Es ist ein Dauerbrenner schweizerischer Skandalgeschichte: Die Tochter des schwerreichen Industriellen und Politikers Escher (1819–1882), Lydia Escher, verliebt sich in den Freund ihres Ehemanns, des Bundesratssohns Friedrich Emil Welti. Dieser Freund ist Karl Stauffer, erfolgreicher Maler und visionärer Plastiker mit hochfliegenden Plänen. In Italien brechen die beiden durch. Schwiegervater Bundesrat Emil Welti lässt Lydia mit Hilfe von Staatsapparat und Diplomatie ins Irrenhaus und ihren Geliebten ins Gefängnis werfen.
Der Eklat ist perfekt, die Scheidung unausweichlich. Beide nehmen sich 1891 das Leben, Stauffer in Florenz, Lydia, 33jährig, bei Genf. Ein Jahr vor ihrem Tod errichtet sie, die kinderlos geblieben ist, unter Assistenz ihres Ex-Mannes eine Stiftung mit einem Kapital, das nach heutigem Wert rund 60 Millionen Franken betragen würde. Die Stiftung wird, um sie nicht für immer mit der Skandalgeschichte zu belasten, nach Gottfried Keller benannt, der, ein Freund des Hauses Escher, kurz zuvor gestorben ist.
Das Chorgestühl von St. Urban
Erster Zweck der Stiftung: Kunstankäufe für die Eidgenossenschaft, vor allem Kunst, die ins reiche Ausland abzuwandern drohte oder bereits abgewandert war. Ein prominentes und typisches Beispiel für die frühe Stiftungstätigkeit ist der Erwerb des 1701 entstandenen Chorgestühls der aufgehobenen Zisterzienserabtei St. Urban. Der Kanton Luzern verkaufte es 1853 mit anderen Kunstwerken, um die ihm nach dem Sonderbundskrieg von den Siegerkantonen auferlegten Reparationszahlungen leisten zu können.
Das prunkvollste barocke Schnitzwerk der Schweiz gelangte vorerst in irischen Besitz und dann nach Schottland. 1911 erwarb es die Gottfried Keller-Stiftung. Der Besitzer Lord Kinnoul machte ein günstiges Angebot (20’000 Pfund) unter der Bedingung, dass das Chorgestühl an seinen ursprünglichen Standort gelangte. Heute besitzt die Stiftung rund 6000 Kunstwerke, die sich meist als Dauerleihgaben in Schweizerischen Museen befinden. Ein grosser Teil davon sind Erwerbungen als Schutz vor Abwanderung ins Ausland.
Glanzlichter, aber Misswirtschaft
Die Gottfried-Keller-Stiftung konnte über alle die Jahre immer wieder bedeutende Ankäufe tätigen und wertvolles Kulturgut für die Schweiz sichern. Das ist die eine Seite. Die andere: Nicht alle Erwerbungen haben vor dem kritischen Urteil späterer Generationen Bestand. Dieses Problem aber teilt die Stiftung mit anderen Institutionen, die Kunstwerke ankaufen. Das gehört sozusagen zum Geschäft, so dass manch heute gering geschätztes Kunstgut in irgendwelchen Depots schlummert.
Dass die Geschichte der Stiftung nicht immer unter einem guten Stern stand, zeigt sich vor allem in den Finanzen. Um sie stand es infolge von Misswirtschaft und mangelndem Zukunftsdenken bald einmal schlecht. Da sich schon in den ersten Jahrzehnten niemand um die Erhaltung der Kaufkraft des Vermögens kümmerte, sank es auf heute rund 6 Millionen Franken. Erträge gibt es beim heutigen Zinsniveau keine.
Vor ein paar Jahren nahm der Bund eine Flurbereinigung vor. Im Unterhalt kostspielige Liegenschaften – das Kloster St. Georgen in Stein am Rhein samt seinem Museum – gingen ganz an den Bund. Das Sekretariat der Stiftung wurde aufgelöst und die Verwaltung der Sammlung mit der Kunstsammlung des Bundes koordiniert. Über die Geschicke der Stiftung entscheidet eine Kommission, die von Franz Zelger, emeritierter Kunstgeschichte-Professor der Universität Zürich, präsidiert wird.
