Le Petit Prince von Antoine de Saint-Exupéry erschien bereits 1979 zum ersten Mal in China. Es folgten im Laufe der Jahre über fünfzig weitere Übersetzungen ins Chinesische. Kein Wunder, Saint-Exupérys 1943 erstmals mit Zeichnungen des Autors erschienenes Werk war und ist ein Welterfolg, übersetzt in über 150 Sprachen. Mittlerweile war der Kleine Prinz Vorlage für Theaterstücke, Opern, Ballet, Musik, Marionettentheater, Kalender, Fernsehsoaps und vieles mehr.
Und jetzt seit Mitte Oktober erobert der Kleine Prinz auch die Kinosäle des Reichs der Mitte. Nicht von ungefähr. China ist unterdessen nämlich auch zur Kino-Grossmacht gewachsen und hat im Februar erstmals mit 650 Millionen Dollar Einnahmen die USA (640 Mio. $) überholt. Bis 2018, so die Prognosen, soll China Amerika als grössten Film- und Kinomarkt endgültig überholt haben.
Kreide für den Profit
Die Renner im Rekord-Monat waren zur Verwunderung der Branchenbeobachter für einmal nicht Hollywood-Schinken sondern einheimisches Schaffen. Seit einiger Zeit schon blickt Hollywood deshalb Richtung China und hat bereits Co-Produktionen laufen. Da pro Jahr nur 34 ausländische Filme gezeigt werden dürfen, ist das ein Muss. Die 34er-Grenze nämlich kann mit Gemeinschafts-Produktionen mit starkem inhaltlichem Bezug zu China geknackt werden. Die chinesische Zensur ist für ausländische Mit-Produzenten kein Problem. Im Notfall frisst – dem Milliarden-Geschäft und dem Profit zuliebe – Hollywood auch Kreide.
Der französische 3D-Computer-Animationsfilm Le Petit Prince von Mark Osborne (Kund Fu Panda) – Weltpremiere am diesjährigen Filmfestival von Cannes – hat bereits lobende Kritiken erhalten. Der Kleine Prinz sei eine berührende Geschichte mit universellen Werten. Ein solches Lob ist in China selten, zumal es eine westliche Vorlage ist und „universelle Werte“ in China nicht hoch im Kurs stehen.
Aufhebung der Einsamkeit
Wie schon der Bucherfolg des französischen Prinzchens gezeigt hat, kommt die Botschaft im modernen China gut an, nämlich Liebe, Herz und Aufrichtigkeit: „Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“ Als Kind wurde mir vom Au-pair-Mädchen Micheline aus der Romandie Le Petit Prince von Anfang bis Ende vorgelesen. Ich war begeistert, gerührt, vergoss Tränen. Die Aufhebung der Einsamkeit in der Freundschaft war eine der Lektionen fürs Leben. In besonders guter Erinnerung aber ist mir als Knirps die wahrlich geniale Erkenntnis des Petit Prince haften geblieben: „Kinder müssen mit grossen Leuten viel Nachsicht haben.“
Ob chinesische Kinder diese Botschaft wohl verstehen? Die Erwachsenen jedenfalls werden diesen Satz entweder nicht kapieren oder rundweg von sich weisen. Mit der seit 1980 geltenden Ein-Kind-Familienpolitik nämlich sind die Einzelkinder zu „kleinen Prinzen“ und „kleinen Prinzessinnen“ geworden. Ihnen wird auf subtile Weise eingeträufelt, sie müssten die Träume ihrer Eltern und Grosseltern erfüllen.
„Xiao Wangzi“
Vom Kindergarten bis zur Universität stehen die „kleinen Genies“ unter grossem Druck. Leistung, Leistung und nochmals Leistung fordern ein Vater, eine Mutter, zwei Grossmütter und zwei Grossväter. Wenn in kurzem die Ein- zur Zwei-Kind-Politik gelockert werden wird, könnte der Druck sich etwas vermindern. Doch für die jetzige Generation ist das ein schwacher Trost. Zu hoffen bleibt, dass viele chinesische Kinder jetzt den Film „Xiao Wangzi“ (Le Petit Prince) sich ansehen dürfen, vielleicht am besten mit Papa, Mama, zwei Omas und zwei Opas.
Doch es gibt in der Volksrepublik China noch andere kleine Prinzen. Diese jedoch sind bei der breiten Bevölkerung nicht besonders beliebt. Die Princelings, die Prinzchen also, sind nämlich Kinder und Grosskinder alter Revolutionäre, insbesondere der „Acht Unsterblichen“ – darunter der grosse Revolutionär und Reformer Deng Xiaoping – und der Kampfgenossen des „Grossen Steuermanns und Vorsitzenden“ Mao Dsedong.
„Taizi“
In Politik und Wirtschaft haben diese auch als „Kron-Prinzen und Prinzessinnen“ (Taizi) Bezeichneten dank besten Beziehungen oder gar korrupten Machenschaften grosse Vorteile. Viele studierten und studieren komfortabel im Ausland, am liebsten an einer Elite-Uni in den USA – so bereits die Kinder von Deng Xiaoping oder, um ein anderes Beispiel zu nehmen, die Tochter des jetzigen Staats- und Parteichefs Xi Jinping.
Auch das ehemalige Politbüromitglied Bo Xilai, einst mächtiger Parteichef der 30-Millionen-Metropolis Chongjing, war als Princeling gut vernetzt, fiel dann aber tief und sitzt heute wegen Korruption und Machtmissbrauch lebenslänglich im Gefängnis. Sein Vater war der „Unsterbliche“ Bo Yibo. Im mächtigsten, entscheidenden Organ Chinas, dem Ständigen Ausschuss des Politbüros, sind vier der sieben Mitglieder Princelings, darunter Staats-, Partei- und Militärchef Xi Jinping. Ebenfalls ein „Kronprinz“ ist der Gouverneur der Volksbank – der Notenbank – Zhou Xiaochuan.
Pringelings an den Schalthebeln
Eine neue Eliteklasse also ist entstanden. Der Einfluss freilich der „Kronprinzen“ in Politik und Wirtschaft, glaubt man chinesischen Beobachtern, hat sich in den letzten Jahren vermindert. Die harte, kompromisslose Anti-Korruptionspolitik von Parteichef Xi Jinping hat dazu wesentlich beigetragen. Denn nicht nur auf nationaler, sondern auch auf Provinz- und Lokalebene haben sich Eliten gebildet, die auf jahrzehntelangen engen Seilschaften fussen. Oder anders ausgedrückt: In China gilt trotz vieler guter Gesetze noch immer „The Rule of Man“ und (noch) nicht „The Rule of Law“.
Allerdings hat einer der acht Unsterblichen die Princelings verteidigt. Chen Yun, von der Gründung der Volksrepublik 1949 bis in die ersten Reformjahre in den 1980er-Jahren die graue Wirtschaftseminenz, gab den führenden Genossen einen Ratschlag mit auf den Weg: „Das Land unter dem Himmel sollte eines Tages den Princelings übergeben werden. Den Princelings können wir vertrauen, dass sie nicht das Grab für die Partei schaufeln werden“.