An Büchern und prominenten Autoren, die argumentieren und statistisch beweisen, dass die Menschheit trotz den täglichen Katastrophenmeldungen in den Medien insgesamt immer besser lebt, fehlt es nicht. Einer dieser Autoren ist der Harvard-Professor Steven Pinker mit seinem neuen Buch «Aufklärung jetzt! Für Vernunft, Wissenschaft, Humanismus und Fortschritt». Pinkers Hauptthese: Seit dem Beginn des Aufklärungszeitalters vor rund 250 Jahren wird die Welt auf fast allen Gebieten durch atemraubende Fortschritte verbessert. Aber «keiner von uns ist so glücklich, wie er sein sollte, angesichts der staunenswerten Veränderungen unserer Welt».
Die Medien und «Prophets of doom»
Die statistischen Daten sind kaum zu widerlegen und die meisten Menschen sehen das auch so: Zumindest in unseren Breitengraden leben wir besser und luxuriöser versorgt als unsere Grosseltern. Die durchschnittliche Lebenserwartung ist in zwei Generationen um 14 Jahre gestiegen. Unsere Gewässer sind sauberer als in den 1960er Jahren, als das Baden in einzelnen Seen verboten wurde. Die Ferien sind in Europa länger geworden, die Kindersterblichkeit nimmt ab. Die Zahl der Hungernden in der Welt ist immer noch viel zu hoch, doch laut Angaben der FAO (Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Uno) seit 1990 von über einer Milliarde deutlich unter 800 Millionen zurückgegangen.
Pinker stellt solchen Fortschrittstrends statistische Stimmungsbilder in 14 relativ wohlhabenden Ländern (etwa in Australien, Dänemark, Finnland, Schweden, Deutschland, USA, Singapur) gegenüber. Sie sollen belegen, dass in diesen Ländern eine Mehrheit glaubt, die Welt werde eher schlechter als besser. Für solche pessimistischen oder zumindest skeptischen Zeitgenossen hat der optimistische Aufklärungs- und Fortschrittsverkünder Pinker wenig Verständnis. Er schiebt die Verantwortung für düstere Stimmungen unter anderem den Medien zu, die nur an aufregenden Katastrophen- und Konfliktschilderungen interessiert seien. Aber auch angebliche «Prophets of doom» wie Friedrich Nietzsche oder Adorno und Horkheimer, die das Aufklärungsideal kritisch hinterfragt hatten, seien mitschuldig am mangelnden Zukunftsoptimismus.
Neben prominentem Lob in angelsächsischen Medien erntet Pinker für sein fulminantes Hohelied des Fortschritts auch substanzielle Kritik. Der Rezensent der «New York Times» nennt «Enlightenment Now!» ein «tief ärgerliches Buch», weil der Autor mit seinem «munteren Triumphalismus» wenig Verständnis dafür zeige, dass statistische globale Fortschritte das Leid lokalen Elends und individueller Tragödien keineswegs beseitigten.
Es ist beides
Tiefer und differenzierter urteilt der im vergangenen Jahr verstorbene schwedische Professor für internationale Gesundheit und Afrika-Kenner Hans Rosling über den Zustand der Welt. In seinem jüngst erschienen Buch «Factfulness: Ten Reasons We’re Wrong About the World – and Why Things Are Better Than You Think» dokumentiert der Autor zwar auch, dass die Welt in vieler Hinsicht besser geworden sei. Aber er hütet sich, eine messianische Fortschrittseuphorie zu predigen oder gar den Menschen pauschal vorzuhalten, sie seien angesichts der erreichten Verbesserungen nicht glücklich genug. In Roslings Buch liest man:
«Wenn wir sagen, ‘die Dinge werden besser’ – soll das heissen, dass alles prima ist und dass wir uns alle entspannen und nicht weiter Sorgen machen sollten? Nein, überhaupt nicht. Ist es hilfreich, wenn wir nur zwischen schlecht und besser unterscheiden? Definitiv nicht. Es ist beides. Besser und schlecht gleichzeitig … So müssen wir über den jetzigen Zustand der Welt urteilen.»
Jeder vergleicht sich mit jedem
Einen andern, psychologischen Erklärungsansatz für die Diskrepanz zwischen materiellen und sozialen Fortschritten und der verbreiteten Unzufriedenheit gerade in vergleichsweise wohlhabenden Gesellschaften hat der Philosoph Peter Sloterdijk vor einigen Monaten in einem NZZ-Gespräch formuliert. Je grösser der relative Wohlstand aller sei, «desto schlechter fühlt sich der Einzelne, solange er nicht ganz oben ist», sagt er. Sloterdijk fährt fort: «In einer scheinbar befriedeten Gesellschaft vergleicht sich jeder mit jedem ganz ungeschützt, ohne sich der selbstschädigenden Konsequenzen des Vergleichens bewusst zu sein.»
Messbare materielle Verbesserungen der allgemeinen Lebensbedingungen und gesellschaftliche Gefühlslagen sind zwar nicht das Gleiche. Aber die beiden Ebenen sind doch eng miteinander verknüpft. Und es lohnt sich, darüber nachzudenken, weshalb der Fortschritt im materiellen Bereich sich nicht unbedingt in mehr kollektiver Zufriedenheit und Zukunftsoptimismus niederschlägt.