In Afghanistan werden zurzeit die Stimmen ausgezählt, die in der Stichwahl für die Präsidentschaft abgegeben wurden. Ein vorläufiges Resultat dieser Auszählung ist auf den 2. Juli versprochen, jedoch das endgültige Resultat soll erst am 5. August vorliegen. In der Zwischenzeit will die Wahlkomission über die vorliegenden 568 Betrugsklagen entscheiden. Die Stichwahl hatte am 14. Juni stattgefunden. Der erste Wahlgang war am 5. April über die Bühne gegangen. Der frühere Aussenminister und bittere Kritiker Karzais, Abdullah Abdullah, hatte im ersten Wahlgang 45 Prozent der Stimmen gewonnen. Als zweiter war Ashraf Ghani mit 31,6 Prozent aus dem ersten Wahlgang hervorgegangen.
Allzu hohe Wahlbeteiligung?
Die gegenwärtige Auszählung soll nach den inoffiziellen Informationen der Wahlbeobachter bisher ergeben haben, dass Ashraf Ghani mit ungefähr einer Million Stimmen im Vorsprung liege. Abdullah Abdullah ist jedoch nun öffentlich aufgetreten und hat gewarnt, er und seine Anhänger würden dieses Resultat nicht akzeptieren. Er erklärte, er habe seine Wahlbeobachter provisorisch aus den Büros der Wahlkommission abgezogen. Er fordert den Rücktritt des Chefs der Unabhängigen Wahlkommission, der Zia ul-Haq Amirkhail heisst; seinem Namen nach ist er Paschtune.
Abdullah wirft diesem vor, eine grosse Masse von Stimmzetteln entwendet und zum Stopfen von Wahlurnen in den pashtunischen Landesteilen verwendet zu haben. Er beruft sich auf die ungewöhnlich hohe Zahl der angeblichen Stimmbeteiligung. Sie wurde von der Wahlkommission mit 7 Millionen beziffert. Im ersten Wahlgang waren es 5 Millionen gewesen. Alle Wahlberechtigten des Landes werden auf 12 Millionen Personen eingeschätzt.
Welches Volk wird regieren?
Bei all dem spielen die Fragen der ethnischen Zugehörigkeit eine entscheidende Rolle. Afghanistan ist ein Vielvölkerstaat. Das grösste der afghanischen Völker ist das der Paschtunen. Sie haben bisher das Land so gut wie immer regiert. Doch die Paschtunen machen keine absolute Mehrheit aus. Zusammengenommen bilden die anderen Völker, Tadschiken, Turkmenen verschiedener Art, Hazara und weitere, eine Mehrheit. Abdullah Abdullah spricht in erster Linie für die Nicht-Paschtunen. Er selbst ist halb Paschtune und halb Tadschike, doch er gehört führend zur tadschikischen Partei, die auf den ermordeten Nationalhelden Afghanistans, Ahmed Schah Masud und seine Mitkämpfer zurückgeht.
Sein Gegner, Ashraf Ghani, ist Vollpaschtune und gehört zu dem wichtigsten Stamm des paschtunischen Volkes, der traditionell die Regierung ausgeübt hat.
Mogelstimmen in Paschtunistan?
Abdullah Abdullah weist darauf hin, dass die Zahl der angeblichen Wähler in der zweiten Runde in den paschtunischen Provinzen im zweiten Wahlgang in verdächtiger Weise zugenommen hat. Seine Freunde zitieren die Provinzen Khost und Paktia als Beispiele. In diesen beiden Provinzen gibt es nach der offiziellen Statistik 549’000 und 414’000 Bewohner. Mindestens ein Drittel dieser Zahlen sind Kinder. Im ersten Wahlgang hatten in Khost 113’000 Personen gestimmt, in Paktia 180’000. Doch in der Stichwahl sollen dies 400’000 Stimmen in Khost und 340’000 in Paktia gewesen sein.
Wenn man ein Drittel für die Kinder abzieht, gibt es in Khost 366’000 Stimmberechtigte, doch 400’000 sollen gestimmt haben. Für Paktia ähnlich: 340’000 sollen gestimmt haben, doch die Stimmberechtigten können nicht mehr als 276’000 gewesen sein.
