt.
Magris möchte diese Persönlichkeit aber auch ganz persönlich verstanden wissen: "Bei jedem von uns kommen doch Gedanken, Wünsche, Begierden hoch, die dunkel und erschreckend sind, und die wir uns scheuen als eine unserer Facetten bewusst zu integrieren." Würden wir diese Aspekte in uns ernst nehmen und analysieren, kämen wir wahrscheinlich auf ein tieferes, weil nicht distanziertes, Verständnis der Schrecken der Menschheit.
Mahnen ohne zu moralisieren
Magris, der Dichter, Denker und Mahner ist in Italien eine öffentliche Figur und schreibt, wie der Onkologe Umberto Veronesi, fast täglich in der grössten Tageszeitung, im Corriere della Sera, seine Ansichten und Gedanken zu zeitgenössischen gesellschaftspolitischen Themen wie momentan der Zuwanderung von Flüchtlingen aus dem Magreb.
Sieht er sich denn selbst als ethische Instanz ?
Magris wehrt temperamentvoll ab und schwenkt abwehrend die Arme: "Alles, was mit dem moralischen Zeigefinger daherkommt, ist mir zutiefst zuwieder."
Warum ich schreibe?
"Weil ich muss, als Schriftsteller, der die Welt beobachtet und analysiert, und als denkender Mensch. Zu gewissen Dingen muss man sich einfach äussern. Doch, wissen Sie, es wäre mir soviel lieber wenn dies ein anderer an meiner Statt täte."