Die Eidgenossenschaft subventioniert die Stiftung lediglich mit 400’000 Franken im Jahr. Für Erwerbungen aus der Top-Klasse der Kunst reicht das nirgendwo hin. Schon der Erwerb eines Werkes des Westschweizers Jacques Sablet (1749–1803) im Jahr 2016 überstieg das Jahresbudget. Nach Aussage von Andreas Münch, Leiter der Kunstsammlung des Bundes und damit auch jener der Gottfried Keller-Stiftung, sind aber trotzdem bedeutende Ankäufe möglich, zumal oft nach Partnern gesucht wird. Die Museen können mit für sie wichtigen Ankaufswünschen an die Stiftung gelangen. Versicherung und Unterhalt (Restaurierungen) der Objekte gehen stets zu Lasten der Standort-Museen.
Zwei Ausstellungen
Die Gottfried Keller-Stiftung mit ihren über die ganze Schweiz verstreuten Beständen findet in der Öffentlichkeit kaum Resonanz. Darum vereinigt sie temporär zahlreiche ihrer wichtigsten Schätze in zwei Ausstellungen im Landesmuseum Zürich und im Tessiner kantonalen Kunstmuseum MASI Lugano.
In der Zürcher Präsentation sehen sich die Besucherinnen und Besucher gleich zu Beginn Stauffers 1886 entstandenem Bildnis seiner 28-jährigen Freundin Lydia Welti-Escher gegenüber, ebenso Stauffers Gottfried-Keller-Porträt. Daneben sind vor allem Skulpturen, Goldschmiedearbeiten und Kabinettscheiben zu sehen – darunter bedeutende Glasmalereien von 1519 aus dem Augustinerkloster in Zürich, die dem Dichter Johann Martin Usteri gehörten. Nach dessen Tod (1827) wurden sie ins Ausland verkauft und 1894 von der Gottfried Keller-Stiftung wieder zurückgekauft. Sie befinden sich heute im Landesmuseum Zürich.
Prunkstücke der Zürcher Präsentation sind ein Büstenreliquiar aus dem 12. Jahrhundert aus der Abtei Saint-Maurice im Wallis, heute im Musée d’histoire in Sion, und das um 1302 entstandene Graduale aus dem Dominikanerinnenkloster St. Katharinental bei Diessenhofen, das die Stiftung 1958 auf einer Auktion bei Sotheby in London gemeinsam mit dem Landesmuseum und dem Kanton Thurgau für 368’000 Franken ersteigern konnte. Es handelt sich um eines der bedeutendsten Schweizer Kunstwerke aus dieser Zeit. Die reich illuminierte Handschrift gelangte um 1830 nach Konstanz, dann zu einem englischen Sammler und nach dessen Tod 1954 an die erwähnte Auktion.
In Zürich sind auch Daguerreotypien von Jean-Gabriel Eynard-Lullin und Fotos von Marcel Bolomey (1905–2003) zu sehen. Bolomey, bisher in der Schweiz weitgehend unbekannt, stammte aus der Westschweiz. Er übersiedelte 1950 nach New York und wurde vor allem in den USA bekannt, wo er als offizieller Uno-Fotograf und als Dozent in Malibu tätig war.
Meisterwerke in Lugano
In Lugano zeigt die Gottfried Keller-Stiftung ab Mitte März Gemälde. Die Ausstellung kann (aus der Publikation zu beiden Präsentationen zu schliessen) zu einer eigentlichen Parade von Meisterwerken der Schweizer Kunst werden. Da ist nicht nur Segantinis Triptychon „Werden – Sein – Vergehen“ aus St. Moritz verzeichnet; da finden sich auch Werke vieler bedeutender Schweizer Künstler. Prominente Namen sind etwa Giovanni Serodine, Jean-Etienne Liotard, Caspar Wolf, Johann Heinrich Füssli, Alexander Calame, Albert Anker, Robert Zünd, Anton Böcklin, Charles Gleyre, Filippo Franzoni, Ferdinand Hodler, Albert Welti, Félix Vallotton, Giovanni Giacometti, Otto Meyer-Amden, Cuno Amiet, Albert Müller, Adolf Dietrich.
Landesmuseum Zürich: Glanzlichter der Gottfried Keller-Stiftung, bis 22. April
MASI Lugano (Museo d‘Arte della Svizzera Italiana): Hodler - Segantini – Giacometti. Capolavori della Fondazione Gottfried Keller, 14. März bis 28. Juli 2019