Die Anhänger Ashraf Ghanis, in erster Linie Paschtunen, erklären, die hohen Zahlen in den paschtunischen Provinzen gingen auf erfolgreiche Mobilisierung zurück. Man kann ihnen zugestehen, dass es wahrscheinlich ist und zu erwarten war, dass sich alle Paschtunen in der Stichwahl zusammenfinden und für den paschtunischen Kandidaten stimmen würden, also für Ashraf Ghani, während sie im ersten Wahlgang ihre Stimmen unter mehrere Kandidaten aufteilten. Dennoch, die angegebenen Zahlen sind zu hoch. Falls an ihnen festgehalten wird, sind die Beschwerden Abdullah Abdullahs berechtigt.
Einschaltung internationaler Neutraler?
Es gibt auch internationale Wahlbeobachter. Sie erklären, Unregelmässigkeiten seien vorgekommen, doch sie seien nicht «systematisch». Abdullah Abdullah ist der Ansicht, der nun zurückgetretene Präsident Karzai habe sich nicht, wie versprochen, neutral verhalten. Karzai ist ebenfalls Paschtune. Abdullah Abdullah war in der Stichwahl von 2009 gegen ihn angetreten. Er hatte sich dann aber wegen Wahlfälschungen aus der Wahl zurückgezogen. Dass in der Wahl von 2009 massive Fälschungen vorgekommen waren, gilt heute als sicher.
Abdullah Abdullah hat angeregt, dass eine weitere Kommission, vielleicht von der Uno ernannt, die Auszählung kontrollieren solle. Er fordert jedenfalls die sofortige Einstellung der Zählung und den Rücktritt des Vorsitzenden der Wahlkommission. Ohne dies, sagt er, würden seine Vertreter nicht in die Wahlbüros zurückkehren und er werde das Resultat der Wahl nicht akzeptieren.
Opfer oder schlechter Verlierer?
Im Augenblick sieht es nicht so aus, als ob Abdullah mit seinen Forderungen durchdringen könne. Er steht vor einer Mauer paschtunischer Solidarität, und die Paschtunen sind an der Regierung. Ein «Staatsvolk» im Nahen Osten pflegt mit grosser Zähigkeit an seiner privilegierten Position festzuhalten. Man kann an die gegenwärtige Lage im Irak denken. Dort waren die Sunniten das Staatsvolk. Die amerikanische Invasion bewirkte, dass die Schiiten sie als Staatsvolk ablösten. Doch die Sunniten haben dies, wie der nun neu beginnende Bürgerkrieg zeigt, nicht hingenommen.
Die internationale Gemeinschaft hat es eilig, den ohnehin schon sehr lange hinausgezogenen Wahlvorgang zu Ende zu bringen. Erst wenn er abgeschlossen ist, kann endgültig darüber entschieden werden, ob amerikanische Helfer und Ausbilder in Afghanistan verbleiben oder nicht. Karzai hat sich bekanntlich geweigert, einen dies betreffenden Vertrag mit den Amerikanern zu unterschreiben.
Doch die internationale Gemeinschaft hatte auch gehofft, dass «saubere» Präsidentschaftswahlen die Lage in Afghanistan klären würden. Nun sieht es so aus, als ob sich im Gegenteil das Land spalten könnte in Paschtunen einerseits und die übrigen Völker andererseits.
Streit zum Vorteil der Taliban
Die Taliban sind praktisch alle ebenfalls Paschtunen. Die Gefahr ist gross, dass eine derartige Spaltung ihnen Gewinn bringt. Viele Paschtunen werden mit ihnen gemeinsame Sache machen, wenn sie befürchten, dass die anderen Völker ihnen die Herrschaftsprivilegien entreissen könnten.
Es droht ein Szenario ähnlich wie im Irak: das ehemalige Staatsvolk mit den Islamisten gegen jene, die bisher die Nicht-Staatsvölker waren.
Es gibt allerdings auch einen Unterschied. Im Irak hat das neue schiitische Staatsvolk unter Maliki acht Jahre lang regiert und seine Herrschaft sehr einseitig ausgeübt. Dadurch hat es die Wut der seit 2003 ausgeschlossenen Gemeinschaft – das waren im Irak die Sunniten – gewaltig gesteigert.